„Einige schlug er mitten entzwei“

Erstveröffentlicht: 
25.06.1984

Die geheimnisvollen Verbrechen der deutsch-italienischen „Gruppe Ludwig“

Rechtsradikale machen in Bayern und Norditalien in mittelalterlich anmutendem Ketzerwahn Jagd auf Homosexuelle, Prostituierte und gefallene Priester. 14 Kultmorde rechnet die Polizei auf das Konto einer mysteriösen „Gruppe Ludwig“, die ihre Bekennerbriefe mit Hakenkreuzen und der Parole „Gott mit uns“ schmückte. *

 

An seinem Arbeitsplatz in München wurde Wolfgang Abel, 24, Doktor der Mathematik, als Eigenbrötler belächelt. Selbst im Winter kam er regelmäßig mit dem Rad. Zum Schlittschuhlaufen oder zu Hardrock-Konzerten, etwa der Gruppe "Judas Priest", ging der scheue Mann stets allein.


Als ihn die Arbeitskollegen von der Lebensversicherung, Abteilung Rückkauf-Berechnung, mitnehmen wollten ins Münchner Faschingstreiben, sagte Abel ab. Er reiste lieber nach Verona zu seinen Eltern. An Karneval wollte Wolfgang etwas ganz anderes machen.


Er fuhr, als Pierrot verkleidet, auf einer Vespa zusammen mit seinem Freund Marco Furlan, 24, ins oberitalienische Castiglione delle Stiviere. Sie waren gekommen, um in der Diskothek "Melamara", wo an diesem Abend 400 Jugendliche Maskenball feierten, ein Fanal zu setzen.


Aus zwei Plastikbehältern, die sie in einer schwarzen Sporttasche verstaut hatten, vergossen die beiden Benzin. Doch ehe die Brandstifter zündeln konnten, wurden sie überwältigt und in der Nacht zum Faschingssonntag den Carabinieri übergeben.


Die Beinahe-Katastrophe von Castiglione am 4. März dieses Jahres reiht sich für die Polizei in eine Serie geheimnisvoller Verbrechen, die seit 1977 Norditalien beunruhigt und längst auch deutsche Kriminalisten beschäftigt. Eine ominöse "Gruppe Ludwig" bekennt sich bislang zu 14 Morden. Und die Motive der Gewalttäter wurzeln in religiösem Wahn und Sexualfeindlichkeit, verbrämt mit Nazisymbolik und Exorzismus. Hier kommen, beschreibt das Bundeskriminalamt (BKA) das Tatumfeld, "Angst und Schrecken aus dem Mystischen".


1977 wurde in Verona ein Drogendealer mit vier Molotowcocktails in die Luft gejagt. Dann wurden zwei Homosexuelle in Padua und Vicenza mit Messerstichen in den Rücken getötet; eine Prostituierte, ebenfalls in Vicenza, erst mit dem Hammer erschlagen, dann mit dem Beil zerlegt. 1981 starb am Etschufer von Verona ein Fixer bei lebendigem Leib in den Flammen seiner Hütte, 1982 starben zwei Mönche in Vicenza unter Hammerschlägen, einer von ihnen war wegen Päderastie angeklagt. Einem 1983 ermordeten Pater hatten die Täter in Trient ein Kruzifix ins Genick getrieben.


Im Mai 1983 führte die Gruppe in Mailand ihren schwersten Schlag. Sechs Gäste erstickten, als im Sexkino "Eros" ein Brand ausbrach. "Eine Todesschwadron hat die Männer ohne Ehre hingerichtet", teilten "Ludwig"-Gruppenmitglieder in einem Bekennerbrief an die Nachrichtenagentur "Ansa" mit und übernahmen "die Verantwortung für den Scheiterhaufen der Schwänze".


Ein Dreivierteljahr später bekam "Ansa" noch einmal Post von der "Gruppe Ludwig". Diesmal rühmten sich die Killer des Flammen-Attentats vom 7. Januar dieses Jahres auf die Münchner Diskothek "Liverpool". Im "Liverpool", höhnten die Absender in Runenschrift, "wird jetzt nicht mehr gefickt": Während die 25 Disko-Gäste einen Pornofilm betrachteten, hatten die Täter einen Benzinkanister auf der Eingangstreppe ausgeleert und gezündet. Am Tatort hinterließen sie eine schwarze Sporttasche und, als Erkennungszeichen, auf das sie sich später im Bekennerbrief beriefen, einen Wecker der Marke "Peter".


Münchens Kripo ermittelt wegen Mordes, seit eines der Verletzungsopfer Anfang Mai den Verbrennungen aus dem "Liverpool" erlegen ist - Corinna Tatarotti, 20, Tochter eines ZDF-Reporters. Nachdem die Täter zunächst in italienischen Zuhälterkreisen vermutet worden waren, hat die Polizei nun exaktere Ermittlungsziele. Mordverdächtig sind Wolfgang Abel und Marco Furlan, die Brandstifter von Castiglione delle Stiviere.


Denn mit deren Verhaftung begann eine Erfolgsserie der amtlichen Spurensucher, die Kripo sammelte wertvolle Indizien: *___In der Wohnung Abels in der Münchner ____Leonhard-Frank-Straße fanden sich Cordjeans, Knöpfe und ____Schnürsenkel derselben Marken, die im "Liverpool" in ____einer Reisetasche zurückgelassen worden waren; *___Abels Eltern identifizierten den Wecker als Eigentum ____ihres Sohnes; *___in der Münchner Wohnung lag ein Durchdruck des ____Bekennerbriefes, den die "Gruppe Ludwig" nach dem ____Mailänder Anschlag verfaßt hatte.


Vorbereitung und Ablauf der Brandstiftungen ähneln sich. Und auch dafür, daß einmal monatelang von der "Gruppe Ludwig" nichts zu vernehmen war, glauben die Ermittlungsbehörden nun eine plausible Erklärung zu haben: Da schrieb Mathematiker Wolfgang Abel gerade an seiner Doktorarbeit.


Die Inhaftierten schweigen zur Sache. So tun sich deutsche und italienische Untersuchungsbehörden schwer mit der Suche nach den Hintergründen der von "Ludwigs" Rächern hinterlassenen Blutspur, deren wirklicher Umfang ebenfalls nur in Konturen sichtbar ist.


Schon geistert "Ludwig" auch weiter nördlich umher. Als im Frühjahr bei Wiesbaden "Das unmögliche Möbelhaus aus Schweden", Ikea, in Flammen aufging, gab Hessens Polizei prompt "Ludwig"-Alarm. Der Brandstifter jedoch, wie sich schnell ergab, ein verbitterter Angestellter, der mutmaßliche "Ludwig" des vermeintlichen Bekennerschreibens, war nichts weiter als ein Kunde gleichen Namens, der sich auf einer Postkarte über den Verkaufs-Service beschwert hatte.


Als Ende letzten Jahres ein Feuer den Amsterdamer Sexclub "Casarossa" vernichtete (13 Tote), brachten sich echte "Ludwig"-Leute mit sachlich falschen Bekennerschreiben ins Spiel. Der Täter indessen, fand Interpol Den Haag heraus, war ein Klub-Bediensteter.


Daß sich die "Ludwig"-Gruppe prahlerisch der Verbrechen anderer brüstet, muß die Polizei einkalkulieren. Beim ersten "Ludwig"-Mord waren beispielsweise die inhaftierten Abel und Furlan erst 17 Jahre alt. Umgekehrt ist möglich, daß künftig noch weitere Mordbrennereien bekannt werden. Den Feuertod des Drogensüchtigen aus Verona nahmen die Täter erst zwei Jahre später brieflich auf ihre Kappe, und zum Beweis legten sie ihrem Schreiben ein Gegenstück zu der am Tatort seinerzeit gefundenen Metallmarke mit der Aufschrift "Serflex" bei.


Der Fortgang der Ermittlungen über die "Gruppe Ludwig" stagniert inzwischen, weil Italiens Justiz der Münchner Staatsanwaltschaft mancherlei Erkenntnisse vorenthält. In Italien liefen die Ermittlungen bisher dezentral, und das "Selbstverständliche, übergreifende Dinge zusammenzutragen", hat, wie das BKA klagt, "bisher nicht stattgefunden". Unklarheiten bestehen über mögliche Mittäter. Nach vagen Zeugenaussagen und eingehenden Tat-Rekonstruktionen in Castiglione wie in München müßte ein dritter Mann beim Zündeln geholfen haben.


Doch nicht nur das Umfeld bleibt im Nebel. Um die Cordjeans aus dem Münchner "Liverpool" als Abels Hose identifizieren zu können, baten Kriminaltechniker um Beinhaar-Proben des Inhaftierten. Abel lehnte jedoch ab, sich zupfen zu lassen. "Und dagegen können die Italiener angeblich nichts machen", klagt der Münchner Oberstaatsanwalt Hubert Vollmann.


Um die Kollegen jenseits des Brenner zu einer besseren Kooperation zu zwingen, will Vollmann der italienischen Justiz einstweilen ein anderes Beweisstück vorenthalten, den in Abels Münchner Wohnung entdeckten Durchdruck des "Ludwig"-Bekennerbriefes zum Mailänder Anschlag.


Das Dokument mit dem Wasserzeichen "Agrippi" beweist, daß der Brief in Abels Wohnung geschrieben oder entworfen worden ist. Nach Ansicht des Staatsschutz-Experten Erwin Hösl vom bayrischen Landeskriminalamt "dürfte damit der ganze Tatkomplex bis 1977 den beiden, Abel und Furlan, zuzuordnen sein". Wer außerdem noch der "kleinen, aber sehr gefährlichen Gruppe" angehört, ist für Brigadiere Francischetti von der Squadra Mobile in Vicenza "ein großes Rätsel". Francischetti und Kollegen tippen auf "deutschstämmige Eiferer".


Wolfgang Abel ist seit Jahren mit dem Chemiestudenten Marco Furlan, Sohn eines italienischen Facharztes für Verbrennungen, eng befreundet. Als Schüler hatten die beiden Kontakte zu rechtsradikalen katholischen Guerillakämpfern von der "Christ-König"-Gruppe unterhalten, die auch fundamentalistische Ansichten vertreten. Das "strenge Elternhaus", vermuten BKA-Beamte, könnte "das tyrannische, eigenbrötlerische, sensible Wesen" des intelligenten Mathematikers erklären. Berufskollegen bei der Versicherung erinnern sich, was Abel über sein Zuhause erzählte: "Wir haben nicht mal Fernsehen."

Beamte berichten, Wolfgang Abel beginne zu weinen, wenn sie bei Vernehmungen den Namen einer Münchner Freundin erwähnten. Zwar werden die Brandstifter als "Frauentypen" eingeschätzt, doch die Ermittler sehen "auch Anhaltspunkte für eine latente Homosexualität". Da wurden "vielleicht Taten begangen", überlegt BKA-Ermittler Weber, "um sich gewissermaßen selbst zu reinigen".


Als Abel in Mantua Münchner Kripo-Fahndern vorgeführt wurde, kam es zu einem Zwischenfall: "Plötzlich", berichtet Oberkommissar Rainer Hehne, "erlitt er einen epileptischen Anfall, oder es war die Aufregung - jedenfalls brach er zusammen." Bei beiden Inhaftierten konstatierte die Mailänder Justiz Selbstmordgefahr.


Während Furlan weiterhin strikt schweigt, ließ Abel sich kürzlich wenigstens auf ein ganz allgemeines Gespräch mit dem aus München angereisten Ersten Staatsanwalt Jürgen Hanreich ein. Das "Liverpool" schilderte der Mathematiker als "Bordell-Disko", durch die "junge Leute verdorben werden". Abel: "Ich bin grundsätzlich gegen solche Etablissements." Für das BKA besteht die Gruppe "Ludwig" aus "Menschen mit einem hohen Intelligenzgrad, die längst die Grenzen der Normalität überschritten haben".


Die "Ludwig"-Taten und deren spätere Bekanntgabe muten an, als arbeiteten todeswütige Exorzisten und psychopathische Neonazis Hand in Hand. Die Bekennerbriefe strotzten nur so von faschistischem Beiwerk - Runenschrift, NS-Adler, Hakenkreuz und darunter ein "Gott mit uns".


Im Text stehen Sätze wie "Eisen und Feuer sind die Strafen des Nazismus" (nach dem "spettacolo pirotecnico" von München) oder "Die Macht Ludwigs hat keine Grenzen" (nach dem Mord an einem Geistlichen). Dem Tod des Drogenabhängigen in Verona gaben die Täter makabre Programmsätze bei: "Unser Glaube ist Nazismus. Unsere Gerechtigkeit der Tod. Unsere Demokratie ist Ausrottung."


Immer wieder kommt in Schriften jener mysteriöse Name vor, der für Tod steht: Ludwig. Den Opfern wird nachgerufen, sie hätten das "Gesetz Ludwigs" nicht geachtet. Aber niemand außer den Tätern weiß, wie es lautet. BKA-Beamte meinten zunächst, der Religionsphilosoph Sören Kierkegaard könnte die rigorosen Phantasien der Täter angeregt haben; sie fanden Bücher von ihm in Abels Münchner Wohnung.


Vater Gerhard Abel, ein pensionierter Jurist, wies den Ermittlern eine Spur: Das Werk des italienischen Schriftstellers Ignazio Silone, der "in alten Kloster- und Ketzergeschichten nach den Spuren einer Utopie" und nach "Sozialismus ... im ursprüglichen Sinne" gesucht hat.


Ein Bruder Ludwig, Angehöriger der mittelalterlichen Franziskaner-Sekte der Spiritualen, predigt in Silones Kutten-Stück vom "Abenteuer eines armen Christen" gegen die "flüchtigen Genüsse der Welt". Sein Vertrauter, Papst Cölestin V., der "nicht gerne Frauen um sich" hatte, wettert in dem Silone-Buch über "die Anwerbung von Mädchen ... für die neapolitanischen Bordelle".


Franz von Assisis Wirken im 13. Jahrhundert ist in den Augen des Cölestiner-Mönchs Ludwig "ein dauerhafter Brand, der trotz der wütenden Anstrengung, ihn zu löschen, an vielen Orten noch heute weiterglüht".


Eine "ganze Mönchsabteilung", sagt Kriminaldirektor Dieter Walter vom Bundeskriminalamt, habe tagelang in der BKA-Dependance in Meckenheim über dem Text gebrütet. Die Ermittler fischten Zitate über Feuer, Mannesliebe und Bordelle als mögliche Schlüsselhinweise für die Motivsuche aus dem Silone-Text.


Sein Sohn Wolfgang, bestätigte Vater Abel, habe Silone "zum Abitur gelesen" und seither für "Fra Ludovico" den bärtigen Frater mit der ungefärbten Wollkutte, heiß geschwärmt. Auch eine Reihe von Freunden in Verona teilt offenkundig die fromme Begeisterung. Gerhard Abel: "Dieser Ludwig, der grassiert doch hier überall in den Köpfen."


Viel weiter kamen die BKA-Auswerter bei der Motivsuche mit der Silone-Schrift indessen nicht. Ludwigs Gesetz, auf das sich die Bekennerbriefe berufen, hat nach Ansicht der BKA-Ermittler wenig mit den unbestimmten kommunistischen Vorstellungen der mittelalterlichen Spiritualen zu tun, die in dem Kloster-Stück "als Vorkämpfer der sozialen Revolution" eine "größere Unmittelbarkeit zu Christus" suchen.


Fündiger wurden die Kriminalisten bei ihren Psycho-Recherchen über das Abgründige an "Ludwig" in einem anderen Kloster-Stück - Umberto Ecos "Der Name der Rose". Italienische Kommilitonen Abels, die zur Person des Festgenommenen befragt wurden, erwähnten "fratzenhafte Gesichter", die der Mathe-Student gelegentlich ins Kollegheft gezeichnet habe.


Einem Beamten fiel eine Stelle in Ecos Bestseller ein, wo von einem Miniaturmaler in der mittelalterlichen Klosterbibliothek die Rede ist. Er hat "eine sehr lebhafte Phantasie" und malt "Paviane, Fratzengesichter, afrikanische Affen, Figuren einer verkehrten Welt" auf die Ränder der Manuskripte. Der Fratzenmaler aus der "Rose" heißt auch noch so ähnlich wie der Häftling: Adelmus.


"Wer ständig Monster darstellt", schreibt Eco über das Gekritzel des Mönchs Adelmus, "gewinnt allmählich Gefallen an den Scheußlichkeiten, die er ersinnt und ergötzt sich an ihnen." Auf Seite 491, wo Greueltaten von mittelalterlichen, fanatisierten Spiritualen beschrieben werden, stießen die BKA-Ermittler auf einen Satz, der ihnen bedeutungsvoll vorkam: "Wir töteten, um zu strafen, um durch das Blut die Unreinen reinzuwaschen." An anderer Stelle bekennen sich Spirituale als "Vorhut des rächenden Herrschers" oder als "das Schwert des Herrn".


Selten mußten Kriminalisten so tief in die Kirchengeschichte einsteigen, um Erklärungen für eine Verbrechensserie der Gegenwart zu finden. Die Thesen der Spiritualen bei Eco und Silone, die Bezüge zum Mystischen machten schließlich auch den "Ludwig"-Forschern bei der Polizei zu schaffen. "Bei der Analyse muß man aufpassen", merkte BKA-Ermittler Weber, "daß man selber nicht abgleitet." Es gebe da "Rückschlüsse", ahnt der "Ludwig"-Experte, "da kann man als psychisch Geschädigter herausgehen".


Hinweise des Schriftstellers Silone auf allerlei Allegorisches, Gerede etwa über die "Rückkehr des Propheten Elias" oder eine "Herrschaft des Heiligen Geistes" in einem "Neuen Zeitalter" verwirren auch Abels Verwandte. Der Vater des Mathematikers hat es längst aufgegeben, durch eigenes Quellenstudium verstehen zu lernen, was alles seinen Sohn motiviert haben könnte: "Ich will meinen Geist nicht desinformieren lassen."


Handfestere Erkenntnisse versprachen sich die italienischen Ermittler, als sie am 26. März 1983 den Wissenschaftler Silvano Romano, 35, festnahmen. Der Dozent und Spezialist für Flüssigkeitsphysik an der Universität Pavia war aufgefallen, als er mehrere jüdische Geistliche in Norditalien anrief und ihnen drohende Anschläge der "Gruppe Ludwig" ankündigte. Bei einer Hausdurchsuchung sicherte die Polizei dann auch noch Mengen von Zeitungsausschnitten und Aufzeichnungen über "Ludwigs"-Morde.


Der Physiker hat eine Erklärung dafür. Er habe die beiden Häftlinge "nie gesehen", so Romano zum SPIEGEL, aber die "Ludwig"-Mordserie interessiere ihn. So sei letztes Jahr dem Pater in Trient das Kruzifix just an jenem Tag in den Nacken getrieben worden, als er, Romano, sich in der Stadt aufgehalten habe. Mit auffälligem kriminalistischen Ehrgeiz sammelte der Physiker daraufhin Informationen und kam bald zu der Erkenntnis: "Ein Jude könnte das nächste Opfer sein."


Romano sprach nach eigener Aussage einen Bekannten an, den Rabbi von Turin, der jedoch dem Hinweis nicht nachgegangen sei. Beim Rabbiner von Mailand blitzte der Warner ebenso ab wie anschließend bei dessen Amtskollegen in Verona. Erst der Rabbi von Padua reagierte auf den Anruf. "Nur der nahm mich ernst", erzählte Romano - der Geistliche schickte dem Dottore die Polizei ins Haus.


Zuerst glaubten die Carabinieri, ein stark angestaubtes deutschsprachiges Geisteswerk könne vielleicht als Kode-Buch beim Entschlüsseln von "Ludwigs" Gesetz dienen: die 1852 vollendete Tragödie "Die Makkabäer" des deutschen Dramatikers Otto Ludwig. BKA-Beamte halfen den Italienern später beim Puzzle. Sie verglichen Kernsätze der "Ludwig"-Bekennerbriefe mit Textstellen des "Trauerspiels in fünf Akten". Keine Passage über diese glaubensfanatischen Juden entsprach "Ludwigs" Runen-Mitteilungen: "Die Synopse", so BKA-Weber, "hat nichts gebracht, da wohl immer nur Ideen, aber nicht Textstellen übernommen werden."


Der Universitätslehrer, der Alibis vorweisen konnte, wurde nach neun Tagen wieder freigelassen, doch er blieb verdächtig. Seinen Paß hat er bis heute nicht wieder, auf ein geplantes Gastsemester in der DDR mußte er verzichten. In der örtlichen Berichterstattung sieht sich der Physiker zum zeitgenössischen Abbild von "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" stilisiert, jener Roman-Figur des schottischen Autors Robert Louis Stevenson, die in sich gleichzeitig die Persönlichkeiten eines ehrbaren Bürgers und eines ruchlosen Übeltäters verkörpert.


Tatsächlich umgeben lauter geheimnisvolle "Ludwig"-Attribute den kleinwüchsigen, in sich gekehrten Universitätslehrer, der hinter einer eulenhaften Brille "ausschaut, wie Henry Kissinger, dargestellt von Woody Allen" (ein Ermittler).


Der ledige Romano studiert als Hobby die nordische Mythologie. Mit seinen Anrufen bei den Rabbinern hat er den Verdacht förmlich auf sich gezogen. Es gibt mysteriöse Bezüge Romanos zu Taten und Daten der "Gruppe Ludwig". Nicht allein, daß er zum Zeitpunkt des Trienter Mordes in der Stadt war: Zwei Tage nach Romanos Haftentlassung traf der späte Bekennerbrief zu jenem Brandanschlag in Verona, am 24. Mai 1981, ein, bei dem zwei Jahre zuvor der Fixer ums Leben gekommen war.


Am 18. Dezember letzten Jahres druckte der "Corriere della Sera" in ein und derselben Ausgabe ein langes Romano-Interview sowie die breitaufgemachte Nachricht vom Amsterdamer Großbrand. Zwei Tage nach einem anderen Romano-Interview zum Thema "Ludwig", in einer Trienter Zeitung, brannte das "Eros"-Kino von Mailand.


Und die noch letzte Woche auf einer Veroneser Kirchenmauer lesbare Durchhalteparole in Kohleschrift ("Ludwig lebt") entdeckte, wer sonst, der Doktor Romano.

Seltsame Anzeichen für das gleichsam magnetische Verhältnis des Physikers zu der religiösen Rächer-Bande liefern seine intimen Kenntnisse über mögliche Motivationen und ideologische Hintergründe. Romano verblüfft Gesprächspartner mit Detailwissen über die Bedeutung des Namens Ludwig in Literatur und mittelalterlicher Mythologie.


Was er über die heilige Wut, mit der die verschiedenen literarischen und geschichtlichen Ludwigs für Sitte und Glauben zu Felde zogen, zu sagen weiß, trägt ihm bei den Ermittlern den Verdacht ein, selber vielleicht ein Hintermann der Kult-Mörder zu sein. Jedenfalls läßt sein Wissen erahnen, um was es den Briefeschreibern gehen könnte, die sich auf Ludwig berufen.


Ludwig-Experte Romano verwies die Ermittler zum Beispiel auf das althochdeutsche Ludwigslied, Epos eines rheinfränkischen Geistlichen auf König Ludwig III. von Frankreich, einen Ururenkel Karls des Großen. Darin schlägt der junge König höchstpersönlich, von "godes kraft" beseelt, ohne christliches Erbarmen heidnische Mannen zurück: "Suman thuruhskluog her, Suman thuruhstah her" ("Einige schlug er mitten entzwei, einige durchstach er"). Das fromme Heer sang derweil das "Kyrieeleison" ("Herr, erbarme Dich"), den noch heute üblichen Bittruf in der Liturgie.


Kaum anders hat ein Nachfahr selben Namens unter Abweichlern und Nichtgläubigen gewütet, Ludwig IX. von Frankreich. Der später heiliggesprochene französische König führte Ende des 13. Jahrhunderts zwei Kreuzzüge und schlug auch im Inland gegen Kirchengegner zu. Dem Papst in Rom gefiel seine Frömmigkeit, "die ihn allerdings auch die Albigenser grausam hat ausrotten lassen", wie Kripo-Beamte sich in Meyers Konversations-Lexikon sachkundig machten.

Jahrelang beraten durch seine Mutter, führte Ludwig ein Regime der Sittenstrenge und der Genügsamkeit. In der "Encyclopaedia Britannica" ist Ludwig als Ritter, Asket und Held vermerkt, "every inch a king". Die Adligen hatten "unter seinem unbeugsamen Gerechtigkeitssinn zu leiden", der Klerisei trieb er, teils brutal, das Wohlleben aus.


Der Todestag des Heiligen, der 25. August, ist offizieller Ludwigs-Namenstag. An diesem Tag, im Jahr 1248, waren schon Ludwigs Kreuzritter, zu ihrem ersten Überfall auf die Mohammedaner gestartet. Am 25. August 1977 auch brachte die "Gruppe Ludwig" in Verona ihr erstes Opfer um.


Auch unter Bayerns Herrschern fand Ludwig-Forscher Romano Einschlägiges, für das sich nun die Polizei interessiert. Das Wirken des Märchenkönigs Ludwig II., geboren am 25. August und als Knabenliebhaber verzeichnet, verbindet der Ludwig-Kenner aus Pavia mit Männerfreundschaft und Männlichkeitskult, wie sie aus dem Treiben der "Gruppe Ludwig" oft hervorzuschauen scheinen.


Ein Erklärungsmodell sieht Romano im Werk des italienischen Regisseurs Luchino Visconti, der das Leben des Bayern-Königs verfilmt hat, und auch in anderen Stücken, wie "Tod in Venedig" oder "Gewalt und Leidenschaft", das Thema Homosexualität feinsinnig variiert.


Ludwig III. von Bayern schließlich, Vetter des Märchenkönigs, steht auch auf Romanos Gedenktagsliste: Am 7. Januar, dem Jahrestag seines Todes, brannte die Diskothek "Liverpool" in München ab.


Auch mit der zur Brandstätte ausersehenen Disko in Castiglione delle Stiviere, wo Abel und Furlan aufgeflogen sind, hat es seine Bewandtnis im Geschichtskalender. In dem kleinen Ort nahe Verona wurde ein anderer Heiliger namens Ludwig geboren: Luigi Gonzaga, ein Jesuit des 16. Jahrhunderts, verdankt die Heiligsprechung ähnlichen Attributen wie sein französischer Mitheiliger - er war für Reinheit und Strenge berühmt und erhielt den Titel "Ludwig der Keusche".


Der Anschlag im Herkunftsort Ludwigs fiel in die Woche seines 416. Geburtstags.