Wenn die Nacht am tiefsten ist… Fluchtlinien einer radikal emanzipatorischen Politik

Diskussion

Wir sind eine Gruppe aus der radikalen Linken in München, die seit vielen Jahren besteht und in der Antiglobalisierungsbewegung und in antimilitaristischen Bewegungen aktiv war. Die Realität der letzten Jahre sieht allerdings etwas anders aus: Unsere Gruppe ist wesentlich kleiner geworden, wir treffen uns weniger regelmäßig und für gemeinsame Aktionen bleibt wegen zunehmendem Stress im kapitalistischen (Arbeits-)Alltag wenig Zeit. Darüber hinaus erzeugen die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen bei uns Ratlosigkeit, wo man politisch ansetzen könnte.
Vielleicht erscheint es daher etwas überraschend, dass nun gerade von uns ein Text kommt, der versucht, einen breiteren Überblick über gegenwärtige politische Dynamiken und ihre Wechselwirkungen zu geben. Aber nicht trotz, sondern gerade wegen der Situation, in der wir uns befinden, haben wir den Versuch unternommen, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und die Rolle der radikalen Linken zu analysieren, um der verbreiteten Desorientierung und den daraus resultierenden Alternativen der Apathie oder der Feuerwehrpolitik wenigstens ein Stück weit zu entkommen.
Der vorliegende Text ist aus heterogenen Positionen und kontroversen Diskussionen, die wir im Laufe des letzten Jahres geführt haben, entstanden. Diese Skizze erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, kann aber vielleicht trotzdem als Ausgangspunkt für eine gemeinsame Diskussion um Fluchtlinien einer radikalen emanzipatorischen Politik dienen. Wir würden uns über Reaktionen, Kritik und Diskussionsbeiträge freuen!


Do you remember global war?
Um den gegenwärtigen Zustand ansatzweise zu erfassen, ist ein Blick zurück unumgänglich und für uns scheint es (vielleicht auch biographisch bedingt) Sinn zu machen, bis ins Jahr 2001 zurückzugehen: Im Sommer 2001 hatte die sogenannte Antiglobalisierungsbewegung mit den Tagen von Genua ihren Höhepunkt erreicht, als 300.000 Menschen gegen den G8-Gipfel in der italienischen Hafenstadt auf die Straße gingen und sich Massenproteste und militanter Widerstand auf eine Weise und in einer Dimension verbanden, wie sie viele von uns vorher nie erlebt hatten.
Doch der kurze Sommer des antikapitalistischen Protests endete mit dem 11. September und danach brach der lange Herbst des „global war on terrorism“ an. Genau dieses Paradigma des „globalen Krieges“ stellt immer noch eine bestimmende Konstante unserer Gegenwart dar, die inzwischen tief im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Hier können nur einige wenige Aspekte des „globalen Krieges“ gestreift werden: Die Reaktion der USA und ihrer Verbündeter auf 9/11 hat neben spektakulären Feldzügen mit hunderttausenden Toten eine neue Form der hybriden Kriegsführung hervorgebracht, die heute in ihrer Kombination von Großangriff und verdeckten Operationen, Drohnenkrieg und zivil-militärischer Zusammenarbeit den Alltag in ganzen Weltregionen bestimmt. In Afghanistan und Irak, Jemen und Somalia, Libyen und Syrien, Tschad, Niger und Mali, um nur einige der Schauplätze zu nennen.
Die Motive für das westliche „Eingreifen“ aufzuschlüsseln, bleibt schwierig: Während anfangs neben der „Vergeltung“ für 9/11 kapitalistische Interessen und die neokonservative Hybris des „nation building“ im Vordergrund standen, scheinen diese Motive „des Westens“ inzwischen eher einer Art Feuerwehr- und Killer-Logik gewichen zu sein, der zufolge „Brandherde“ zu löschen sind und der „Feind“ nirgends vor (präventiver) „Vergeltung“ sicher sein darf. Zugleich sind die Schauplätze des „globalen Krieges“ immer auch Austragungsort geostrategischer Machtkämpfe einer kaum überschaubaren Anzahl von Akteuren, die in wechselnden Konstellationen eigene politische Interessen durchzusetzen versuchen: Der rasche Wechsel von Konfrontation zu Kooperation zwischen Russland und der Türkei im Hinblick auf Syrien ist hier nur ein Beispiel.


Global war reloaded
Auf den ersten Blick hat der „global war on terrorism“ George W. Bushs von 2001 allerdings recht wenig mit der Realität des Jahres 2017 zu tun. Um den „globalen Krieg“ als kontinuierliches Phänomen zu begreifen, müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden: die Metamorphosen des „Feindes“ und die (eng damit verbundene) Ausweitung der Kampfzonen. Im Zuge des „globalen Krieges“ entstand mit dem ‚Islamischen Staat‘ (IS) ein neuer politischer Akteur der Gegenwart, der den ursprünglichen Feind „des Westens“, Al-Quaida, angesichts seiner territorialen Machtentfaltung, seiner globalen Medienpräsenz und nicht zuletzt seiner Attraktivität für Menschen auch in Europa, wie einen mäßig gelungenen Prototypen wirken lässt. Zugleich sind die heutigen Kriegsschauplätze nur begreifbar, wenn wir die Aufstände der Menschen in zahlreichen arabischen Staaten 2011 und das weitgehende Scheitern ihrer emanzipatorischen Ambitionen durch brutale Repression, militärische Eskalation und ausländische Intervention mit einkalkulieren: Erst durch das Scheitern des „arabischen Frühlings“ gerieten z.B. Libyen und Syrien in den Sog des „globalen Krieges“.
Trotz aller Veränderungen bleiben eine Reihe von Tendenzen festzuhalten, die den „globalen Krieg“ seit 2001 charakterisieren. Dieser Krieg reproduziert sich selbst auf stets erhöhter Stufenleiter: Er produziert „Feinde“, Kriegsgründe und Krieger, die zu töten und zu sterben bereit sind. Er generiert Kriegsgesellschaften, in denen stets neue Feinde und Krieger heranwachsen und in denen ein auf Dauer gestellter Ausnahmezustand herrscht, der die Überwindung der Kriegslogik unendlich erschwert und emanzipatorische Veränderung gänzlich unmöglich erscheinen lässt.
In der aktuellen Phase des „globalen Krieges“ scheinen sich alle düsteren Prophezeiungen seiner Apologeten zu bewahrheiten: Nach den Anschlägen von Paris, Brüssel, Nizza und zuletzt Berlin im Dezember 2016, scheint dieser Krieg zumindest partiell tatsächlich in die europäischen Metropolen eingezogen zu sein – nicht nur weil hier Bomben explodieren oder LKWs in Menschengruppen rasen, sondern auch weil viele der Attentäter in Europa aufgewachsen sind oder hier zu dem wurden, was sie sind. Durch soziale Medien und globale Rekrutierungsstrategien ist es dem IS gelungen, Menschen in den „westlichen“ Gesellschaften zu mobilisieren. Angeblich haben sich bisher etwa 5000 Europäer*innen dem IS in Syrien oder dem Irak angeschlossen, hinzu kommen viele, die das reaktionäre Projekt des IS indirekt unterstützen oder zumindest begrüßen.
Die gegenwärtige Phase des globalen Krieges zeichnet sich also nicht nur durch eine Ausweitung der Kriegsgebiete aus, sondern auch durch eine Zuspitzung der Widersprüche: In den Staaten des Westens werden heute nicht mehr nur die Killer „des Westens“ produziert, sondern auch ihr Pendant der Gegenseite – dem westlichen Drohnenpiloten steht der islamistische (Selbstmord-)Attentäter gegenüber, wobei der phänomenologische Unterschied dieser beiden Figuren vor allem darin besteht, dass letzterer bereit ist, nicht nur Unschuldige, sondern auch sich selbst aus dem Leben zu reißen, während ersterer aus sicherer Distanz agiert und die Unschuldigen (meist) nicht primär anvisiert, sondern als „Kollateralschäden“ akzeptiert.
Beide Formen der Kriegsführung ähneln sich ansonsten grundlegend: Es ist ein immer währender Krieg, in dem man verdeckt agiert und in dem stets aus dem Hinterhalt zugeschlagen werden kann. Es ist ein Krieg, der keinen Unterschied macht zwischen Kämpfer*innen und Zivilist*innen, ein Krieg, in dem die Angst der Gegenseite vor jederzeit möglicher „Vergeltung“ ein zentrales Ziel darstellt. So ist der Ausnahmezustand (ob offiziell wie in Frankreich oder inoffiziell wie in der BRD) der neue Normalzustand geworden und das Leben der Menschen wird immer stärker geprägt von Terrorangst und neuen Sicherheitsgesetzen, dauernden Polizeirazzien und angeblich vereitelten Anschlägen und einem immer weiter wachsenden antimuslimischem Rassismus.
Uns erscheint es heute wichtig, als radikale Linke Position zum Projekt des IS zu beziehen, ohne dabei die globalen Machtverhältnisse und die extreme Asymmetrie der militärischen Auseinandersetzung aus dem Blick zu verlieren. Der IS ist ein Produkt des „globalen Krieges“, sowohl seine Ziele, als auch seine Mittel sind extrem reaktionär. Seine Attraktivität gerade für junge Männer hat oft wenig mit Religion und viel mit dem Versprechen einer brutalen und sexistischen Selbstermächtigung zu tun, die auf einem radikalen Bruch mit den Gesellschaften basiert, in denen die potentiellen Anhänger leben. So wenig die gesellschaftlichen Bedingungen als alleinige Erklärung oder gar Rechtfertigung für die Taten von IS-Kämpfern herhalten können, so wenig darf der Zusammenhang zwischen sozialer Ausgrenzung und Marginalisierung einerseits und der Sehnsucht nach reaktionärer Selbstermächtigung andererseits ignoriert werden. Bisher aber fehlt uns eine klare und radikale Haltung, die eine allgemeine linke Religionskritik mit einer konkreten Praxis gegen Fundamentalisten jeder couleur verbindet.
Der „globale Krieg“ stellt uns also vor zahlreiche Herausforderungen: Dem Ausnahmezustand und der Kriegslogik in unseren Gesellschaften entgegenzutreten, den IS und sein ideologisches Umfeld als Faktor nicht nur an fernen Kriegsschauplätzen, sondern auch hierzulande einzuordnen und zu bekämpfen. Angesichts der aktuellen Bedeutung des „globalen Krieges“ ist es ebenso erstaunlich wie bedauerlich, dass der zwischenzeitliche antimilitaristische Fokus von Teilen der radikalen Linken inzwischen wieder weitgehend verloren gegangen zu sein scheint – wenig wäre gerade nötiger, als eine klare inhaltliche Position gegen jeden Krieg und eine Praxis, die diesem Ziel Rechnung trägt.

 

Vom Krieg zur Krise
Den zweiten zentralen Faktor, der unsere Gegenwart prägt, stellt neben dem „globalen Krieg“ sicherlich die offenkundige Krise des kapitalistischen Akkumulationsregimes seit 2007 dar. Auch hier würde eine präzise Beschreibung der grundlegenden Sachverhalte schnell jeden Rahmen sprengen – deshalb nur einige grobe Pinselstriche: Ausgehend von einer Überakkumulationskrise in den 2000er Jahren bildete sich in den USA eine gigantische Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt, deren Platzen ab Herbst 2007 zu einer Bankenkrise („Lehmann Brothers“) führte, die sich schnell ausweitete. Durch die „Rettungsaktionen“ zahlreicher Staaten wurden und werden private Risiken sozialisiert und aus der Bankenkrise wurde vielerorts eine „Staatsschuldenkrise“. Dieser wird in Europa, insbesondere auf Druck Deutschlands, mit drakonischen Austeritätsprogrammen begegnet, wodurch die Volkswirtschaften zahlreicher Staaten vor allem des europäischen Südens in die Rezession getrieben werden.
Die implementierten „Strukturreformen“ zerstören große Teile der sozialen Sicherungssysteme, lassen die (Jugend-) Arbeitslosigkeit in schwindelerregende Höhen schnellen und zwingen die betroffenen Staaten zu radikalen Privatisierungsprogrammen, wodurch öffentlicher Besitz de facto zwangsversteigert wird. Die fundamentale Krise des Kapitalismus ist heute keineswegs vorüber: stetig wachsende Spekulationsblasen an den Finanzmärkten, mangelndes realwirtschaftliches Wachstum und eine Überakkumulationskrise, die ständig in Deflation zu münden droht, welcher die EZB durch Minuszinsen und ein Anleihenkaufprogramm in Billionenhöhe gegenzusteuern versucht, wodurch sie die Spekulation abermals anheizt.
Um zu begreifen, dass die aus der Akkumulationskrise resultierende spekulative Blasenbildung auch ohne den ganz großen Crash alltäglich auf unsere Lebenswirklichkeit durchschlägt (und das nicht nur in den krisengebeutelten Ländern Südeuropas), genügt ein Blick auf die Entwicklung der Immobilienpreise in deutschen Großstädten. 15% Preissteigerung in Städten wie Berlin und München im Jahr 2015 hat nur bedingt etwas mit Zuzug und mangelndem (öffentlichen) Wohnungsbau zu tun: Großanleger versuchen die offensichtlichen Risiken auf dem Aktienmarkt durch massenhafte Immobilienkäufe im Rahmen zu halten – mit dramatischen Folgen für alle, die zur Miete wohnen.
Die Kontinuität der Krise seit 2007 ist ein Faktum – was sich seit Ausbruch der Krise allerdings völlig verkehrt hat, sind die politischen Vorzeichen: Während wir 2008 über die Potentiale emanzipatorischer Veränderung angesichts der offensichtlichen Delegitimierung des neoliberalen Kapitalismus diskutierten, hoffen wir heute vielleicht den einen oder anderen kleinen Kampf gegen die Durchsetzung einer radikalisierten neoliberalen „Reformagenda“ erfolgreich zu bestreiten – der Kapitalismus aber ist in der Offensive.
Es existiert heute kein gemeinsamer Kampf gegen die Krise, geschweige denn gegen jenes Akkumulationsregime, das sie ausgelöst hat. Die meisten Kämpfe finden auf lokaler, regionaler oder maximal auf nationaler Ebene statt, von transnationaler Solidarität gegen die Austeritätsprogramme der Troika kaum eine Spur. Als die griechische Bevölkerung nach Jahren des Straßenprotestes versuchte, ihrer Ablehnung der Sparprogramme durch die Wahl einer linkssozialdemokratischen Regierung („Syriza“) Ausdruck zu verleihen, wurde diese von den großen sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften Europas derart im Regen stehen gelassen, dass sie schließlich alle bitteren Pillen schluckte und nun jene Austeritätsprogramme umsetzt, die zu verhindern sie angetreten war. Damit hat nicht nur Syriza politischen Selbstmord begangen, sondern die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften der großen europäischen Staaten haben deutlich gemacht, dass sie nicht einmal eine graduelle Entschärfung der neoliberalen Agenda anstreben und somit politisch völlig obsolet sind.
Dass selbst der IWF die Austeritätsprogramme für Griechenland für nicht zielführend hält und einen Schuldenschnitt anmahnt, macht nur noch deutlicher, was ohnehin auf der Hand liegt: Im Fall Griechenlands ging es immer zuerst um eine politische Machtfrage. Schäuble und Co. ging es darum, deutlich zu machen, dass es keine Alternative zum herrschenden Wirtschaftssystem gibt, ganz gleich, wen die Leute wählen. Damit markiert das Scheitern der Syriza-Regierung in Griechenland aber auch jenen Punkt, an dem die traditionellen Muster der politischen Repräsentation im Parlamentarismus vollkommen ins Leere laufen.
Natürlich gab es in den letzten Jahren verschiedene Bewegungen in zahlreichen Ländern, die sich explizit oder implizit auch gegen den Kapitalismus, seine Krise und die Krisenbearbeitung der herrschenden Eliten gestellt haben: die Platzbesetzungen in Spanien, die Occupy-Bewegung in den USA, die Proteste gegen die weitere „Deregulierung“ des Arbeitsmarktes in Frankreich usw. Was aus unserer Sicht aber oft fehlte, waren Resonanzeffekte in anderen Regionen und der explizite Versuch, auf das große Ganze ab zu zielen. Ein wesentlicher Grund dafür war sicher der Umstand, dass zentrale politische Akteure, die eine Transnationalisierung ermöglichen könnten, sich faktisch von jeder Form internationaler Solidarität verabschiedet haben. Ein europäischer Streik gegen die immer weiter voranschreitende „Deregulierung“ des Arbeitsmarktes oder für einen europäischen Mindestlohn ist heute – zumindest aus deutscher Sicht – eine bloße Chimäre: „Sozialpartnerschaft“ und Standortdenken prägen die politische Agenda der DGB-Führung. Ohne gesellschaftliche Institutionen als Transmissionsriemen, aber sind ‚große Themen’ schwer anzugehen, dementsprechend verlagern sich Bewegungsakteure zumeist auf kleinere, oft lokale Konflikte, anhand derer aber wiederum Netzwerke transnationaler Solidarität nur schwer aufgebaut werden können.
Wohl auch aufgrund mangelnder internationaler Solidarität ist der anfangs gerade in den besonders betroffenen Ländern Südeuropas starke Widerstand abgeebbt. Er ist von der großen politischen Bühne verschwunden, oder aber, wie z.B. im Fall von Podemos in Spanien, so kanalisiert worden, dass er mittelfristig in die politische Maschinerie integriert werden kann. Ein Gefühl der Ohnmacht scheint um sich zu greifen. Verantwortlich dafür ist eine Krise der Repräsentation: Demonstrationen, Proteste, Riots, Wahlen – alles bleibt weitgehend wirkungslos, was die Spardiktate betrifft.
In der Krise offenbart der neoliberale Finanzkapitalismus damit einen seiner zentralen Wesenszüge: Er ist ein deterritorialisiertes Regulationsregime, in dem nicht nur die „Wertschöpfungsprozesse“, sondern auch die herrschende Klasse immer weniger in einem nationalstaatlichen Gefüge verankert sind. Während fordistische Eliten noch in einem hohen Maß auf nationalstaatlich organisierte Prozesse der „Wertschöpfung“ (=Ausbeutung) und Hegemoniebildung angewiesen waren und ein enger Nexus zwischen dem wachsenden Konsumniveau breiter Gesellschaftsschichten und den Profiten der Kapitalist*innen bestand, sind diese Kopplungen heute außer Kraft gesetzt.
Diese Tatsache ist zwar den meisten Menschen in Europa nicht explizit bewusst, doch ein implizites, oft verzerrtes Bewusstsein existiert sehr wohl und leistet oft jener Tendenz der (imaginären) Reterritorialisierung Vorschub, die allerorts von reaktionären Kräften betrieben wird: Stärkung der nationalen (oder regionalen) Identitäten als Gegenmittel zum faktischen Bedeutungsverlust nationaler Räume im Hinblick auf die wirtschaftliche, politische und soziale Regulation.
Vor dem Hintergrund der hier nur knapp umrissenen Dynamiken von Krise und Krieg wollen wir nun auf die konkreten gesellschaftlichen Widersprüche und Kämpfe zu sprechen kommen, die die gegenwärtige Situation prägen: die globalen Migrationsbewegungen und die Renaissance des Nationalismus in Europa und den USA.

 

Von der Krise zum Rechtsruck: ‚Brexit‘ und Trump
Mit Großbritannien hat sich eines der wirtschaftlich und politisch wichtigsten Länder aus der europäischen Gemeinschaft verabschiedet. Der Ausgang des Brexit-Referendums lief dabei gegen die herrschende kapitalistische Vernunft: Der globale Finanzplatz London droht durch den EU-Austritt schweren Schaden zu nehmen, an den Finanzmärkten kam es in Folge des Brexits zu harten Einbrüchen und der Wert des Pfunds fiel auf ein Rekordtief. All dies war völlig vorhersehbar und trotzdem nicht entscheidend für den Ausgang des Referendums.
Offensichtlich wird die EU immer weniger mit dem Versprechen wachsenden Wohlstands und einer Angleichung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse assoziiert. So haben die nostalgische Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ des fordistischen Wohlfahrtsstaates sowie die Ressentiments gegenüber der EU und der mit ihr verbundenen Einwanderung, die von den Brexit-Apologeten zum Sündenbock für das gescheiterte neoliberale Modell in Großbritannien gemacht wurde, gesiegt. Mit dem britischen Votum für den EU-Austritt triumphiert der Nationalismus gegenüber einer Globalisierung neoliberaler Prägung.
Die Hoffnung auf eine Restauration des nationalen Wohlfahrtsstaates, die manche Austrittsbefürworter getrieben haben mag, bleibt angesichts der transnational agierenden Kapital- und Finanzmarktakteure und der wirtschaftsliberalen Agenda der britischen Eliten utopisch: Die britische Regierung versucht bereits jetzt durch Steuerdumping einer drohenden Kapitalflucht zu begegnen.
Während die politische Klasse Europas noch schockiert nach London starrte, ereignete sich jenseits des Atlantiks ein politisches Desaster, das noch weit höhere Wellen schlägt: Donald Trump zog ins Weiße Haus ein. Ohne hier genauer auf die Gründe für Trumps Wahlsieg und seine ebenso reaktionäre wie gefährliche Politik eingehen zu können, liegt eines auf der Hand: Der Brexit und die Wahl Trumps folgen dem gleichen Muster. Beide stehen für die Aufkündigung des herrschenden politischen Konsenses, der „den Westen“ in den letzten Jahrzehnten prägte: Neoliberalismus, Freihandel und relativer gesellschaftlicher Liberalismus werden durch ein reaktionäres Projekt ersetzt, das auf Nationalismus, partiellen Protektionismus und gesellschaftlichen Rollback setzt.
Trump hat schnell klar gemacht, wie ernst er die Rhetorik seines Wahlkampfes meinte: Seine innenpolitische Agenda vom geplanten Mauerbau an der Grenze zu Mexiko über Abschiebungen „illegaler“ Migrant*innen bis zum Einreiseverbot für Muslime schafft ein gesellschaftliches Klima des offenen Rassismus. Während innenpolitisch also eine Verwandtschaft zwischen Trumps Programm und dem europäischer Neonationalisten wie Orban konstatiert werden könnte, sind die außenpolitischen Auswirkungen der Präsidentschaft Trumps noch kaum abschätzbar: Angesichts apokalyptisch-faschistoider Berater à la Bannon erscheint jede Form außenpolitischer Eskalation, bis hin zu einem Krieg gegen China denkbar.
Die deutsche Regierung nimmt das Gepolter aus Washington zum Anlass, um eine radikale Erhöhung der Militärausgaben zu fordern; mit dem Argument, nur so seien die USA dauerhaft auf ihre „Solidarität“ in der NATO zu verpflichten. Wenn es überhaupt ein außenpolitisches Problem mit Trump gibt, dann nur, weil er aufgrund seiner angeblichen Nähe zu Putin Russland gegenüber nicht zu einer harten Haltung in der Lage sei.
Nur eine Fraktion der herrschenden Klasse scheint uneingeschränkt optimistisch in die Zukunft zu blicken – die US-(Finanz-)Wirtschaft: Der Dow Jones feiert ein Allzeithoch nach dem anderen. Milliardäre und ehemalige Goldman-Sachs-Banker in Kabinett und Beraterstab werden u.a. mit Steuersenkungen dafür sorgen, dass sich auch im neuen Regulationsregime Profit erwirtschaften lässt; durch die völlige „Privatisierung“ der Bildung, eine Förderung fossiler Energieträger oder eben durch den Bau einer 3000 Kilometer langen Mauer.
Ähnliche reaktionäre Tendenzen wie in Großbritannien und den USA zeichnen sich u.a. in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und zahlreichen Staaten Osteuropas ab, so dass ohne Zweifel von einer politischen Zeitenwende gesprochen werden kann. Wer dachte, die Freihandelsdoktrin der letzten Jahrzehnte sei innerhalb des kapitalistischen Systems inzwischen alternativlos, sieht sich eines Besseren belehrt: Das Dogma der letzten Jahrzehnte lautete TINA („there is no alternative“), das neue lautet gewissermaßen „there is an alternative – and it’s even worse!“
Angesichts dieser bedrohlichen Welle vollzieht sich gerade eine paradoxe Verschiebung der Perspektiven: Das bisher von linken Kräften politisch bekämpfte Projekt des Neoliberalismus, das gerade vor dem Hintergrund der aktuellen ökonomischen Krise und der immer deutlicher werdenden ökologischen Krise jeden letzten Rest politischer Legitimität verspielt zu haben schien, erfährt angesichts von Trump und Co. eine Relegitimierung. Die Tatsache, dass gerade die verheerenden gesellschaftlichen Konsequenzen von zwei bzw. drei Jahrzehnten Neoliberalismus den Nährboden für den reaktionären Rollback bereitet haben, dem wir uns zur Zeit gegenübersehen, droht in den Hintergrund zu geraten.
Wir sind als Linke nicht gewillt, zwischen neoliberaler Pest und nationalistischer Cholera zu wählen, sondern wir wollen eine völlig andere Gesellschaft. Wir müssen versuchen, uns von den jüngsten Siegen des Neonationalismus nicht den Blick auf jene Tatsache verstellen zu lassen, die ihnen zugrunde liegt: die umfassende Legitimationskrise des kapitalistischen Akkumulationsregimes der letzten Jahrzehnte und die daraus resultierende Repräsentationskrise des politischen Systems. Dass diese Repräsentationskrise z.Z. nur reaktionären Projekten zum Erfolg verhilft, ist auch Ausdruck der eklatanten politischen Schwäche der institutionellen Linken. Für uns als radikale Linke sollte beides, die Repräsentationskrise des bestehenden Systems und das Vakuum auf der Linken, Ansporn sein politisch zu intervenieren.

 

Aufrüsten der Festung Europa
Nicht nur der Brexit machte die schwindende Bindekraft der EU zuletzt deutlich: Auch in der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ konnten sich die EU-Staaten lange nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen. Während das sogenannte ‚Dublin-System‘ unter dem Druck der Migrationsbewegungen zwischenzeitlich faktisch zusammengebrochen war, gelang es der EU nicht, sich auf ein neues Verfahren der Aufnahme und Verteilung der geflüchteten Menschen zu einigen. Auch die auf die Flüchtlingsbewegungen folgende Abschottung der Grenzen entlang der Balkanroute setzte sich zunächst in Form nationaler Alleingänge durch.
Erst mit dem ‚Türkei-Deal‘ gelang es der EU die Initiative in der „Flüchtlingsabwehr“ wieder zurück zu gewinnen. Für die „Sicherung“ der europäischen Außengrenzen und die Internierung der Geflüchteten in großen Auffanglagern an der syrisch-türkischen Grenze zahlt die EU der Türkei bis zu 6 Milliarden Euro. Außerdem wurden der türkischen Regierung zunächst die Aufhebung der Visapflicht und Fortschritte bei den EU-Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt. Alle Geflüchteten, die es auf eigene Faust bis nach Griechenland schaffen, sollen umgehend wieder zurück geschoben werden. Seit Abschluss des ‚EU-Türkei-Deals‘ schweigen die europäischen Regierungen zu allen Verletzungen der Menschenrechte und autoritären Entwicklungen im Land: Das autoritäre AKP-Regime verwandelt sich unter der despotischen Führung von Erdoğan in eine brutale Diktatur, die den Militärregimes in der jüngsten türkischen Vergangenheit in nichts nachsteht.
Durch den ‚Türkei-Deal‘ werden die flüchtenden Menschen gezwungen, sich auf immer gefährlichere und teurere Passagen zu begeben. Die 2016 noch einmal stark gestiegene Zahl der Toten im Mittelmeer ist eine direkte Konsequenz der europäischen Abschottungspolitik. Doch auch die Abdrängung der Migrationsrouten ins Bürgerkriegsland Libyen mitsamt der hochgefährlichen anschließenden Bootspassage durch das zentrale Mittelmeer scheint den EU-Strategen als Abschreckung nicht ausreichend: Als nächstes soll ein Deal mit Libyen ähnlich dem Türkei-Deal her, ungeachtet der Tatsache, dass das Land vom Bürgerkrieg zerrissen ist und keine der konkurrierenden ‚Regierungen‘ überhaupt das gesamte Territorium kontrolliert. Die EU wird hier wohl „nation building“ im Zeichen der „Flüchtlingsabwehr“ betreiben. Wer es trotz allem hierher schafft, soll dann möglichst bald wieder abgeschoben werden, auch wenn – wie in Afghanistan – im Herkunftsland ein Krieg tobt, der jedes Jahr mehr Zivilist*innen das Leben kostet.

 

Nach dem Sommer der Migration
Der „globale Krieg“ brach nicht nur punktuell in Gestalt der jüngsten Anschläge ins Bewusstsein der Menschen in Europa, weitaus nachhaltiger prägte er das Jahr 2015 auf indirektem Weg durch die Migrationsbewegungen: Millionen von Menschen sahen sich gezwungen ihre Herkunftsländer zu verlassen und einige von ihnen versuchten sich nach Europa durch zu schlagen, in der Hoffnung dort Schutz und die Chance auf ein Leben in Würde zu finden. Es ist kein Zufall, dass unter den Herkunftsländern der Geflüchteten, die letztes Jahr nach Deutschland kamen, Syrien, Afghanistan und Irak ganz vorne rangierten. Alle drei Länder sind Schauplätze des „globalen Krieges gegen den Terror“.
Auf eine geopolitische Analyse der genannten Konflikte soll hier verzichtet werden. Uns scheint es an dieser Stelle wichtiger zu sein, nach den Perspektiven für eine antirassistische Politik zu fragen.
Nachdem das massenhafte Sterben an den EU-Außengrenzen in der Vergangenheit jenseits antirassistischer und linker Kreise nur für wenig Empörung und Protest gesorgt hatte, veränderte sich der herrschende Diskurs in der BRD im Sommer 2015. Viel mehr Refugees als in den letzten Jahren versuchten nach Deutschland zu gelangen und anders als viele von uns erwartet hätten, beteiligten sich tausende Menschen spontan an Begrüßungs- und Hilfsaktionen. So erfreulich dies war, so heuchlerisch war die offizielle Begleitmusik von Merkels „Wir schaffen das“ über den omnipräsenten Neologismus der „Willkommenskultur“ bis zu Gaucks unerträglichem Gewäsch vom „hellen Gesicht Deutschlands“.
Linke Versuche in der Welle der Hilfsbereitschaft antirassistischen Forderungen Nachdruck zu verleihen, entpuppten sich bald als schwierig: Viele wollten helfen, waren aber nicht für ein weitergehendes politisches Handeln zu gewinnen. Helfer*innenkreise und antirassistische Gruppen interagierten nur punktuell, Radikalisierungsprozesse der Helfer*innen angesichts der offensichtlichen Unmenschlichkeiten der deutschen Flüchtlingspolitik blieben lange Zeit die Ausnahme. Ob sich dies nun angesichts der Abschiebeoffensive ändern wird, bleibt abzuwarten, zumindest scheint es in vielen Helfer*innenkreisen zu rumoren.
Auch der andere logisch erscheinende politische Schulterschluss, nämlich der mit Menschen, die als Refugees oder Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland gekommen sind, scheint sich bisher nur partiell einzustellen. Als kollektives politisches Subjekt wurden die Flüchtenden vor allem dort medial sichtbar, wo ihnen auf ihrem Weg die Weiterreise verwehrt wird (Calais, Idomeni usw.). Am Ziel ihrer Reise angekommen, verwandelt sich das politische Agieren oft in Praktiken des Alltagswiderstandes und verschwindet so aus dem medialen Fokus. Auch erschweren der prekäre Aufenthaltsstatus, die Alltagsprobleme in den Erstaufnahmelagern und Gemeinschaftsunterkünften und das deutsche Asylrecht, mit seiner strategischen Spaltung der Geflüchteten in möglichst viele Untergruppen mit unterschiedlichem Status, Prozesse der politischen Selbstermächtigung.
Dennoch gibt es einige ermutigende Beispiele für den Versuch von Migrant*innen und linken Gruppen gemeinsam für elementare (soziale) Rechte zu kämpfen, wie zum Beispiel die Protestcamps und Hungerstreiks von Geflüchteten in der Münchener Innenstadt, die eindrucksvollen Protestmärsche Geflüchteter, das Protestcamp am Oranienburger Platz in Berlin, die antirassistischen Aktionstage gegen das zentrale Abschiebelager in Bamberg im Sommer 2016 und die jüngsten Demonstrationen gegen Abschiebungen nach Afghanistan, sind wichtige Beispiele für gemeinsame Kämpfe von Refugees und einheimischen Aktivist*innen. Allerdings fehlt bei allen diesen Kämpfen die breite gesellschaftliche Solidarisierung, die im Herbst 2015 angesichts der Ankunft von zehntausenden Geflüchteten am Münchener Bahnhof so eindrucksvoll zum Ausdruck kam. Trotzdem: Refugees sind durch ihre Kämpfe in den letzten Jahren auch hier zu einer wichtigen politischen Bewegung geworden, die sich nicht nur an antirassistischen Kämpfen beteiligt.

 

Migration und Klassengesellschaft
Jenseits der politischen Kämpfe, die gemeinsam mit Geflüchteten, Migrant*innen und all jenen geführt werden müssen, die bereit sind sie zu unterstützen, stellt sich die Frage, welche längerfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen sich im Kontext von Migration und Sozialabbau absehen lassen: Auch in Deutschland erscheint eine weitere Unterschichtung der Gesellschaft mit den dazugehörigen Tendenzen der Verelendung wahrscheinlich. Neben Hartz IV-Bezieher*innen, Aufstocker*innen, prekär Beschäftigten und einer rapide zunehmenden Zahl von „Altersarmen“, werden zunehmend Menschen treten, die als „Ausreisepflichtige“ oder „EU-Ausländer“ keinerlei Anspruch auf Sozialleistungen und keine Chance auf einen regulären Job haben. Es drohen Szenarien, wie sie bis vor kurzem z.B. aus Italien bekannt waren, wo hunderte obdachlose Geflüchtete rund um die Bahnhöfe großer Städte auf der Straße schlafen oder in leerstehende Gebäude einziehen, um in regelmäßigen Abständen vertrieben, aber eben nicht untergebracht zu werden.
Die Unterschichtung der Gesellschaft bietet aus Sicht des deutschen Kapitals mit Sicherheit einige Vorzüge. Die Forderung deutscher Arbeitgeberverbände nach ‚Lockerung’ des Mindestlohns für Geflüchtete ist nur ein Beispiel. Die sozialpolitische Kehrseite der Medaille, die um sich greifende Verelendung, ist aus Sicht der kapitalbesitzenden Klasse wenig wünschenswert, da der relative soziale Friede hierzulande eine wesentliche Grundlage der Herrschaft eben dieser Klasse darstellt. Diese Ruhe wird man sich nicht nehmen lassen wollen und so droht auch vor dem Hintergrund von Illegalisierung, Prekarisierung und Sozialabbau eine ähnliche Entwicklung wie jene, die der „globale Krieg“ katalysiert.
Der Ausnahmezustand wird also einen Doppelcharakter annehmen, da die Innenstädte nicht nur eine Front im „globalen Krieg gegen den Terror“, sondern auch im nationalen/lokalen Krieg gegen die „gefährlichen Klassen“ sein werden – den ‚südosteuropäischen Einbrecherbanden‘ zum Beispiel, vor denen Bremens Polizeichef 2016 warnte.
Die Anschläge von Paris, Brüssel, Nizza und Berlin, die Übergriffe der Kölner Silvesternacht und die tägliche rassistische Berichterstattung haben im hegemonialen Diskurs einen spezifischen ‚Tätertypus’ entstehen lassen: der junge muslimische Mann, als potentieller Klein- und Gewaltkrimineller, Vergewaltiger und Terrorist. Hier drohen Kriegsrhetorik, Terrorangst, die Zerschlagung sozialstaatlicher Sicherungssysteme und der wachsende (antimuslimische) Rassismus, eben jene Täter real hervorzubringen, vor denen dann Sonderkommandos und Sondergesetze „Schutz“ versprechen.

 

Die AfD als Krisenprofiteur
Das politische Kapital aus der Zuspitzung der verschiedenen Krisenprozesse schlägt bisher die radikale Rechte: Spätestens mit den Wahlerfolgen der AfD in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Würtemberg im März 2016 sehen wir uns einem gesellschaftlichen Rechtsruck gegenüber, der in den Pegida-Demonstrationen Ende 2014 seinen Anfang genommen hat. Aus der Kleinpartei mit neoliberaler und erzkonservativer Agenda, ist innerhalb eines Jahres eine Partei geworden, die sich als Sammlungsbewegung am rechten Rand des Parteienspektrums zu etablieren scheint und die Rolle des FN in Frankreich oder der FPÖ in Österreich übernehmen könnte. Mit einer Mischung aus völkischem Nationalismus, Islamophobie, Wertkonservatismus und extremem Neoliberalismus kann die AfD sowohl bei den gutbürgerlichen Sozialrassisten punkten, die vor ein paar Jahren Sarazins Publikum bildeten, als auch bei Teilen der Deklassierten und Prekären, beziehungsweise jenen, die dieses Schicksal auf sich zukommen sehen.
So ist es der AfD längst gelungen, weit über das klassisch rechtsradikale Lager hinaus breite Schichten der Bevölkerung unter ihrem Dach zu sammeln und für ihr reaktionäres Projekt zu mobilisieren. Die AfD vereint ein breites gesellschaftliches Spektrum von fundamentalistischen Christen, über konservative Professoren und Publizisten, reaktionäre Teile des Adels, mittelständische Unternehmen und Familienbetriebe, weiße Facharbeiter*innen und Kleingewerbetreibende, bis hin zu prekären Niedriglöhner*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen.
Erstaunlich ist, dass es der AfD trotz ihrer offen neoliberalen Agenda gelingt, sowohl unter Gewerkschaftsmitgliedern als auch in armen Stadtteilen überproportional viele Wähler*innenstimmen zu holen. So hat die AfD in Baden-Württemberg mit einem Anteil von 30 Prozent der Stimmen von Arbeitnehmer*innen die SPD als ‚Arbeiterpartei‘ weit hinter sich gelassen. Die inhaltlich stark neoliberal geprägte Partei schafft es also, sich auch als soziale Alternative zu den etablierten Parteien zu präsentieren und so u.a. das Vakuum zu füllen, das der Niedergang der SPD hinterlassen hat.
Doch die AfD ist nicht nur eine Wahl-, sondern auch eine Bewegungspartei: Mit Pegida, den Demos für Alle, den Tausend-Kreuze-Märschen und den zahlreichen lokalen Ausschreitungen gegen Flüchtlingsunterkünfte, existiert eine vielfältige soziale Bewegung von rechts, die der AfD als Resonanzraum und Mobilisierungspotenzial dient.
Auf dem politischen Parkett gelingt es der AfD erfolgreich mit einer Strategie des kalkulierten Tabubruchs den politischen Diskurs immer weiter nach rechts zu verschieben. Nach jeder krassen Ansage einer AfD-Protagonist*in in den Medien – Schießbefehl an der Grenze, Rehabilitierung des Begriffs „völkisch“, Wende der Erinnerungspolitik um 180 Grad usw. – erfolgt eine partielle Korrektur durch eine andere AfD-Politiker*in, jedoch ohne tatsächliche Distanzierung, um dann wieder gemeinsam das neu eröffnete diskursive Terrain zu besetzen. Einen negativen Einfluss auf die Wählergunst haben die zahlreichen mit der Partei verbundenen politischen Skandale und internen Konflikte bisher nicht: Die AfD scheint eher wegen als trotz ihrer konsequenten Radikalisierung so erfolgreich zu sein.
Die Reaktionen von Seiten der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften und der Partei ‚Die Linke‘ auf diesen gefährlichen Trend schwanken bisher zwischen Hilflosigkeit und Anbiederung an die verlorene Klientel. Anders die CSU: Sie liefert sich in Sachen Flüchtlingspolitik einen Wettstreit mit der AfD um die Enttabuisierung rechtsextremer Positionen. Die Verbreitung rassistischer und nationalistischer Rhetorik im etablierten politischen Diskurs, ist ein weiterer Baustein auf dem Weg zur Normalisierung des „Rechtsrucks“. So bleibt die angebliche „Flüchtlingskrise“ trotz stark sinkender Flüchtlingszahlen immer noch das alles dominierende politische Konfliktthema. Der AfD ist es gelungen, das bisherige politische Parteienspektrum aufzubrechen und die Krise der ehemaligen „Volksparteien“ dramatisch zu verschärfen.
Radikale Linke waren bisher nicht dazu in der Lage, auf diese Entwicklung eine adäquate Antwort zu geben: Klassische Antifa-Strategien im Umgang mit dem neuen Rechtspopulismus, die vor allem auf die Recherche und Skandalisierung von personellen Überschneidungen und Querverbindungen ins offen neonazistische Spektrum setzen, bleiben weitgehend wirkungslos. Kampagnen wie ‚Nationalismus ist keine Alternative‘ und die Mobilisierungen gegen AfD-Parteitage in Stuttgart oder in Werl/NRW entwickeln wenig Ausstrahlungskraft über die radikale Linke hinaus.
Notwendig erscheint uns eine offensive und möglichst breit getragene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der AfD als Motor und wirkmächtigstem Ausdruck des aktuellen rechten Projekts. Um die soziale Selbstbemäntelung der Partei – gemeinsam mit ihrem Nationalismus, Rassismus, Antifeminismus und Antisemitismus – anzugreifen, erscheint es notwendig, die soziale Frage von links wieder in den Fokus unserer Politik zu rücken und mit den Fragen von Migration und „globalem Krieg“ zu koppeln. Angesichts der weiter bestehenden Krise des Kapitalismus und der politischen Repräsentation sowie der reaktionären gesellschaftlichen Tendenzen finden wir es wichtig, überzeugende eigene Inhalte formulieren und konkrete soziale Alternativen entwickeln.

 

Was tun?
Die gegenwärtige Orientierungslosigkeit und Marginalität der radikalen Linken hat zahlreiche Ursachen: Da ist zum einen der sich immer weiter steigernde Verwertungsdruck, der zu wachsendem Stress (z.B. im Studium) und Prekarität führt, so dass vielen schlicht die Zeit fehlt, sich politisch zu engagieren. Zugleich verstärkt der Neoliberalismus die Individualisierung und untergräbt die Bereitschaft zum kollektiven Handeln.
Allerdings ist es nicht nur die neoliberale Subjektivität, die kollektives politisches Handeln marginalisiert, es ist auch die Tendenz in der deutschen radikalen Linken Alltagsprobleme als individuelle Probleme zu begreifen und sich so zwar einen theoretischen Antikapitalismus auf die Fahnen zu schreiben, aber diesen kaum in konkrete Kämpfe gegen die kapitalistischen Zumutungen im hier und jetzt zu übersetzen. Im Gegenteil: Oft werden konkrete (z.B. gewerkschaftliche) Auseinandersetzungen als Ausdruck reformistischer Realpolitik belächelt, die das große Ganze ohnehin nicht ändern könnten – ganz so als ob die faktische Passivität diesen Auseinandersetzungen vorzuziehen sei, da so zumindest die theoretischen Ideale nicht in Mitleidenschaft gezogen würden. Diese Form der Selbstreferenzialität erscheint uns in vielen anderen europäischen Ländern weit weniger verbreitet und eine wesentliche Blockade für eine radikale Linke in der BRD, bei dem Versuch wieder gesellschaftliche Relevanz zu erlangen.
Zuletzt fehlte es uns zudem oft an Resonanzräumen: Entweder die radikale Linke dominierte eigene (meist recht überschaubare) Kampagnen und blieb dann weitgehend unter sich (wie z.B. bei der Mobilisierung gegen den AFD-Parteitag in Stuttgart), oder aber andere politische Kräfte initiierten Kampagnen und die radikale Linke blieb vollkommen unsichtbar (wie z.B. bei den Anti-TTIP/CETA-Protesten). Besonders deutlich wurden die gegenwärtigen Probleme in Sachen Bündnispolitik anlässlich der Proteste gegen den G7 2015 in Garmisch: Das zunächst von relativ radikalen Kräften geprägte Bündnis wurde von Campact gespalten, um Zeitpunkt, Ort und Charakter des Protests eigenständig bestimmen zu können. Radikale Kräfte im Bündnis waren zurecht empört, was aber wenig half, zumal Campact etwa 10 Mal so viele Leute nach München mobilisierte, wie die radikalen Kräfte nach Garmisch. In Zeiten von Profi-Campaigner*innen (nicht selten prekarisierte Genoss*innen) scheinen unsere traditionellen Vorstellungen von Bündnispolitik nicht mehr richtig zu greifen.
Der Mangel an „echter“ – sprich: produktiv-konfliktgeladener – Zusammenarbeit über Spektrengrenzen hinweg wird ergänzt durch das weitgehende Fehlen internationaler Kooperation. Die Versuche internationaler Kampagnen und Mobilisierungen blieben zuletzt von sehr begrenztem Erfolg: Blockupy Frankfurt hat zwar als Event funktioniert, weil v.a. auch mit militanten Aktionsformen ein Zeichen gesetzt wurde, allerdings blieben die beteiligten internationalen Netzwerke sehr überschaubar und somit auch die aus den Ereignissen resultierende Dynamik sehr begrenzt.
Um einen Weg aus unserer derzeit marginalen Position zu finden, halten wir es für zentral die soziale Frage wieder ins Zentrum unseres Handelns zu rücken. Das heißt zum einen die Dinge, die uns direkt und alltäglich betreffen, wieder verstärkt zum Gegenstand unserer Politik zu machen: Gentrifizierung und Verdrängung in unseren Stadtteilen, Prekarisierung, Arbeitshetze und Lohndumping an unseren Arbeitsplätzen oder Maßnahmenterror und Kürzungen auf ALG II, Altersarmut als Zukunftsperspektive für die Bevölkerungsmehrheit usw. Die an all diesen Punkten zu entwickelnden Kämpfe werden nicht in jedem Fall höchsten revolutionären Ansprüchen gerecht werden, sie werden zu ‚lokal‘, zu ‚reformistisch‘ zu sehr geprägt von der minimalistischen Agenda potentieller Bündnispartner wie Gewerkschaften, Mietervereine o.ä. sein. Dennoch tun genau diese Auseinandersetzungen Not, wenn die radikale Linke nicht zum jugendkulturellen Nischenphänomen werden will, das einzig durch seinen – allerdings sehr wichtigen – antifaschistischen Aktivismus politisches Profil gewinnt.
Dabei gilt es bei aller Bündnisfähigkeit und Offenheit gegenüber moderaten Kräften die eigene Radikalität nicht aufzugeben: Eine (post-)autonome Linke als integraler Bestandteil und radikaler Flügel einer breiten sozialen Bewegung – dieses Ideal sollten wir nicht aufgeben, auch wenn es derzeit scheint, als ob uns nicht nur die Stärke, sondern auch die soziale Bewegung insgesamt fehlt.
Die soziale Fragen ins Zentrum rücken heißt aber auch die sich verschärfenden sozialen Widersprüche in jenen Politikfeldern in den Blick zu nehmen, die wir gezwungenermaßen weiterhin beackern werden: Die AfD ist eben nicht nur als rassistisches, nationalistisches und antifeministisches Projekt zu bekämpfen, sondern verstärkt auch als autoritäre Spielart der kapitalistischen Vergesellschaftung. Die Deklassierten unter den Wählern der AfD haben ganz offensichtlich viel reaktionäre Scheiße in ihren Köpfen, doch zwei Facetten ihrer Weltsicht sind nicht gänzlich von der Hand zu weisen: Die soziale Schere geht immer weiter auf und weder die etablierten Parteien noch die Medien oder die zentralen Akteure der Zivilgesellschaft repräsentieren bzw. artikulieren das (ebenso berechtigte wie unreflektierte) Gefühl wachsender Teile der Bevölkerung beschissen zu werden. Dass gerade eine Partei neoliberaler Hardliner zum Artikulationsorgan dieses Gefühls wird, ist eine Absurdität und muss als solche thematisiert werden. Wollen wir die soziale Frage aber zu einem wesentlichen Aspekt unseres Kampfes gegen Rechts machen, stellt sich die Frage, wer hier ein geeigneter Bündnispartner ist: SPD und Grüne mögen gegen den völkischen Rassismus der AfD sein, sozialpolitisch sind sie aber für vieles von dem verantwortlich, woraus die AfD jetzt Kapital schlägt.
Wir müssen versuchen, an neuralgischen Punkten deutlich zu machen, wie
die verschiedenen Formen der Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung verschränkt sind, und dieses Bewusstsein zum Ausgangspunkt eines gemeinsamen Kampfes um soziale Rechte machen: Fortschreitende Gentrifizierung und die Verdrängung der bisherigen Bewohner*innen eines Stadtteils kann z.B. verknüpft werden mit dem Kampf migrantischer Tagelöhner*innen um Wohnraum und dem Kampf von Geflüchteten gegen ein Lagersystem, das jeder Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens diametral entgegensteht. Das Ziel ist ein gemeinsames: Wohnraum für Alle! Wir finden es wichtig, dass sich derlei lokale Kämpfe in eine größere, internationale Bewegung einbinden, sonst bleiben sie punktuell und ohne eine radikale Perspektive.
Genau solche Formen internationaler, spektrenübergreifender Zusammenarbeit wird es brauchen, wenn wir jener Tendenz begegnen wollen, die sich derzeit überall in Europa abzeichnet: ein politisches Feld, das durch die Opposition von elitärem neoliberal-aufgeklärtem Mainstream und erstarkendem pseudo-antielitärem Nationalismus geprägt ist und in dem links des Neoliberalismus ein Vakuum klafft. Die radikale Rechte repräsentiert wachsende Teile der subalternen Klassen: Die einst von Gewerkschaften und linken Parteien mit geschaffene und repräsentierte Klassenidentität ist deren Transformation zu „New Labour“ zum Opfer gefallen und allzu oft durch einen Rückgriff auf nationalistische und rassistische Identifikationsmuster ersetzt worden.
Wir stehen also vor einem Paradox: Während die Krise des globalen Kapitalismus seit 2007 und die offensichtliche Krise der politischen Repräsentation in Europa und den USA, die sich in dem weitgehenden Vakuum links des Neoliberalismus manifestiert, eigentlich ein idealer Ausgangspunkt für linke Bewegungen sein müsste, erscheinen diese zu sehr in Abwehrkämpfen verfangen und von sich überschlagenden Negativentwicklungen desorientiert. Als ersten Schritt hin zu mehr gesellschaftlicher Relevanz sollten wir als radikale Linke unser Auftreten überdenken: Statt Szeneritualen, Verbalradikalismus und jugendkulturell geprägter Selbstdarstellung geht es darum, einen Politikstil entwickeln, der Offenheit für alle Interessierten, Bereitschaft zur Diskussion, aber auch Durchsetzungsfähigkeit signalisiert, wo es uns wichtig ist.
Grundlegend ändern wird sich die Situation allerdings erst, wenn ein europäisches (und globales) linkes Projekt erkennbar wird, das eine konkrete Alternative zum neoliberalen Projekt EU entwirft – und zwar nicht in konstruktivem Dialog um kosmetische Veränderungen, sondern in radikaler Konfrontation. Der Blick zurück auf die Antiglobalisierungsbewegung kann hierbei durchaus sinnvoll sein, nicht um Vergangenes zu glorifizieren, sondern um an die Stärken des letzten transnationalen Bewegungszyklus in Europa, mit seinen Sozialforen und Gipfelprotesten anzuknüpfen und dabei die alten Fehler nicht zu wiederholen.

 

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