Der Gegenverschwörer

Erstveröffentlicht: 
04.12.2010

Nur ein planloser Störenfried? Das öffentliche Bild von Wikileaks-Gründer Julian Assange bleibt erstaunlich unscharf. Doch die Ratlosigkeit über Motive und Ziele Assanges ist unerklärlich: Wer seine Texte liest, findet ein geschlossenes Weltbild.

 

"Hier ist nun die Wahrheit, die sie frei machen wird. (...) Und angesichts dieses Gefühls Segensworte zu sprechen für die Profite und Propheten der Wahrheit, für die Befreier und Märtyrer der Wahrheit, für die Voltaires, Galileos und Principias der Wahrheit, für die Gutenbergs, Marconis und Internets der Wahrheit, für die Serienmörder der Täuschung, jene brutalen, getriebenen und besessenen Bergleute der Wirklichkeit, die jedes vermoderte Gebäude zerschmettern, zerschmettern, zerschmettern, bis alles in Ruinen liegt, für die Saat des Neuen." Julian Assange, letzter Eintrag in seinem Blog iq.org, 29. August 2007

 

Man hat sich in der Epoche der leidenschaftslosen Pragmatiker der Macht daran gewöhnt, dass man sich nicht mehr mit Theorien auseinandersetzen muss, um das Handeln der politischen Akteure zu begreifen. Die islamistischen Gotteskrieger sind vielleicht noch eine Ausnahme, ansonsten aber erscheinen theoretische Grundlegungen, programmatische Schriften zum Verständnis des Geschehens auf der Weltbühne völlig irrelevant. Die Zeit der kleinen roten Bücher scheint unwiderruflich vorbei zu sein.

 

Im Fall von Julian Assange begeht man aber möglicherweise einen großen Irrtum, wenn man ihn verstehen will, ohne sich mit dem auseinanderzusetzen, was er selbst über sein Weltbild geschrieben hat. Das öffentliche Bild Assanges setzt sich fast vollständig aus den positiven wie negativen Zuschreibungen seiner Bewunderer und Gegner zusammen, und bleibt doch erstaunlich unscharf. Die Ratlosigkeit über die Motive und Ziele Assanges ist dabei unerklärlich, denn wer Augen hat, der kann lesen, was dieser Mann eigentlich denkt.

 

Was Assange persönlich denkt, ist schon deshalb nicht irrelevant, weil Wikileaks, wie es der niederländische Internet-Theoretiker Geert Lovink bemerkt hat, eine "typische Single Person Organization" ist. Assange, so beschreibt es Lovink wohl zu Recht, prägt Wikileaks wie ein mittelständischer Unternehmer seinen Betrieb: "Das heißt, dass das Ergreifen von Initativen, das Fällen von Entscheidungen und der Prozess der Ausführung weitgehend in den Händen einer einzigen Person liegen."

 

Die Lektüre der Zeugnisse, die über Julian Assanges Weltbild Aufschluss geben, ist für das Verständnis seines Handelns weit erhellender als seine Interviews mit Massenmedien. Es gibt ein Konvolut von E-Mails, die Assange zwischen 1995 und 2002 auf der Mailingliste "Cypherpunks" geschrieben haben soll, und die der von ihm im Streit geschiedene Wikileaks-Mitgründer John Young auf seiner Seite cryptome.org veröffentlicht hat. Es gibt das Buch "Underground", ein Werk der Autorin Suelette Dreyfus, an dem Assange 1997 mitgearbeitet hat, und das unter anderem auch seine eigenen Erfahrungen als jugendlicher Hacker mit dem Pseudonym Mendax beschreibt. Es gibt seinen Blog "Interesting Question" unter der Adresse iq.org, den er von 2006 bis 2007, also zur Zeit der Wikileaks-Gründung, unterhielt und der inzwischen abgeschaltet, aber über das Internet Archive noch auffindbar ist. Und es gibt schließlich "Conspiracy as Governance", eine Schrift, die der New Yorker in seinem großen aufschlussreichen Assange-Porträt zu Recht "eine Art Manifest" genannt hat, deren Rezeption bislang aber doch bemerkenswert dürftig geblieben ist.

 

Krypto-Anarchismus ist eine Wortschöpfung, die nicht analog zum Krypto-Faschismus zu verstehen ist, sondern von der Kryptographie, der Verschlüsselung von Daten, abgeleitet ist. Diese Philosophie, die in der Hackerszene der achtziger Jahre ihren Ursprung hat, läuft auf ein "anarcho-kapitalistisches Marktsystem" hinaus. So erklärt es der Informatiker Timothy C. May. May ist der Verfasser des "Krypto-anarchistischen Manifests" und der programmatischen Schrift "Cyphernomicon". Er ließ sich von radikal-libertären Denkern wie Ayn Rand und Milton Friedman inspirieren. Zudem begründete er die krypto-anarchistische Mailingliste Cypherpunks. Der Krypto-Anarchismus postuliert, dass eine Asymmetrie zwischen dem Staat, der einen möglichst großen Teil der Kommunikation seiner Bürger zu überwachen versucht, und eben diesen Bürgern besteht, gegenüber denen der Staat vieles geheim halte. Die technische Revolution des Cyberspace könne diese Verhältnisse nun umkehren. Alle privaten Informationen könnten und sollten mit kryptographischen Mitteln geheim gehalten werden. Der Staat wäre zur Unterdrückung des Einzelnen dann nicht mehr in der Lage. Und müsste sich in eine "Enklave der Dinge-die-er-kontrollieren-kann" zurückziehen, wie es May bei den Cypherpunks formuliert hat. Der umgekehrte Ansatz, um das gleiche Ziel zu erreichen, wäre die radikale Veröffentlichung des Herrschaftswissens.

 

"Von allen Tyranneien ist eine Tyrannei, die aufrichtig das Beste für ihre Opfer will, vielleicht die repressivste." Mit diesem C.S.-Lewis-Zitat in seiner Mail-Signatur schließen die Mails, die Assange bei den Cypherpunks hinterlassen hat. Anfang der neunziger Jahre war er als Zwanzigjähriger wegen seiner Hackertätigkeit von einem australischen Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt worden - nach einer Zeit der Ermittlungen und Prozesstermine, die von ihm, wie auch in "Underground" beschrieben, als traumatisierend empfunden wurde.

 

Nun ist Assange in den letzten Monaten häufiger als Anarchist bezeichnet worden. Das war vor allem als Schmähung gemeint. Doch wer genau hinsieht, erkennt, dass daran mehr ist. Was Assange tut, ist nicht von dem zerstörerischen Nihilismus getrieben, den ihm manche unterstellen. Es ist auch kein Egotrip und nicht einmal ein von antiamerikanischen Gefühlen getriebener Rachefeldzug. Es geht ihm aber eben auch nicht in erster Linie um die Aufklärung von Skandalen, um Checks and Balances. Er beabsichtigt nicht, Korrektiv des bestehenden Systems zu sein. Und auch radikale Informationsfreiheit ist für Assange kein Selbstzweck. Sie erfüllt eine Funktion.

 

Wenn denn überhaupt ein Schlagwort zutrifft, dann vielleicht dieses: Was Assange durch Wikileaks ins Werk gesetzt hat, dürfte der wohl wirkungsvollste Akt der "Propaganda der Tat" seit nahezu hundert Jahren sein, vielleicht sogar der potentiell folgenreichste überhaupt. Dafür muss man den Begriff aber vielleicht zunächst von seinem historischen Gepäck befreien. Julian Assange träumt nicht davon, Bomben auf die Kaleschen zaristischer Würdenträger zu werfen. "Propaganda der Tat", so wurden im Anarchismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht nur die blutigen Attentate der frühen Terroristen bezeichnet, in jenem Sinn, auf den sich später auch die RAF berief. Gemeint war anfangs einfach die folgenreiche Aktion, die zur Beförderung der Ziele des Anarchismus bessere Dienste leistete als jedes Wort.

 

In diesem Sinn verteidigte auch der Vordenker des Anarchismus, Gustav Landauer, einen friedlichen Inhalt des Begriffs. "Nicht darum handelt es sich, Menschen zu töten", schrieb er 1893, "sondern es handelt sich im Gegenteil um die Wiedergeburt des Menschengeistes, um die Neuerzeugung des Menschenwillens und der produktiven Energie großer Gemeinschaften."

 

Ein anderes Zitat des Anarchisten Landauer wählte Julian Assange als Motto seines Blogs iq.org. Es stammt aus dem 1910 erschienenen Artikel "Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk!": "Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andre Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält. (...) Wir sind der Staat - und sind es so lange, als wir nichts andres sind, als wir die Institutionen nicht geschaffen haben, die eine wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen sind."

Auch Julian Assange wollte nicht nur theoretisieren. Im Januar 2007 schrieb er in seinem Blog: "Wenn wir Grips oder Mut haben, dann ist das ein Segen und wir sind berufen, diese Eigenschaften nicht zu vergeuden, indem wir mit offenem Mund die Ideen anderer begaffen, Weitpinkelwettbewerbe gewinnen, die Effizienz des neokorporativen Staates verbessern, oder uns in Obskuritäten verlieren, sondern stattdessen die Kraft unserer Talente gegen die stärksten Feinde der Liebe unter Beweis stellen, die wir finden können."

 

Im Dezember 2006 wurde das erste Dokument auf Wikileaks veröffentlicht. Wenn man verstehen will, wie sich Wikileaks in Julian Assanges Weltbild einfügt, welche Funktion ihm zugedacht ist, muss man einen Text aus demselben Monat lesen. Er trägt den Titel "Conspiracy as Governance" - Verschwörung als Regierungshandeln. Auf iq.org war er als pdf-Dokument verlinkt. 2010 tauchte an anderer Stelle im Netz derselbe, nur minimal veränderte Text, unter dem Namen "Das Wikileaks-Manifest" auf.

 

In diesem nur wenig mehr als fünf DIN-A4-Seiten langen Text beschreibt Assange zunächst die Funktionsweise von "Verschwörungen". Als solche versteht er alle Formen autoritärer Herrschaft, und wer Assanges weitere Texte liest, hat keinen Zweifel daran, dass er auch den Großteil der westlichen Staaten, vor allem aber die USA, als autoritär ansieht. Die Verschwörung, so Assange, besteht zum einen aus ihren einzelnen Teilnehmern, die wir uns als Nägel vorstellen müssen, die wir wahllos in ein Brett schlagen. Zum anderen sind für die Verschwörung die Kommunikationsflüsse unter diesen Personen essentiell, darstellbar als Fäden, die sich von Nagel zu Nagel spannen lassen. Sie können unterschiedlich dick ausfallen, je nachdem wie wichtig dieser eine Kommunikationskanal und das über ihn transportierte Wissen für die Verschwörung ist. Das Gesamtgewicht des Wissens/der Fäden ergibt die Macht der Verschwörung.

 

Um eine Verschwörung zu zerschlagen, so Assange, gibt es nun zwei Wege. Man kann einzelne Verschwörer töten - oder einfach die Kommunikationsflüsse zwischen ihnen unterbrechen. Assange interessiert sich allein für die zweite Herangehensweise. Je stärker das Gewicht der Verbindungen abnimmt, desto schwächer wird auch die Macht der Verschwörung. Wie, so seine Fragestellung, lässt sich das bewerkstelligen? Entweder werden einzelne Verbindungen gekappt, um die Verschwörer in isolierte Gruppen zu teilen. Das erfordert erheblichen Aufwand. Reizvoller ist es, einfach das Gesamtgewicht aller Fäden, der einzelnen Kommunikationsverbindungen so zu reduzieren, dass das Funktionieren des Gesamtsystems behindert wird.

 

Wer noch Zweifel hat, auf welchem Weg Assange eine solche entscheidende Störung der Kommunikationsflüsse zu erreichen gedenkt, kann in einem Blogeintrag vom Silvester 2006 weiterlesen: "Je geheimniskrämerischer und ungerechter eine Organisation ist, desto mehr lösen Lecks bei ihrer Führung und in ihren Planungszirkeln Angst und Paranoia aus. Das muss zu einer Minimierung der effizienten internen Kommunikationsmechanismen (und einem Anstieg der kognitiven ,Kosten der Geheimhaltung') führen, sowie zu einem daraus folgenden systemumfassenden kognitiven Rückbau, der wiederum dazu führt, dass ihre Fähigkeit, sich an der Macht zu halten abnimmt, da die Außenwelt ihnen Anpassung abverlangt."

 

Am Dienstag hat das amerikanische Außenministerium angekündigt, den Zugang von Pentagon und Armee zu seinen Datenbanken zumindest vorübergehend auszusetzen und in Zukunft strenger zu kontrollieren. Die Fäden der Verschwörung sind ein Stück dünner geworden. Oder in Assanges eigenen Worten: "Leaking ist eine inhärent antiautoritäre Tat. Es ist eine anarchistische Tat."