77 Quadratmeter, 6. April

Erstveröffentlicht: 
19.05.2017

NSU-Tribunal In Köln spricht die Gruppe „Forensic Architecture“ über den neunten NSU-Mord und präsentiert die Ergebnisse ihrer Rekonstruktion. In München dürfen sie nicht vortragen

 

Vielleicht entspricht es der Logik der Sache. Eyal Weizman, Leiter des am Londoner Goldsmith College beheimateten Instituts Forensic Architecture, durfte, anders als es die Nebenklage ursprünglich wollte, diese Woche doch nicht beim Münchener Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des rechtsterroristischen NSU, der zwischen September 2000 und April 2007 zehn Menschen ermordet hat, aussagen. Präsentiert hätte er eine aufwendige Rekonstruktion von nur wenigen Minuten und 77 Quadratmetern.


77 Quadratmeter: Das ist die Fläche des Internetcafés der Familie Yozgat in der Holländischen Straße im Kasseler Norden. Hier wurde am 6. April 2006 Halit Yozgat zum neunten Opfer der Mordserie, die man den beiden Jenenser Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zuschreibt. Hier saß aber auch, genau zur Tatzeit, der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme, und surfte auf dem Dating-Portal ilove.de. Dass das kein Zufall sein kann, davon ist die Familie des Opfers überzeugt. „Der Verfassungsschützer der Regierung hat entweder meinen Sohn erschossen oder seine Mörder gesehen“, sagte der Vater des Opfers, Ismail Yozgat am 10. Jahrestag des Mordes an seinem einzigen Sohn.


Beides bestreitet Temme. Er bestreitet auch, dass er den Körper des am Boden liegenden Halit Yozgat gesehen habe, als er das Internetcafé verließ. Dabei hatte er 50 Cent, die Kosten für die Nutzung des Computers, auf den Bezahltresen gelegt. Dahinter, auf dem Boden lag Yozgat derweil im Sterben. 

 

Vieles lässt nicht an Zufall glauben


Das ganze wäre schon so extrem unglaubwürdig, bedenkt man, dass Temme über einen Meter neunzig groß ist und daher gut hätte sehen müssen, was sich hinter dem Kassentisch abspielte. Dass beim Verfassungschützer Temme, der unter anderem den rechtsradikalen V-Mann Benjamin Gärtner – Deckname: Gemüse – führte, während einer Hausdurchsuchung neben Waffen auch rechtsradikales Propagandamaterial gefunden wurde, lässt an einem Zufall mehr als zweifeln. Temme hat mehrfach ausgesagt, er sei ganz privat in dem Internetcafé in der Kasseler Nordstadt gewesen. Dass er weder die Schüsse, die Halit Yozgats gewaltsam aus dem Leben rissen, gehört noch den Körper oder das Blut auf dem Kassentisch bemerkt habe, sagt er.

 

Zur Überprüfung dieser Aussage wurden die Minuten vor und nach der Tat rekonstruiert und ein Video angefertigt. Es zeigt, wie Temme von seinem Platz am Rechner weggeht, die Münze auf den Tisch legt, das Café verlässt und schließlich in sein auf der Straße geparktes Auto steigt. Diese Minuten sind es, die sich Forensic Architecture vorgenommen haben, um sie auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Die Anwesenheit des Verfassungsschützers zur Zeit des Mordes sei immer der Elefant im Raum gewesen, wenn es um den Kasseler Fall ging, sagt Fritz Weber, Mitglied der Initiative 6. April. Mitte letzten Jahres habe man deshalb die Londoner Experten gebeten, dabei zu helfen, eines der dunkelsten Geheimnisse des NSU-Verfahrens zu lüften. Die sagten sofort zu, sehen sie es doch als ihre Aufgabe, dort die Wahrheit ans Licht zu bringen – beziehungsweise, der Etymologie von „Forensis“ entsprechend, die Wahrheit auf das Forum zu tragen – wo staatliche Autoritäten dies fahrlässig oder gewollt verhindern.

 

Fünf bis sechs Mitarbeiter von Forensic Architecture haben im letzten halben Jahr an diesem Fall gearbeitet, in den Staat, Mörder und Opfer verwickelt sind. Wobei möglich ist, dass zwei dieser drei Beteiligten ein und derselbe Akteur sind, wie Weizmann gestern auf der Kölner Veranstaltung „Tribunal NSU-Komplex Auflösen“ sagte. Aufwendige Computersimulationen wurden erstellt. Weil das jedoch nicht genug war, baute man in den Räumen des Berliner Haus der Kulturen der Welt das gesamte Internetcafé in originalgetreuem Maßstab nach. Maß die Zeit, die Temme von seinem Rechner zur Tür gebraucht hat. Überprüfte, ob sein Blick auf Halit Yozgat hätte fallen müssen, als er bezahlte. Simulierte die Pistolenschüsse, um die Behauptung, dass Temme sie gehört haben müsse, zu untermauern. Simulierte auch die Rauchentwicklung, um zu beweisen, dass Temme die Schüsse auch hätte riechen müssen. Forensic Architecture sind überzeugt, dass der Verfassungsschützer lügt, wenn er behauptet, vom Mord nichts mitbekommen zu haben. 

 

Erkenntnisse werden vor Gericht nicht gehört


Es wäre wichtig gewesen, das Weizmann diese Überzeugung auch vor Gericht hätte vertreten können, sagt Daniel Poštrak von der Kölner Initiative Keupstraße ist überall. Auch weil Yozgats Vater angekündigt hat, ein Urteil des Gerichts nicht anzuerkennen, sollte die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Ermordung seines Sohnes nicht geklärt werden. Formale Gründe sind es, die verhindern, das Weizmann gehört wird. Angeblich hätten Forensic Architecture unzulässige Akteneinsicht gehabt, während sie an der Rekonstruktion des Geschehens arbeiteten, berichtete die Frankfurter Rundschau diese Woche.

 

Vielleicht brauchen aber Methoden, wie sie Forensic Architecture anwenden, auch andere, neuartige Foren, mutmaßte Weizmann gestern. Foren wie jenes, das das Kölner Tribunal den Opfern des rechten Terrors, der Aufklärung seiner Verbrechen und der Thematisierung der skandalösen Verstrickungen staatlicher Stellen in den NSU-Komplex bieten will.