Was Frauen auf der Flucht erleiden

Erstveröffentlicht: 
04.12.2016

Ein DRK-Mitarbeiter, der sich an einem Kind vergeht. Eine Zwölfjährige, die in einem Foltergefängnis landet. Weltweit werden besonders weibliche Flüchtlinge Opfer von Gewalt und Missbrauch. Betroffene in Deutschland und Jordanien erzählen im WDR von ihren Erlebnissen. Von Naima El Moussaoui und Lukas Roegler, WDR

 

Endlich in Sicherheit. Das denken Judy und Ahmed Hamwi, als sie nach einer langen Flucht in Ostwestfalen ankommen. Zusammen mit ihren drei Kindern leben sie in einem Flüchtlingsheim in Höxter. Dann kommt es zu einem Vorfall, der ihr Leben verändert. Die Familie hat gerade zu Abend gegessen. Die siebenjährige Tochter Sara geht schon mal vor auf ihr Zimmer.

 

Als Judy nachkommt, ist ihre Tochter nicht da. Niemand weiß, wo Sara ist. Plötzlich steht das Mädchen in der Tür: klitschnass vom Regen. "Sie war kreidebleich, verstört und hat geweint", erinnert sich Judy. Sara erzählt ihrer Mutter, ein Mann habe sie mit in den Garten genommen. Er stellt sich auf Saras Füße, so dass sie nicht weglaufen kann. Dann zeigt er ihr einen Porno auf dem Handy, zieht sich die Hose herunter und versucht, sie zu missbrauchen.

 

Als der Mann kurz seine Füße hoch nimmt, kann Sara sich losreißen. Sie läuft zu ihrer Mutter. "Mein erster Gedanke war, dass es ein Araber war", weiß Judy noch. Doch Sara zeigt ihr einen Mann mit einer Jacke vom Deutschen Roten Kreuz (DRK). Die Familie ruft die Polizei. Die Beamten nehmen einen 33-jährigen DRK-Pförtner fest. Er ist mehrfach vorbestraft. Unter anderem wegen Sexualdelikten. Trotzdem hatte ihn das Deutsche Rote Kreuz eingestellt. Ein polizeiliches Führungszeugnis musste er zu Beginn seiner Probezeit nicht vorlegen.

Schutzlos auch in Deutschland

Saras Fall ist nur einer von vielen. Vor allem geflohene Frauen und Kinder fühlen sich in Deutschland oftmals nicht sicher. Oft müssen sie die Unterkunft mit Männern teilen, können oder dürfen ihre Türen nicht abschließen und haben meist niemanden, dem sie sich mit ihren Problemen anvertrauen können. Dabei gibt es längst eine EU-Richtlinie, um geflüchtete Frauen zu schützen. Darin verpflichten sich alle Länder, Schutzmaßnahmen für "besonders Schutzbedürftige" zu treffen.

 

Doch Deutschland weigert sich bis heute, die Richtlinie umzusetzen. Auch deswegen kommt es immer wieder zu sexuellem Übergriffen und auch zu Vergewaltigungen in deutschen Flüchtlingsheimen. Dabei sind nur etwa 30 Prozent der Flüchtlinge in Deutschland weiblich.

Alltägliche Folter und Vergewaltigungen

Auch Hayat würde gerne nach Europa fliehen. Doch die 43-jährige Syrerin sitzt in Jordanien fest. Im Nachbarland Syriens sind laut UN fast 75 Prozent aller syrischen Flüchtlinge Frauen und Kinder. Als der Krieg beginnt, lebt Hayat mit ihrer zwölfjährigen Tochter Genna in der syrischen Stadt Daraa. Daraa gilt als eine der Hochburgen der Opposition. Es kommt zu verstärkten Razzien. Tausende von Soldaten sind in der Stadt.

 

"Wir lebten in ständiger Angst", erzählt die ehemalige Lehrerin. Zuerst trifft es andere im Viertel, dann sind Hayat und ihre Tochter an der Reihe. "Sie kamen morgens um eins oder zwei, als wir schliefen." Die Soldaten suchen Hayats Ex-Mann. Er sei ein Terrorist. Weil er nicht da ist, wollen sie die Tochter mitnehmen. "Was wollt ihr mit ihr? Sie ist noch ein Kind! Nehmt mich an ihrer Stelle!", fleht Hayat. Doch die Soldaten nehmen das Mädchen trotzdem mit und bringen sie in ein berüchtigtes Foltergefängnis. Hayat kann nichts tun.

Als Kind im Foltergefängnis

Als 45 Tage später Teile des Gefängnispersonals desertieren, kommt Genna wieder frei. Obwohl sie mit zwölf noch ein Kind ist, wird sie im Gefängnis wiederholt vergewaltigt. Als sie entlassen wird, erkennt sie ihre eigene Mutter nicht mehr wieder und ist bis heute schwer traumatisiert. Seit ihrer Flucht aus Syrien leben Hayat und Genna in Jordanien. Ohne Unterstützung und ohne Perspektive.

 

Ihre einzige Chance wäre Asyl in Europa. Aber für alleinstehende Frauen wie Hayat und ihre Tochter ist die Flucht zu gefährlich. Denn der einzige Weg nach Europa führt derzeit über die Landroute nach Libyen - und das bedeutet für Frauen und Mädchen Vergewaltigung und Tod, wie geflüchtete Frauen berichten.

Träumen von Sicherheit

Im Gegensatz zu Hayat und Genna, haben es Judy und Sara nach Deutschland geschafft. Vor allem weil Saras Vater auf der langen Flucht auf seine Familie aufpassen konnte. Der Rote Kreuz-Helfer, der Sara missbraucht hat, wurde inzwischen zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Erst nach dem Auszug aus der Flüchtlingsunterkunft bekommt die Familie die Möglichkeit, in Deutschland ein neues Leben in Sicherheit anzufangen.

 

Für Abertausende von alleinstehenden Frauen wie Hayat und ihre kleine Tochter Genna bleibt Sicherheit ein ferner Traum. Sie fallen durch das Raster eines Asylsystems, das den schwächsten der Schwachen kaum eine Chance lässt.

 

Sendehinweis: Zu diesem Thema sendet der WDR eine eigene Sendung mit dem Titel "Der Traum von Sicherheit - Was Frauen auf der Flucht erleiden". Zu sehen ist "die story" am Mittwoch, den 07. Dezember, um 22.10 Uhr im WDR Fernsehen. Weitere Informationen zur Sendung finden Sie hier.