Neubrandenburger Auschwitzprozess macht Rechtsgeschichte

Erstveröffentlicht: 
25.06.2017
Im Verfahren gegen den früheren SS-Mann Hubert Zafke hat das Landgericht die Mitglieder der Kammer für befangen erklärt. Gegen den Richter wurde zudem Strafanzeige gestellt – wegen Rechtsbeugung.

 

Der Richter Klaus Kabisch aus Neubrandenburg hätte Rechtsgeschichte schreiben können: Auf seinem Tisch lag der womöglich letzte Prozess, der sich mit Auschwitz beschäftigt hätte. Er sollte das Verfahren gegen den 96-jährigen einstigen SS-Mann Hubert Zafke leiten, ihm wird Beihilfe zum Mord in mindestens 3681 Fällen vorgeworfen.

 

Geschichte hat er nun tatsächlich geschrieben, aber anders, als man erwarten konnte. Am Freitag gab ein Kollege von Kabisch, Richter Henning Kolf, einem Befangenheitsantrag der Nebenklage statt und warf den Vorsitzenden samt seiner beiden Kammerbeisitzer aus dem Prozess am Landgericht.

 

Die Richter hatten den Prozess von Beginn an verschleppt und boykottiert, sich in einen Kleinkrieg mit Staatsanwaltschaft und Nebenklage verzettelt und in Schriftsätzen zum Teil Formulierungen benutzt, mit denen sie beinahe um Ablehnungsanträge zu betteln schienen. Allein Staatsanwalt Hans Förster stellte drei Befangenheitsanträge gegen Kabisch.

 

Die Ablehnung aller Richter einer Strafkammer ist in Deutschland höchst ungewöhnlich, es ist kaum ein entsprechender Fall bekannt. Dass dies nun ausgerechnet in einem der letzten deutschen Verfahren geschieht, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, ist umso erschütternder. Denn Kabisch, so sehen es jedenfalls die Staatsanwaltschaft Schwerin und die Nebenkläger, hat dieses Verfahren von Anfang an behindert und blockiert.

 

Dabei ist der Richter kein verkappter oder gar bekennender Revisionist oder Anhänger rechten Gedankenguts. Vielmehr scheinen sich Kabisch und seine beiden Kammerkollegen in eine letztlich unhaltbaren Rechtsposition verrannt zu haben. Sie glauben offenkundig, dass das Verfahren unsinnig ist, entweder weil der Angeklagte ihrer Auffassung nach zu alt sei, oder die Rechtslage keineswegs so klar, wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage vom Februar 2015 darlegte.

 

Doch mit dieser Haltung stehen sie alleine da. Juristen nennen solche Einzelmeinungen „abwegig“. In Gesprächen mit der WELT äußerten Vertreter der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft Mecklenburg-Vorpommerns denn auch ihre Ratlosigkeit. „Wir verstehen ihn nicht“, hieß es dabei stets.

 

Besonderen Ehrgeiz legte Kabisch an den Tag, wenn es darum ging, den Nebenkläger Walter Plywaski aus dem Verfahren zu drängen. Plywaski, 87, hat Auschwitz überlebt und stand neben seinem Vater, als der KZ-Kommandant des Dachauer Außenlagers Riederloh diesen mit einem Spaten erschlug. Das war kurz vor Kriegsende 1945. Der im amerikanischen Boulder lebende Mann hatte der WELT im April ein Interview gegeben, in dem er von seiner fünfjährigen Leidenszeit unter den Deutschen berichtete.

 

Anfang 2016 hatte Richter Kabisch die Zulassung der Nebenklage des Amerikaners aus formalen Gründen widerrufen. Auf die Beschwerde von Thomas Walther, dem Anwalt Plywaskis, kassierte das Oberlandesgericht Rostock diesen Widerruf und setzte Plywaski am 23. Februar 2016 wieder ein.

 

In dem Stil ging es weiter. Als Walther einen Antrag auf einen Reisekostenzuschuss stellte, um seinen Mandanten in den USA zu besuchen, beschied ihm Kabisch, das sei nicht nötig. Wenn es etwas zu besprechen gebe, könne man sich im Internet via Skype austauschen.

 

Der an einem Tremor leidende Plywaski sollte also über seine Erlebnisse an der Rampe von Auschwitz übers Internet erzählen? Anwalt und Mandant waren entsetzt, schließlich rückte das OLG Rostock abermals die Dinge zurecht und genehmigte die Übernahme der Kosten.

 

Obwohl sich an der Rechtslage nichts geändert hatte, kündigte Kabisch ein Jahr später an, Plywaski wieder aus dem Verfahren zu werfen. Anwalt Walther wies ihn aber darauf hin, dass er sich damit möglicherweise strafbar machen würde. Kabisch wertete dies als Einschüchterungsversuch und ordnete den erneuten Widerruf an – der ebenfalls vom OLG für nichtig erklärt wurde.

 

Außerdem attestierte Kabisch dem Nebenklageanwalt Professor Cornelius Nestler, dass dieser einer „narzisstisch dominierten Dummheit“ aufgesessen sei. Abgesehen von der gewagten grammatikalischen Konstruktion machte das OLG Rostock im Plywaski-Beschluss klar, dass diese „persönlich herabwürdigende Erklärung“ nicht hinnehmbar sei.

 

Deutliche Worte fanden auch andere Juristen: Kabischs Strafkammer setze sich über den Beschluss des OLG hinweg, was „gerade in diesem Verfahren von einer derartigen rechtlichen und geschichtlichen Bedeutung nur schwer erträglich ist“, schrieb Jürgen Garbe von der Generalstaatsanwaltschaft Rostock in einer Stellungnahme. 

 

Private Ansichten wie auf einer Grillparty


Das Oberlandesgericht lieferte mit diesem Beschluss eine Steilvorlage für die Befangenheitsanträge. Selbst Kabisch fiel das auf, und er schrieb in einem Vermerk, dass die deutlichen Worte zu seinen verbalen Entgleisungen eine „private Ansicht“ des Senats seien. Dass Richter in ihren Beschlüssen „private Ansichten“ vertreten, als seien sie etwa auf einer Grillparty, ist freilich neu. Für Anwalt Walther zeigt es vor allem eines: wie weit Kabisch sich von seiner „richterlichen Dienstpflicht entfernt hat“.

 

Der Prozess gegen Hubert Zafke wird wohl dennoch nicht mehr stattfinden, ein neues Gutachten vom 12. Mai 2017 hält ihn für verhandlungsunfähig. Dafür könnte nun ein anderes Verfahren in Gang kommen – und Kabischs Richterlaufbahn jäh beenden.

 

Walther hat wegen des erneuten Widerrufs der Nebenklage eine Strafanzeige wegen Rechtsbeugung gestellt. Die Staatsanwaltschaft Stralsund ermittelt, ob sie gegen den Vorsitzenden Richter Klaus Kabisch ermitteln und Anklage erheben wird (AZ 526 Js 9674/17). Die Mindeststrafe für ein solches Vergehen: ein Jahr Gefängnis.