Die jüngsten Überlebenden des Holocaust sind heute 72 Jahre alt. Wenn sie sterben, stehen Museumspädagogen vor einer Herausforderung.
Der ältere Herr, der dort im Kreis sitzt, ist ein Kavalier der alten Schule. Das graue Haar akkurat nach hinten gekämmt, der Schnurrbart gestutzt, eine Fliege dort, wo heute fast alle Krawatte tragen. „Gut, dass ihr hier seid“, sagt er, noch bevor er seinen Namen nennt. „Denn wir sind die Letzten, die von diesen Gräueln erzählen können.“
Leon Weintraub, 91 Jahre, wird heute jungen Journalisten von seinen Erinnerungen an den Holocaust erzählen. Vom Ghetto in Łódź, der Deportation nach Auschwitz, wie er über andere Lager schließlich in Offenburg landete und nach dem Krieg Kinderarzt wurde.
Weintraub ist ein geübter Erzähler. Mehrmals im Jahr spricht er vor Schulklassen, Auszubildenden, Reisegruppen. Wirklich verstehen, was ihm passiert ist – das ist kaum möglich. Aber das, was Weintraub vermittelt, ist so stark, dass die Menschen begreifen, wie wichtig das Gedenken ist. Umso dringlicher wird die Frage: Wie funktioniert Gedenken ohne Zeitzeugen? Ohne Überlebende, die authentisch von ihren Erfahrungen berichten können?
Noch sind viele Träger der Erinnerung am Leben. Allein in Osteuropa hat das Maximilian-Kolbe-Werk, ein Hilfswerk für Holocaust-Überlebende, Kontakt zu mehreren Tausend Menschen. Fakt ist aber auch: 72 Jahre nach Kriegsende ist der jüngste Überlebende 72 Jahre alt.
Für Historiker sind diese Überlebenden eine Quelle unter vielen – Quellenkritik eingeschlossen. Für die Öffentlichkeit birgt die Figur des Zeitzeugen allerdings ein Versprechen: Durch unmittelbares Erleben könne man sich die Geschichte aneignen, endlich verstehen. Und die Begegnung bietet die Möglichkeit der Identifikation mit den Opfern von Gewalt. Zeitzeugenschaft ist immer auch mit diesem Opferstatus verbunden.
Gesellschaft auf der Suche nach Authentizität
Dabei wurde die mediale Figur des Zeitzeugen vergleichsweise spät geboren. Der Prozess von Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem war es, der rund 100 Überlebende in das Licht der Öffentlichkeit katapultierte. Bis heute sind Zeitzeugen beliebte Figuren in einer Gesellschaft auf der Suche nach Authentizität.
Andrzej Kacorzyks Büro liegt in einem der Backstein-Häuser des Stammlagers Auschwitz. Er sitzt am Tischende des Besprechungsraums, aus dem Fenster kann man das ehemalige Krematorium erkennen. Kacorzyk ist stellvertretender Leiter der Gedenkstätte. Für ihn sind die Zeitzeugen der Schlüssel zu einer lebendigen Gedenkkultur.
„Die Überlebenden sind unsere Kraft, die Fundamente unserer Arbeit.“ Seit seinem ersten Tag habe er es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Erinnerungen zu konservieren. Dank Kacorzyks Arbeit und der seiner Kollegen liegen heute über 3.000 Berichte von Zeitzeugen im Archiv von Auschwitz. Praktisch jede Gedenkstätte sammelt solche Berichte von Überlebenden. Schriftlich, auf Tonband oder als Video. Aber ist es das Gleiche, einen Film zu schauen und einen Überlebenden zu treffen?
„Natürlich nicht“, sagt Kacorzyk. „Aber wir müssen uns eben darauf vorbereiten.“ Für Kacorzyk geht mit den Überlebenden ein wichtiger Baustein der Erinnerungsarbeit verloren. Dennoch gibt er sich pragmatisch.Retrodebatte über konservierte Erinnerungen
Und in Deutschland? Welche Rolle spielen die Überlebenden in der Museums- und Bildungsarbeit? Anruf bei Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen. „Das ist eine Retrodebatte“, sagt er. „Zeitzeugengespräche spielen in der Gedenkstättenpraxis altersbedingt schon heute kaum noch eine Rolle.“ Die Erinnerungen von Überlebenden seien vielfach konserviert.
Wagner sieht sich und seine Kollegen gut vorbereitet, wenn der Staffelstab der Erinnerung gänzlich von den Überlebenden auf Museumspädagogen und Historiker übergeht. Zwei Millionen Menschen besuchten allein im Jahr 2016 die Gedenkstätten in Auschwitz. Der größte Teil von ihnen wird so oder so keinen Überlebenden persönlich treffen. Umso wichtiger sind umfassende Dokumentationen ihrer Lebensgeschichten. Nicht nur in Auschwitz, sondern überall – für Unterricht, Museen, Medien.
Eine Sorge hat Wagner aber. Bei aller Gefahr der Instrumentalisierung genießen Überlebende des Holocaust in der Öffentlichkeit eine hohe moralische Legitimität. Wenn der thüringische AfD-Vorsitzende von einer erinnerungspolitischen 180-Grad-Wende spricht, dann sagt Leon Weintraub Sätze wie: „Das Vergessen wäre ein Schlag ins Gesicht der Holocaust-Überlebenden.“ So einen Satz kann keine Geschichtswissenschaftlerin, kein Lehrer mit der gleichen Wirkung sagen.
Das gilt nicht nur für das aktuelle Zeitgeschehen, sondern auch wenn es zum Beispiel um die Weiterfinanzierung von Gedenkstätten geht. Wer tritt in 15 Jahren authentisch für die Erhaltung eines Mahnmals ein? „Es gibt keine Ersatzüberlebenden“, sagt auch Wagner. „Die einzige Lösung ist, dass wir als Gesellschaft dafür sorgen, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht aufhört.“
Und wie sieht das Leon Weintraub? Er richtet die Frage an die Nachgeborenen: „Was macht ihr mit der Geschichte, wenn wir nicht mehr da sind?“