Wie sich Schüler in Nazi-WhatsApp-Gruppen radikalisieren

Erstveröffentlicht: 
07.02.2017

In München wurde eine Gruppe gesprengt, in der sich über hundert Jugendliche aus ganz Deutschland gegenseitig aufgeputscht hatten.

 

Es ist ein Albtraum, den die Eltern auf dem Handy ihres 14-jährigen Sohnes entdecken: eine WhatsApp-Gruppe namens "Arische Bruderschaft", randvoll mit Nazi-Symbolik, Judenwitzen und Volksverhetzung. Und das Schlimmste: Ihr Sohn ist ein aktiver Teilnehmer in dem Chat, auch er hat sich bereits strafbar gemacht.

 

Nachdem die Münchner Eltern die Dimension des Problems verstanden haben, tun sie das Richtige: Sie reden mit ihrem Sohn. Sie besuchen eine KZ-Gedenkstätte mit ihm und stecken ihn in eine neue Schule. Und: Sie informieren die Polizei über die Existenz der Gruppe.

 

Die Polizei macht sich an die Arbeit und findet heraus: Die Gruppe "Arische Bruderschaft", die ursprünglich mal "Schwarzer Humor", dann auch mal "Schwarzer Tumor" hieß, ist viel größer als eine normale Schüler- oder Klassen-WhatsApp-Gruppe. 179 Teilnehmer hat die Polizei gezählt, die sich in ganz Deutschland und im Ausland verteilen. Die meisten von ihnen sind im Schulalter oder junge Erwachsene, erklärt Florian Weinzierl, der Sprecher der Staatsanwaltschaft München I. Noch sind längst nicht alle 179 Teilnehmer des Chats identifiziert. 

 

Durch bloße Anwesenheit in einem solchen Chat macht man sich zwar nicht strafbar. Allerdings posteten die Mitglieder dieses Chats teilweise bis zu tausendmal täglich – und immer wieder waren strafbare Aussagen dabei. Allein im Raum München ermittelt die Staatsanwaltschaft bereits gegen etwa 20 Teilnehmer, größtenteils wegen des "Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" – das können Bilder von Hakenkreuz-Fahnen und SS-Runen, aber auch Grüße wie "Heil Hitler" oder "Sieg Heil" sein. Auch Judenwitze und Verherrlichung der SS waren in "Arische Bruderschaft" beliebt, berichtet die Süddeutsche.

 

An sich sind solche Aussagen in WhatsApp-Gruppen für die Staatsanwaltschaft nichts Ungewöhnliches. "Das ist nicht das erste Mal, dass wir solche Chats entdecken", erklärt Weinzierl. "Sei es, weil Teilnehmer das zur Anzeige bringen, sei es, weil wir sowas auf beschlagnahmten Handys finden." Dabei handelt es sich nicht immer nur um die Handys bekannter Neonazis. Im Fall des Schüler-Massenchats gibt es zum Beispiel laut Weinzierl "bis jetzt keine Anhaltspunkte, dass da bekannte Rechtsradikale dabei sind".

 

Aber auch in den WhatsApp-Gruppen von Schülern kann es vorkommen, dass die Jugendlichen sich ohne gezielte Einflussnahme gegenseitig zu immer radikaleren Aussagen anstacheln. Berühmt ist der Fall einer Schulklasse in einem Gymnasium in Landsberg bei Halle vor zwei Jahren. Damals flog auf, dass eine Gruppe Schüler regelmäßig Nazi-Parolen, NPD-Sprüche und sogar Hitlergruß-Selfies in eine WhatsApp-Gruppe gepostet hatte, in der alle 29 Schüler der Klasse waren. Die Polizei nahm Ermittlungen auf, internationale Zeitungen berichteten damals über die "Nazi-Klasse".

 

Der Münchner Fall hat allerdings eine andere Dimension: Die 179 Teilnehmer kannten sich lange nicht alle untereinander und hatten auch sonst nichts miteinander zu tun – das heißt, sie waren nur wegen der Inhalte in der Gruppe. "Das ist ein Sonderfall, bei dem das sehr organisiert abgegangen ist", sagt Arno Speiser von der bayerischen Landeskoordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus, die Schüler und Eltern in solchen Fällen berät. "Dass das unter so vielen Jugendlichen abläuft, das ist eine Dimension, die ich bisher noch nicht erlebt habe."

 

Bis jetzt habe es keine Hinweise gegeben, dass Rechte systematisch versuchten, die Chat-Gruppen von Schülern zu unterwandern. Im Normalfall sind es eher einzelne Mitglieder schon existierender Gruppen – einer Schulklasse, eines Sportvereins –, die versuchen, mit grenzwertigen Postings zu punkten. "Dahinter stehen die verschiedensten Intentionen", sagt Speiser. "Manchmal geht es ums Provozieren, manchmal ums Cool-Sein. Aber manchmal auch um den Versuch, die Gruppe in diese Richtung mitzunehmen."

 

Wenn so etwas passiert, hilft laut Speiser vor allem schneller Widerspruch in der Gruppe selbst. "Überall da, wo das totgeschwiegen wird, besteht die Gefahr, dass derjenige sich bestätigt fühlt und dann entsprechend weitermacht", weiß der Experte.

 

Wenn eine solche Gruppe öffentlich wird, kann es für die Beteiligten ernste Konsequenzen haben. Das mussten auch die Münchner Eltern, die die Gruppe zur Anzeige brachten, erfahren: Obwohl sie erst durch dessen Kooperation auf die Gruppe aufmerksam geworden war, musste die Polizei trotzdem auch Ermittlungen gegen den 14-Jährigen aufnehmen. Der Junge wurde dazu verurteilt, 25 Stunden lang historische Literatur über die NS-Zeit zu lesen. Und für die nächsten fünf Jahre hat er einen Eintrag im Erziehungsregister. Ähnliche Konsequenzen kommen jetzt auf Dutzende Jugendliche aus der "Arischen Bruderschaft" zu.