Entschädigung für Polizeigewalt in Genua 2001 Ein zerstörtes Leben, macht 45.000 Euro

Erstveröffentlicht: 
08.04.2017

Italienische Polizisten verprügelten 2001 in Genua Aktivisten, teils bis zur Invalidität. 16 Jahre später bietet der Staat Entschädigungen - und will endlich ein Folterverbot ins Strafrecht schreiben.

 

Sie schlugen zu "wie unter Drogen", sagte ein 21-jähriger deutscher Zivildienstleistender über das "Blutbad von Genua". Einheiten der italienischen Polizei stürmten ein Schulgebäude, in dem junge Menschen aus ganz Europa sich gerade zur Nacht betteten: Rippen, Arme, Beine brachen, Kiefer splitterten, Köpfe platzten auf. 93 Männer und Frauen wurden abtransportiert, 62 im Krankenwagen, die anderen wurden in Kasernen verschleppt. Wo sie mit vielen andernorts Verhafteten weiter gequält und geprügelt wurden. Die Polizisten sangen dazu im Takt: "Uno, due, tre - viva Pinochet". Draußen, auf der Straße, starb ein junger Mann durch eine Polizeikugel.

 

So endete 2001 ein Sommerwochenende, das eine große Polit-Show werden sollte. Die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden westlichen Industrieländer und Russlands trafen sich damals vom 20. bis 22. Juli in Genua. Silvio Berlusconi, damaliger Regierungschef in Rom, hatte die ganze Innenstadt prächtig schmücken lassen. An Hunderten von Zitrusbäumchen baumelten eigens angebrachte Orangen und Zitronen.

 

Angereist waren allerdings auch etwa 300.000 Menschen, um gegen die "Großen Acht" und gegen die Globalisierung zu demonstrieren. Die Staatsmacht war mit mehr als 15.000 Soldaten und Polizisten präsent. Krawalle wie kurz zuvor beim EU-Gipfel im schwedischen Göteborg sollte es in Genua nicht geben.

 

Die Sache ging gründlich daneben. Tagsüber lieferten sich gewalttätige Demonstranten Straßenschlachten mit den Uniformierten. Nachts rächte sich die Staatsmacht mit brutalen Exzessen, an allen, die sie kriegen konnte. In Genua seien "die Menschenrechte in einem Ausmaß verletzt worden", resümierte die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International nach einer Befragung von Zeugen aus 15 Ländern, wie man es "in der jüngeren Geschichte Europas nicht mehr erlebt" habe. Die Arbeit der Staatsanwaltschaft stützte später diesen Befund.

 

16 Jahre später...


Jetzt, nach 16 Jahren, beginnt Italien mit den politischen Aufräumarbeiten. Die römische Regierung hat sich in sechs von 65 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anhängigen Verfahren in dieser Woche mit den Klägern einvernehmlich geeinigt:

  • die Kläger bekommen für die moralischen und materiellen Schäden, die sie in Genua erlitten haben und für die Kosten der Gerichtsverfahren jeweils 45.000 Euro;
  • Folter und andere Misshandlungen, die gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen, sollen gesetzlich verboten und mit hohen Strafen bedroht werden;
  • die "Ordnungskräfte" sollen durch Schulungen lernen, die Menschenrechte zu respektieren.

Viele Prozesse, wenig Gerechtigkeit


Die juristische Aufarbeitung der Vorfälle hatte schnell begonnen und sich doch bald in der italienischen Justiz verloren. Manche Gerichte verurteilten einige überführte Gewalttäter, andere Instanzen sprachen sie wieder frei. Viele Anklagen erledigten sich durch Verjährung. Und wurden doch einmal Staatsbedienstete rechtskräftig verurteilt, erließ ihnen der gleichen Richter die Strafe meist sofort nach ihrer Verkündung.

 

Gerichtlich angeordnete Entschädigungen hat es durchaus gegeben, wenn auch da nur in Einzelfällen. Die bislang höchste Summe wurde im Oktober vorigen Jahres der deutschen, zur Tatzeit 22-jährigen Tanja W. zugesprochen: 40.000 Euro für den Schmerz, die Angst und die Verletzungen, die sie durch "Folter" erlitten hatte, 80.000 Euro für die zwei Albtraum-Tage im Gefängnis und 55.418 Euro, weil sie seither Teil-Invalidin ist, rechnete das Zivilgericht in Genua akribisch vor, zusammen mithin 175.418 Euro.

 

Die Verantwortlichen der schweren Straftaten an der jungen Frau wurden freilich nie zur Rechenschaft gezogen. Das scheiterte in diesem, wie in den meisten Fällen daran, dass deren Gewalttaten von den Richtern zwar explizit als "Folter" eingestuft wurden, diese im italienischen Strafgesetzbuch aber nicht ausdrücklich benannt und nicht, wie Juristen sagen, "strafbewehrt" ist.

 

28 Jahre: Warten aufs Gesetz


Das sollte sich schon längst ändern. Viele Initiativen hat es gegeben, die Einhaltung der Menschenrechte, wie überall sonst in Mitteleuropa, auch in Italien strafrechtlich abzusichern. Bislang hat es nicht geklappt. Auch derzeit schieben sich die erste und die zweite Kammer des Parlaments einen Gesetzentwurf, der vor zwei Jahren eingebracht wurde, immer schön hin und her. Alle sind dafür, natürlich. Doch wenn die eine Kammer den Text endlich verabschiedet hat, muss die zweite Kammer noch unbedingt einen Halbsatz ändern, ehe sie ihm mehrheitlich zustimmt. Damit muss das Gesetzeswerk freilich noch einmal zur Abstimmung in die andere Kammer zurück und die findet nun einen ganz neuen Punkt, den es ändern muss, ehe sie zustimmen kann und so geht es ewig weiter, wenn man das will.

 

Und manche wollen es gewiss, auch im Parlament. Sie sehen es wie der damalige Chef der Polizeigewerkschaft, Gianni Tonell, der nach den schlagenden Auftritten seiner Kollegen in Genua, die zwar "nicht so toll" fand, aber keinen Grund sah, "von Folter zu sprechen". Und die Forderungen nach einem Folterverbot im Strafrecht seien doch sowieso nur "ideologische Bekundungen gegen die Ordnungskräfte". Und gegen den Staat womöglich.

 

Schließlich war Vizepremier Gianfranco Fini von der postfaschistischen Alleanza Nazionale seinerzeit selbst im Lagezentrum der Polizei. Und Regierungschef Silvio Berlusconi hatte sogleich unmissverständlich erklärt: "Ich stehe zur Polizei." Drei hohe Offiziere der Genua-Einsatzleitung wurden in andere, gleichrangige Jobs versetzt. Damit wollte die Regierung das Kapitel eigentlich abschließen.

 

Und das ist ihr ja auch ganz gut gelungen. Jetzt freilich könnte es ernster werden. Bislang gingen die Verfahren über die staatlichen Schläger von Genua nämlich weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit ihren langsamen, frustrierenden Gang. Nun aber droht erhöhtes internationales Interesse. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat klargemacht, dass er das Thema "Folterverbot" jedes Mal groß fahren wird, wenn eines der vielen noch laufenden Verfahren zum Abschluss kommen soll. Und Italiens Regierung hat ja nun in dieser Woche zugesagt, das Strafrecht entsprechend zu ändern.

 

Für viele der Betroffenen ist das wichtiger als die Entschädigung. Deshalb haben nur sechs der 65 Kläger den Vergleich von Straßburg akzeptiert. Manchen ist es zu wenig Geld gewesen. Aber die anderen wollen erst den neuen Paragrafen im Gesetz lesen, ehe sie einen Vergleich akzeptieren und Rom aus der Schuld entlassen.