Für wenige Sekunden zeigt Le Pen ihr wahres Gesicht

Erstveröffentlicht: 
11.04.2017

Ihr Vater nannte Auschwitz ein „Detail der Geschichte“. Marine Le Pen versucht seit Jahren, den Front National davon rein zu waschen. Doch nun bringt sie sich mit einer Aussage wohl ums Präsidentenamt.

 

Zwei Wochen vor dem ersten Wahlgang hat die Rechtspopulistin Marine Le Pen die Masken fallen lassen: „Frankreich ist nicht verantwortlich für das Vel d’Hiv“, sagte die Präsidentschaftskandidatin des Front National in einem Fernsehinterview.

Mit der Abkürzung „Vel d’Hiv“ wird in Frankreich die Deportation der französischen Juden 1942 bezeichnet, die Razzia des Wintervelodroms: Mehr als 13.000 jüdische Mitbürger hatte die französische Polizei Mitte Juli 1942 festgenommen, über Tage in der Radsporthalle gefangen gehalten und dann zur Deportation den deutschen Besatzern übergeben.

Jahrzehntelang war dieses düstere Kapitel der französischen Geschichte tabu. Erst Staatspräsident Jacques Chirac hatte 1995 den Mut, die Mitschuld Frankreichs an der Deportation der französischen Juden anzuerkennen. Seither haben sich alle Staatspräsidenten dieser Lesart angeschlossen.
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Le Pens Position ist 75 Jahre nach den Ereignissen erschütternd, aber für ihre Gegner und für alle, die die Europäische Union nicht zerstört sehen wollen, ist das eine gute Nachricht: Mit dieser Geschichtsklitterung wird Le Pen ihre Kernwählerschaft unmöglich erweitern können. Das müsste sie aber, wenn sie in der Stichwahl am 7. Mai siegen will.

„Marine Le Pen schien vor wenigen Wochen ihren Platz in der Stichwahl sicher zu haben. Inzwischen ist nicht auszuschließen, dass sie sich nicht für die zweite Runde qualifiziert“, sagt Jérôme Fourquet, Direktor des Meinungsforschungsinstitut Ifop im Gespräch mit der „Welt“.

Le Pen sei zur Zeit in einer für sie schlechten Dynamik: „Ihre Affären sind eine Art Grundrauschen, das ihr letztlich schadet. Hinzu kommt ihr nicht besonders überzeugender Auftritt bei den Fernsehdebatten, die Ausschreitungen beim Wahlkampftreffen auf Korsika, ihre Äußerung über die Deportation der Juden. Gepaart mit dem überraschenden Erfolg des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon kann sie das zusammengenommen ihren Platz in der Stichwahl kosten.“

Das könnte das Scheitern bedeuten

Die Sequenz in der fast einstündigen Fernseh- und Radiosendung dauerte nur wenige Sekunden, aber sie dürften genügen, um Le Pens Scheitern bei den Wahlen zu besiegeln. Denn grober Antisemitismus, wie ihn Parteigründer Jean-Marie Le Pen jahrzehntelang ausgestellt hat, ist in Frankreich nicht mehrheitsfähig.

Als hätte Marine Le Pen das in einem kurzen Augenblick des Kontrollverlusts vergessen, hat sie mit zwei kurzen Sätzen ihre eigene, jahrelange Arbeit der „dédiabolisation“, der Entdiabolisierung des Front National zunichte gemacht und sich als die erwiesen, die sie im Innersten ist: als Tochter und ideologische Erbin des Mannes, der Auschwitz gern „als Detail der Geschichte“ bezeichnet hat und sich wiederholt vor Gericht als Holocaustleugner verantworten musste.

Seit seine Tochter Marine den Parteivorsitz 2012 übernommen hat, bemühte sie sich gezielt, die Partei vom Antisemitismus des Vaters zu befreien. Aus einem politischen Familienunternehmen des rechtsextremen Randes, sollte eine große, mehrheitsfähige Partei werden.

Denn anders als er, der lustvolle Provokateur, wollte sie die Macht. Sie wollte sie so sehr, dass sie mit dem Vater brechen und ihn schließlich aus der Partei ausschließen musste. Jetzt hat Parteichefin Le Pen bewiesen, dass die fremdenfeindliche, im Kern antisemitische Ideologie des FN dieselbe geblieben ist. Sie hat sie nur besser zu verpacken gewusst.

Nachdem wichtige Punkte wie der Austritt aus der EU und die „sofortige Abschaffung von Schengen“ in der Fernsehsendung „Le Grand Jury“ besprochen waren, wendete sich der Moderator Punkt 97 von Le Pens insgesamt 144 Versprechungen zu, der „Verstärkung der Einheit der Nation durch die Promotion einer nationalen Erzählung und Verweigerung der Bußfertigkeit des Staates, die spaltet“, wie es im Wahlprogramm heißt.

Le Pen erklärt Frankreichs Unschuld

„Hat Jacques Chirac mit seiner Rede zum Vel d’Hiv einen Fehler gemacht“, fragt der Moderator die Kandidatin? Daraufhin erklärt Le Pen Frankreichs Unschuld und schwärmt von einem Land, in dem man Kindern nicht mehr Selbstkritik einbläue, sondern Stolz auf die Nation: „Verantwortlich ist nur, wer damals an der Macht war. Nicht Frankreich!“

Le Pens Satz löste zum Teil auch zynische Reaktionen in den sozialen Netzwerken aus. „Papa, der Mann des Details, wird zufrieden sein“, schrieb die grüne Senatorin Esther Benbassa auf Twitter. Der Historiker und Holocaust-Spezialist Henry Rousso ergänzte spöttisch: „Ist Frankreich verantwortlich für Marine Le Pen?“

Emmanuel Macron, Kandidat der Bewegung „En Marche“ und nach den Umfragen zu urteilen stärkster Konkurrent Le Pens, kommentierte: „Einige hatten vergessen, dass sie die Tochter ihres Vaters ist.“

Auch Macron hatte mit Bemerkungen zu Frankreichs Schuld bei der Kolonisation Algeriens eine heftige Debatte ausgelöst. „Die Kolonialpolitik ist ein Thema, mit dem sie bei ihren Wählern viel einfacher hätte punkten können“, schätzt Ifop-Chef Fourquet. „Das war nicht professionell und unkontrolliert. Andererseits hat sie gesagt, was sie denkt“.

Es ist rational nicht nachzuvollziehen, warum Le Pen zwei Wochen vor dem ersten Wahlgang, da sie immer noch die Umfragen anführt, einen derart offensichtlichen Fehler in ihrer Logik begehen konnte.

Möglicherweise hat sie Berater, die ihr weismachen wollen, dass auch US-Präsident Donald Trump die Wahlen gewonnen hat, obwohl oder gerade weil seine Provokationen immer gröber wurden.

Kurzer Kontrollverlust, langfristige Folgen

Plausibler ist, dass Marine Le Pen nach monatelangem Wahlkampf und Nonstop-Interviews und Fernsehdebatten, für wenige Sekunden die Kontrolle verloren und in ihr wahres Gesicht gezeigt hat.

Als eingefleischter Rechtsideologe hat Robert Ménard, Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Béziers mit Unterstützung des FN, das Argument umgekehrt und behauptet, die „Linke und die Medien“ hätten „Vichy aus dem Keller“ geholt: „Die Deportierten dienen ihnen mal wieder als elektoraler Fußabtreter“, schrieb Ménard auf Twitter.

Angesichts der mehrheitlichen Empörung über ihre Äußerung, veröffentlichte Le Pen eine Pressemitteilung. Sie zog sich hinter Charles de Gaulles und François Mitterrand zurück, die wie sie der Auffassung gewesen seien, dass „Frankreich und die Republik während der Besatzungszeit in London und das Regime von Vichy nicht Frankreich war“.

Eine Generation später versucht sie sich hinter dieser gaullistischen Sichtweise zu verstecken, unterschlägt aber, dass sowohl de Gaulle als auch Mitterrand Akteure der Geschichte waren, die selbst zu sehr in die Ereignisse verstrickt waren.

Chiracs Verdienst war es, als erster die Verantwortung nicht nur bei einzelnen Franzosen und Kollaborateuren gesucht zu haben. „Bei diesem kriminellen Wahnsinn sind dem Besatzer Franzosen, ja der französische Staat zur Hand gegangen“, sagte Chirac bei seiner historischen Rede 1995.

Staatspräsident François Hollande ging bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Deportation noch weiter und sagte: „Die Wahrheit ist, dass das Verbrechen in Frankreich von Frankreich begangen wurde. Kein deutscher Soldat, nicht ein einziger, wurde dabei eingesetzt.“