Der Wahn der globalen Industrialisierung

Erstveröffentlicht: 
26.03.2011

BZ-GASTBEITRAG: Wolfgang Kessler meint, wenn sich das westliche Industriesystem weiter verbreitet, jagen sich bald Katastrophen.

 

Atomdesaster in Fukushima, Ölhavarie im Golf von Mexiko, davor die Finanzkrise. Eine Katastrophe jagt die nächste. Die Politik und die betroffenen Unternehmen reagieren immer ähnlich: Zunächst versuchen sie, die Probleme zu vertuschen. Dann geben sie vor, sie hätten die Lage im Griff, um dann in einem plötzlichen Aktionismus an den Symptomen herumzukurieren. Einige Monate später läuft alles weiter wie bisher: Die US-Politik verteilt wieder Bohrlizenzen und die Großbanken spekulieren wie eh und je.

Die Ursache der Probleme scheint dagegen tabu: Es ist die rasante weltweite Verbreitung des westlichen Industriesystems. Dass diese Entwicklung als Tabu behandelt wird, hat offensichtliche Gründe: Die Politiker haben diese Entwicklung vorangetrieben und die großen transnationalen Konzerne verdienen an ihr. Ausgangspunkt dieses Industrialismus ist die Wachstumsstrategie der Industrieländer in den 1970er- und 1980er-Jahren. Atomenergie und Kohlekraft lieferten die Energie für eine industrielle Massenproduktion von Kühlschränken über Autos bis hin zu Computern. Die Risiken der Großtechnologien wurden in Kauf genommen.

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Mit der Überwindung des real existierenden Sozialismus 1989 wurde dieser Industrialismus global. Beseelt vom Wirtschaftsliberalismus schaffte die Politik weltweit Begrenzungen für den Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital ab. Seitdem können Anleger und Konzerne ihre Waren, ihre Fabriken und ihr Kapital um die Welt jagen. Und sie treffen in den Schwellenländern auf Eliten, die ihre Völker mit Hilfe westlicher Technologie und westlichen Kapitals aus der Armut führen wollen.

Das Zauberwort Globalisierung meint nichts anderes, als dass nahezu die ganze Welt auf den Zug des großindustriellen Turbokapitalismus aufgesprungen ist, den der reiche Norden vorlebt. Chinesen, Inder, Indonesier, Brasilianer, Mexikaner – sie alle wollen so leben, so produzieren, so viel Energie verbrauchen, so viel Auto fahren wie Amerikaner, Europäer und Japaner. Und sie haben so lange ein Recht darauf, wie sich Amerikaner, Europäer und Japaner dieses Recht nehmen.

So entstehen überall Industriekomplexe, Intensivfarmen, werden Kohlekraftwerke und Atomanlagen gebaut und geplant, in Erdbebengebieten, am Meer. Für diesen globalen Industrialisierungswahn werden Ressourcen geplündert, Meere verseucht, Regenwälder abgeholzt und Risikotechnologien eingesetzt – ohne Rücksicht auf Menschen, Tiere, Klima. Vor diesem Hintergrund ist der Begriff Naturkatastrophe unangebracht. Die Natur kennt keine Katastrophen, sondern nur Veränderungsprozesse. "Veränderungen wie ein Tsunami oder ein Erdbeben werden erst im Bezugshorizont menschlicher Zivilisation zur Katastrophe", sagt der Münchner Risikoforscher Ulrich Beck.

In Talkshows kann sich niemand vorstellen, dass es die Welt aushält, wenn alle so wirtschaften wie die Industrieländer. Und alle so leben, wie wir leben. Dennoch treiben Politik und Wirtschaft den globalen Industrialismus voran. In der EU und in der Welthandelsorganisation kennen die Verantwortlichen nur ein Ziel: den möglichst freien Welthandel. Ist der Welthandel jedoch frei, dann wird das Industriesystem zwangsläufig in alle Ecken der Erde exportiert. Auch Katastrophen konnten diesen Trend nicht stoppen. Dies könnte sich durch Fukushima ändern. Mit der Angst der Menschen wächst der politische Druck. Darin liegt die Chance für ein Umdenken. Das gilt zunächst für den Ausstieg aus der unbeherrschbaren Atomkraft. Das gilt aber auch für die gesamte industrielle Entwicklung. Bei knappen Ressourcen und wachsenden Risiken sind nur Volkswirtschaften zukunftsfähig, die anders wirtschaften: ressourcenleicht statt energieintensiv, flexibel an Mensch und Natur angepasst, dezentral und regional statt großindustriell und global.

Und es braucht ein neues Konzept von Globalisierung. Der weltweite Austausch von Produkten, die anderswo knapp sind, ist nützlich. Wird jedoch der globale Industrialismus zum Maß aller Dinge, müssen sich alle Länder den Spielregeln und Risiken dieses Industriesystems unterwerfen. Eine eigenständige Entwicklung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen, an den Gegebenheiten vor Ort orientiert, ist nicht mehr möglich. Für eine nachhaltige Entwicklung weltweit ist deshalb weniger Globalisierung mehr. Noch ist diese Neuorientierung der (Welt-) Wirtschaft ein Tabu. Doch Fukushima bietet die Chance, mit dem Nachdenken zu beginnen. Sonst gilt: Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe.

– Wolfgang Kessler ist Wirtschaftspublizist und Chefredakteur der christlichen Zeitschrift Publik-Forum