Seit dem 15. Februar dieses Jahres sind Inhaftierte aus der kurdischen Bewegung in türkischen Gefängnissen im Hungerstreik. Aktuell sind es weit mehr als 200, die gegen die Haftbedingungen und rechtliche Diskriminierung mit dem eigenen Körper ankämpfen. Zum Teil seit 60 Tagen. Die Situation spitzt sich vor dem Erdogan-Referendum extrem zu. Einige Gefangene stehen am Rande des Todes.
Von Oliver Rast
Drangsalierungen und Repressalien im Haftalltag
Die desolate Haftsituation in den völlig überfüllten Knastanlagen in der von Erdogans AKP regierten Türkei löste die Protestwelle hinter Gittern aus. Drangsalierungen und Repressalien gehören für Zehntausendee Eingesperrte zum Knastalltag.
Für kurdische Gefangene aus der Autonomie-Bewegung herrscht ein strenges Regime. Treffen mit Familienangehörigen und Rechtsanwälten werden seitens der Anstaltsleitungen massiv eingeschränkt. Die Zusammenkünfte finden unter Aufsicht und per Kameraüberwachung statt.
Umschluss- und Aufschlusszeiten untereinander wurden zusammengestrichen. Lebensnotwendige Vitaminpräparate werden den Hungerstreikenden durch das Gefängnispersonal verweigert. Irreversible Gesundheitsschäden werden für einige der Inhaftierten die Konsequenz sein.
Die Gefangenen aus der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kämpfen des Weiteren für die Schließung der Knast-Insel Imrali, auf der der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan seit über zwei Jahrzehnten in Einzelhaft gefangenen gehalten wird.
Hungerstreikfront wächst
An dem unbefristeten Hungerstreik, den die Gefangenen auf Haftanstalten im ganzen Land ausgeweitet haben, beteiligen sich gewählte Parlamentsabgeordnete, kommunale Bürgermeister und Stadträte, aber auch einfache Mitglieder kurdischer Parteien wie der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas verweigert seit Ende März die Nahrungsaufnahme.
Mittlerweile haben sich rund 100 Gefangene, darunter zahlreiche Frauen, aus der PKK dem Hungerstreik angeschlossen. Täglich werden es mehr.
Aktivist*innen aus Solidaritätskreisen erklären, warum ein Hungerstreik ein Kampfmittel politischer Gefangener ist: „Wir verstehen Hungerstreik als ein Mittel der Selbstermächtigung. Es ist ein Mittel, das einem Aufschrei gleich kommt, wenn dir jede andere Möglichkeit der Handlung genommen wurde. Ein Hungerstreik stellt die konsequenteste Form des Widerstandes und Willens im Knast dar."
Europaweit versuchen liberale und linke Initiativen und Organisationen durch Petitionen und Kundgebungen auf die Situation der über Hunderttausend Gefangenen in der Türkei vor dem Verfassungsreferendum am 15. April aufmerksam zu machen.
Das Schweigen bricht nur langsam
Das Schweigen bricht. Aber nur langsam. Zu langsam. Nach 2 Monaten Hungerstreik-Kampf melden sich in Deutschland die ersten großen Medien zu Wort. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) zum Beispiel. Ein breiter öffentlicher medialer Druck fehlt allerdings bislang.
Einige der Inhaftierten werden den Hungerstreik bis zur Erfüllung der Aufhebung der schikanösen Haftbedingungen fortsetzen. Ein solches Todesfasten wird Folgen haben. Wenn es tote Gefangene geben sollte, werden Aktivist*innen aus der kurdischen Befreiungsbewegung reagieren.
Mit friedlichen Straßenprotesten, mit nächtlichen militanten Aktionen und mit bewaffneten Anschlägen. Eine weitere Eskalation steht bevor. Erdogan setzt auf eine Strategie der Spannung, um sich endgültig als „starker Mann" zu positionieren. Sein Autokratismus scheint etabliert.
Der Appell kurdischer Hungerstreik-Unterstützer*innen in Deutschland könnte kaum dramatischer ausfallen: "Dieses Regime führt derzeit einen grenzenlosen Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Bevölkerung und alle demokratischen Kräfte [...] Unsere Verantwortung ist es, diesen Widerstand mit all unseren Kräften zu unterstützen."