Und was kommt dann?

Erstveröffentlicht: 
19.11.2010

Ein akademisches Manifest für linke Militanz: „Der kommende Aufstand“: Es gibt nur noch Verzweiflung, aber keine Ausreden mehr, kein Außerhalb und kein Ausweg. Das kapitalistische System ist total geworden. Dennoch - kein Aufruf zur Gewalt.

 

Während das globalisierungsbedingt in Auflösung begriffene Bürgertum mit einem letzten Aufgebot das Unabwendbare abzuwenden sucht und seine verbalen Schlägertrupps losschickt, regt sich auch anderswo der Widerstand. Es wird eng in der europäischen Wohlstandszone, die sozialen Verteilungskämpfe haben gerade erst begonnen. Doch während es etwa zum gutbürgerlichen Ton gehört, dass unsere Sloterdijks, Sarrazins oder Keleks mit immer neuen Ressentiments auf das zu Kostgängern oder Glaubenskriegern erklärte Menschenmaterial eindreschen und es uns damit vom Leibe halten, könnte man ja auch mal wieder die antibürgerliche Revolte ins Auge fassen: die Systemopposition.

 

Die Zeit ist reif, die neoliberalen Regime verlieren ihre Glaubwürdigkeit, der Zusammenbruch steht unmittelbar bevor. So jedenfalls lautet der Befund eines 2007 zum ersten Mal in Frankreich veröffentlichten Buchs, das sich nicht nur als theoretische Reflexion der Aufstände in den Pariser Armutsquartieren versteht. Auch aus den anderen europäischen Metropolen erreichen uns die Bilder brennender Barrikaden, verwüsteter Schulen oder wütender Demonstranten. „Der kommende Aufstand“, so lautet der Titel, avancierte längst zum Strategiepapier, zum Manifest einer neuen oder, besser: wieder entdeckten linken Militanz und ist jetzt auch auf Deutsch erschienen.

 

Das Buch ist im Internet frei erhältlich und wurde von einem anonymen Kollektiv verfasst. Dennoch ist es von ausgezeichneter sprachlicher Qualität, noch in der deutschen Übersetzung ist der kraft- und schwungvolle, manchmal sogar ans Poetische grenzende Stil zu vernehmen. Das Buch will ganz offenbar für den Kampf werben und folgt dem Prinzip der essayistischen Verknappung und Zuspitzung. Was die theoretischen Referenzen betrifft, so finden sich in ihm die Spuren von allem, was in den letzten Jahrzehnten so zum links-fortschrittlichen Theoriesetting gehörte: von Guy Debord und Jean Baudrillard über Antonio Negri und Michael Hardt bis zu Alain Badiou, um nur einige, vor allem in Frankreich rezipierte Autoren zu nennen.

 

Nur noch Verzweiflung

Akademiker gestatten sich die Revolte. Das Buch folgt der Maxime strikter Immanenz, es gibt nur noch Verzweiflung, aber keine Ausreden mehr, kein Außerhalb und kein Ausweg. Das kapitalistische System ist total geworden, die Welt ein konsumistisches Spektakel, ein flirrendes Spiegelkabinett unserer Unterhaltungssucht, und nachdem man die Menschen zur Durchsetzung der neuen Weltordnung noch mit den Versprechen von Reichtum und Freiheit ködern musste, hat der globale Kapitalismus in der Vielfalt seiner Erscheinungen längst begonnen, die politischen Parteien in Europa zwar auch weiterhin von der Demokratie schwadronieren zu lassen, sich derweil aber in den autoritären Gesellschaften Asiens eine neue Heimat zu suchen.

 

„Der kommende Aufstand“ beschreibt die mit der europäischen Verelendung einhergehende, ja, sie erst ermöglichende Menschendressur. In sieben Kapiteln werden die zuständigen Disziplinaragenturen genannt, allen voran die Individualisierung aller menschlichen Verhältnisse und die Zurichtung des isolierten Ichs zum „unendlich anpassbaren Subjekt“. Es folgen Schulen und Familien als biopolitische Experimentierfelder, in denen nach der „Zersetzung aller gesellschaftlicher Formen“ neue Möglichkeiten der totalen Mobilmachung insbesondere zur Steigerung der Produktivität erprobt werden. In den Metropolen stirbt das städtische Leben und finden sich nur noch „verschiedene Variationen ein und desselben Themas: Transparenz, Neutralität, Uniformität“.

 

Extreme Isolation

Selbstverständlich dürfen die kulturkritischen Hinweise auf die Paradoxien und Schizophrenien kapitalistischer Vergesellschaftung nicht fehlen, etwa auf den links-alternativen Öko-Hedonismus: „Wir sind zu Nachbarn einer planetaren Wohnungseigentümerversammmlung geworden. Man kann kann sich kaum eine wahrhaftigere Hölle vorstellen.“ Kurzum: „Es gibt keinen Grund, sich in diesem oder jenen Bürgerkollektiv zu engagieren, in dieser oder jener Sackgasse der radikalen Linken, in der letzten vereinten Hochstapelei. Alle Organisationen, die vorgeben, die gegenwärtige Ordnung anzufechten, haben selbst wie Marionetten die Form, die Sitten und die Sprache von Miniaturstaaten.“ Damit hat sich der „kommende Aufstand“ aller institutionellen Basis benommen: „Wir gehen aus von einem Punkt der extremen Isolation, der extremen Ohnmacht.“ Doch soll gerade aus dem antiinstitutionellen Aplomb heraus der militante Widerstand wachsen: als verborgene Aktion.

 

Die militante Organisationsform orientiert sich an der Idee des Netzwerks. Ein Aufruf zur Gewalt findet sich indes nicht. Diese Fragen lässt das Buch offen, nicht aus Verlegenheit, sondern um die Aktionsgruppen nicht durch Gewalt-gegen-Sachen-oder-Personen-Diskussionen zu lähmen und sie stattdessen flexibel auf die „strategische“ Situation reagieren zu lassen. Dazu gehören Hausbesetzungen oder Autobahnblockaden, aber auch Zugentgleisungen. Und: „Waffen sind notwendig: Es geht darum, alles daran zu setzen, ihre Nutzung überflüssig zu machen.“ Was aber dann?

 

„Jeder ist aufgefordert, sich zu entscheiden“, so das Buch abschießend, „für die Anarchie oder die Angst vor der Anarchie“. Und wenn alle staatlichen Institutionen zerstört sein werden und bewaffnete Banden, Kriminelle und Warlords die Straßen beherrschen? Man sage nicht, das sei ein Nebenwiderspruch.