Nachdenken über ... Machtdemonstrationen - summit policing & Gewollte Gewalt: In Hamburg ist nichts aus dem Ruder gelaufen

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Erstveröffentlicht: 
14.07.2017

„Warum die Höllendemo so schnell eskalierte“, titelte die „Welt“. Andere Medien kopierten die Schlagzeile „Polizeistrategie bei G20-Protesten ‚gescheitert‘“. Übrigens alle mit den hämischen Gänsefüßchen von dpa. Die Gänsefüßchen verpasste die stockkonservative Nachrichtenagentur, weil das dummerweise eine Aussage der Linken war. Wie kann die Linke es wagen, eine deutsche Polizeistrategie für gescheitert zu erklären?

 

Die „Zeit“ ließ am 13. Juli gar den Soziologieprofessor Armin Nassehi zu Wort kommen mit der Behauptung „Eine Linke braucht es nicht mehr“. Der sich dann auch noch zu einer Behauptung wie dieser verstieg: „Die Polizei muss sich dafür rechtfertigen, einerseits friedliche Demonstrationen allzu sehr eingeschränkt zu haben, andererseits angesichts der Gewalteskalation nicht präsent genug gewesen zu sein. Darin zeigt sich ein Dilemma von Polizeistrategien, auf der einen Seite durchaus wissen zu können, dass und ob Versammlungen in einer bestimmten Situation eskalieren, auf der anderen Seite aber unter Rechtfertigungszwang zu geraten, wenn man allzu frühzeitig eingreift.“


Wobei es diesmal nicht um Eskalation an sich geht. Denn der Professor aus München malt hier das Bild einer Polizei, die geradezu naiv an solche Großereignisse herangeht.

 

Als würde sie jedes Mal bei Null anfangen und es im Vorfeld keine professionelle Erarbeitung des Lagebildes geben – samt möglichst genauen Prognosen über Demonstrationsgröße, Demonstrationsteilnehmer, deren Gewaltpotenzial und deren Strategien.

 

Dass der Professor ein seltsames Bild von „den Linken“ hat, kann man im Artikel nachlesen. Eigentlich vertritt er dieselbe priesterliche Haltung, mit der derzeit der ganze Schwarm konservativer Forderer durchs Land zieht, „die Linken“ mögen sich jetzt endlich von der Gewalt der ganz, ganz Linken distanzieren.

 

Natürlich stürzt das jede Partei und jede Bewegung links von konservativ in ein Dilemma. Denn hinter der Forderung steckt etwas ganz anderes, worauf uns ein emsiger L-IZ-Leser aufmerksam machte, weil das – natürlich – auch im großen Kosmos von Wikipedia zu finden ist.

 

Ja, es hilft alles nichts: L-IZ-Leser müssen mitarbeiten.

 

Und uns auch manchmal auf Stichworte hinweisen, die uns noch nicht untergekommen sind. Die Ahnung, dass sich da seit dem G8-Gipfel in Genua 2001, bei dem der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen wurde, etwas verschoben hat, war ja schon da. Nicht nur bei den großen Gipfeltreffen, bei denen die Polizei in allen betroffenen Ländern immer martialischer vorgeht – auch bei all den zivilgesellschaftlichen Protesten, die sich in den letzten Jahren gegen die negativen Auswirkungen von Freihandel und Bankenregulierung richteten. Immer wieder eskalieren die oft phantasievollen Proteste, weil Polizei anders reagiert als noch vor 2001. Und vor allem steht eine Bewegung im Zentrum dieser veränderten Polizeistrategie: der Protest gegen die enthemmte Globalisierung. 

 

Das Stichwort lautet „summit policing“


„Das Aufkommen der Antiglobalisierungsbewegung zeigte sich seit Ende der 1990er Jahre in einer neuen, transnationalen Protestwelle, die speziell auf internationale Gipfelveranstaltungen etwa der Welthandelsorganisation, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Gruppen der G7, G8 und G20 abzielte“, kann man lesen. Immer mehr und immer größere Protestveranstaltungen fanden rund um diese Gipfel statt und erzwangen damit auch mehr Bilder und Berichterstattung über diesen Protest gegen die abgeschotteten Gespräche der Großen.

 

Worauf es ja auch eine Reaktion der „Mächtigen“ hätte geben können – ein Gesprächsangebot, eine echte Bereitschaft, die Kritik an der Globalisierung allein im Sinne der großen Konzerne ernst zu nehmen.

 

Aber das ist bis heute nicht passiert.

 

Passiert ist dafür die Änderung der Polizeistrategie.

 

Wikipedia zitiert: „Petzold und Pichl stellten im Kriminologischen Journal 2013 am Beispiel von Blockupy fest, summit policing sei eine Strategie der ‚sozialen Kontrolle von Dissens‘. Die Polizei würde verstärkt mit prognostischen Techniken arbeiten, um potentielle Störer identifizieren zu können, durch Kommunikationsmanagement die Deutungshoheit über die Situation zu gewinnen versuchen und einen permanenten Ausnahmezustand herstellen, der den Bürgerrechten entgegenstünde. In Deutschland bedeute dies unter anderem Kontrollen im Vorfeld, Polizeikessel, selektive Zugriffe gegen Demonstranten, die ‚Vorhaltung starker, jederzeit zur Dominanz fähiger Einsatzkräfte‘ und die Schaffung von Räumen zum Zweck der Kriminalisierung und Kontrolle von Aktivisten.“

Und weiter: „Dies könne durch das Absperren ganzer Zonen mittels Hamburger Gitter sowie den Einsatz von Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, Reiterstaffeln, Räumpanzern und Wasserwerfern geschehen. Aktivisten würden damit vom Ort des Geschehens ferngehalten und dieser abgeschottet. Damit werden vorübergehend öffentliche Räume in No-go-Areas (‚rote Zonen‘) verwandelt, zu denen die allgemeine Öffentlichkeit keinen oder nur noch eingeschränkten Zugang erhält, unabhängig davon, ob sie protestieren will oder nicht. Dies läuft auf einen ‚Kampf‘ um öffentlichen Raum hinaus.“


Das erinnert nicht nur an G20 in Hamburg. Genau so wurde das Ganze in Hamburg tatsächlich organisiert.


Logisch, dass eine derartige Aufrüstung des polizeilichen Repertoires auch eine Aufrüstung auf der anderen Seite regelrecht provoziert. Was nichts mit links oder nicht-links zu tun hat, sondern mit der simplen Frage: Wie reagieren eigentlich Menschen, die gegen politische Veranstaltungen demonstrieren wollen, weil das ihr gutes Recht als Staatsbürger ist, wenn dieses Recht mit jedem Gipfeltreffen weiter beschnitten und ausgehöhlt wird? Wenn zwischen den Tagenden und dem Protest immer größere Räume als No-go-Area abgeschottet werden und die Demonstrationsrouten immer weiter abgedrängt und eingeschränkt werden?

 

Der größte Teil reagiert friedlich und mit Phantasie und versucht mit buntem, friedlichem Protest dann doch irgendwie die Aufmerksamkeit der Medien zu bekommen. Samt journalistischer Häme. Mehrere unsere großen Medien titelten am zweiten Tag von Hamburg über die „ach so berechenbaren Gegenproteste“, haben also genau das, was in Hamburg friedlich passierte, öffentlich lächerlich gemacht. 

 

Und dann ist die Frage: Was machen dann die, denen das zu wenig ist?


Wie viele von denen greifen dann zu radikaleren Protestformen und begreifen das aggressive Vorgehen der Polizei als Affront?

 

Übrigens etwas, was nicht nur bei Protestbewegungen zu beobachten ist. In der ganzen westlichen Welt konnte das zunehmend aggressive Vorgehen der Polizei gegen jede Art von Protest beobachtet werden – als wollte man auf der Straße deutlich machen, dass man sich jede Kritik an einer rücksichtslosen Freihandelspolitik unbedingt mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken verbeten will.


Nein, Hamburg war ganz eindeutig keine Ausnahme, sondern Teil einer immer länger werdenden Kette von Ereignissen, bei denen Genua 2001 irgendwie der Anfangspunkt war, an dem das sichtbar wurde.

 

Und es sieht nicht so aus, als sollte Hamburg nun ein Moment des Innehaltens werden. Denn die großen Städte leiden ja nicht nur durch die martialische Abschottung zentraler Bereiche. Sie leiden auch durch eine fokussierte Berichterstattung, die sich dann nicht mehr mit den Gründen für die polizeiliche Aufrüstung und die zeitliche und räumliche Aufhebung von Bürgerrechten beschäftigt, sondern mit dem, was auch der Wikipedia-Artikel benennt: „Der Polizei kommt zugute, dass Massenmedien, seriös oder auch dem Boulevard zuzuordnen, bei Gipfeltreffen bevorzugt über das Thema der Gewalt berichten, ob sie nun erwartet wird, ausbleibt oder tatsächlich stattfindet.“


Was natürlich die Frage aufwirft: Wie viel Legitimität hat eigentlich eine Politik noch, die derart massiv nicht nur Gegenproteste blockiert, sondern regelrecht zum Entgleisen zu bringen versucht, damit solche Bilder entstehen?

 

Denn die Bilder der Gewalt werden gerade von den sensationsgierigen Medien mit Dank aufgenommen und millionenfach verbreitet. Sie desavouieren den Gegenprotest und sind Munition für all jene Hardliner, die jetzt noch mehr Einschränkungen für Demonstrations- und Bürgerrechte fordern. Und Argumentation gegenüber Menschen, die dann vor lauter Angst schlotternd genau die Hardliner wählen, die den Zustand verschärfen, weiter Waffen in aller Welt handeln und die Gesellschaft auch im Sinne des eigenen Machterhalts lieber weiter spalten, als sie zusammenzuführen.

 

Wenn sich die Diskursverweigerung der Regierungen in einer immer aggressiveren Polizeistrategie ausformt, dann läuft gewaltig etwas falsch.

 

Und die einzig logische Antwort ist eigentlich: Keine offene Stadt der Welt darf sich mehr für solche Inszenierungen der rücksichtslosen Macht zur Verfügung stellen. Denn am Ende war es nichts anderes: eine Machtdemonstration mit einem sehr metallischen Beigeschmack.