Die Geständnisse eines Informanten…

Erstveröffentlicht: 
19.11.2016

Eine Reportage der Zeitung „Yeni Özgür Politika“ führt anhand der Erzählungen eines in Europa lebenden kurdischen Jugendlichen die Spionage-Aktivitäten des türkischen Staates vor Augen.

 

Ein in Europa lebender kurdischer Jugendlicher namens E.A., der während seiner Untersuchungshaft in der Türkei die Namen von sechs Jugendlichen der Polizei herausgab, führte seine Spionage-Beziehung mit der Türkei auch in Europa weiter. Der Jugendliche gab die Namen und Bilder der in den kurdischen Vereinen arbeitenden Kurden an seine Spionage-Kollegen weiter.

 

Eine Reportage der Zeitung „Yeni Özgür Politika“ führt anhand der Erzählungen eines in Europa lebenden kurdischen Jugendlichen die Spionage-Aktivitäten des türkischen Staates vor Augen.

 

Der in Frankreich lebende kurdische Jugendliche E.A. erzählt, wie der türkische Staat ihn zu einem Spionage-Agenten gemacht und ihn gezwungen hat, Informationen über die kurdischen Institutionen herauszugeben. Die Erzählungen von E.A. zeigen auf der einen Seite, dass der türkische Staat sich weiterhin darum bemüht, kurdische Jugendliche als Spionage-Agenten zu gewinnen, auf der anderen Seite stellen sich aber vor allem folgende Fragen in den Köpfen: Was ist das Ziel dieser Sammlung von Informationen über die in Europa arbeitenden kurdischen Organisationen? Auf was bereitet sich der türkische Staat in Europa vor?

 

„In Gewahrsam begann ich zu reden“


Der in Urfa 1993 geborene E.A. ist der Sohn einer Familie, die mit der kurdischen Freiheitsbewegung sympathisiert. Fünf Personen aus seiner Familie, einschließlich sein Onkel, haben sich der PKK angeschlossen und sind im Kampf gefallen.

 

Seine Kindheit verbrachte er im Dorf, seine Jugend in der Stadt Antep. 2010 begann er mit den politischen Arbeiten. In Antep nahm er an der Jugendarbeit der Partei für Frieden und Demokratie (BDP)1 teil und setzte sein Engagement auch in der Oberstufe seiner Schule fort. Im Februar 2011 wird seine Wohnung gestürmt, er kommt in Untersuchungshaft und wird zur Anti-Terror-Abteilung der Stadt Antep gebracht. Darüber erzählt E.A. wie folgt:

 

„Sie verhörten mich zwei Mal. Beim ersten Verhör habe ich nichts gesagt. Danach brachten sie mich in einen dunklen Raum. Dort schlugen sie mich und drohten, meine Familie umzubringen. Sie würden mich sehr gut kennen. Es folgten weitere Drohungen dieser Art. Dort blieb ich eine Weile. Sie kamen wieder und brachten mich diesmal in den Verhörraum. Im Verhörraum konnte ich dem Druck nicht mehr Stand halten und begann deshalb zu reden. Ich gab ihnen die Namen von sechs Freunden. Ich sagte ihnen nur die Namen. Danach brachten sie mich wieder in die Zelle. Als sie dann wieder kamen, zwangen sie mich ein Papier zu unterschreiben. Dieses Papier las ich später. Es stand drin, dass ich ein Mitglied der Organisation war und die Namen der Freunde preisgegeben hatte. Später wurde dieses Papier als Aussageprotokoll in der Akte abgelegt.“

 

Nachdem er der Staatsanwaltschaft vorgeführt wird, weist er alle Anschuldigungen zurück und wird vor Gericht verhaftet. Er wird ins H-Typ-Gefängnis von Antep gebracht. Er kommt nicht zu den Gefangenen, die zu PKK-Fällen verhaftet sind, sondern in einen anderen Bereich, dem Bereich der „Neutralen“.

 

„Ich hinterfragte mein Verhalten“


Dass E.A in der Zeit in Untersuchungshaft gesprochen und die Namen seiner Freunde preisgegeben hatte, bereut er zutiefst. „Im Gefängnis hinterfragte ich mich selbst. ‘Wieso habe ich mich ergeben, wieso habe ich nicht Widerstand geleistet?’, fragte ich mich jeden Tag. Die Antwort auf diese Fragen war immer die gleiche: Falsche Praxis und Willensschwäche gegen den Druck des Feindes.“

 

E.A. und seine Freunde werden nach drei Monaten Haft entlassen. E.A., der an die Oberstufe zurückkehrte, bereitete sich auf die Universität vor. Jedoch wurde er durch die Polizisten, denen er „Hoffnung“ gegeben hatte und die seinen Willen gebrochen hatten, nicht in Ruhe gelassen. Er erzählt, dass ihm zu dieser Zeit angeboten wurde, Spionage-Agent zu werden, er jedoch das Angebot nicht annahm.

 

Während E.A. mit der Universität beginnt und sein Cousin im Rahmen der KCK-Operationen verhaftet wird, entschließt er sich ins Ausland zu fliehen. Seine Familie verständigt sich mit einer Schlepperorganisation und er kommt zunächst nach Deutschland und bleibt in Hamburg. Mit dem Gedanken, dass es schwer sein wird, Asyl in Deutschland zu bekommen, reist er nach Frankreich und beantragt mit Hilfe seiner Verwandten Asyl in Frankreich. Innerhalb eines Jahres bekommt er eine Aufenthaltsgenehmigung und beginnt währenddessen zu arbeiten. Sein Leben bekommt er langsam in den Griff. Nach dieser Zeit nimmt er die Arbeiten im kurdischen Verein wieder auf. Er beginnt mit der Jugend- und Medienarbeit. Und genau zu dieser Zeit nimmt der türkische Geheimdienst Kontakt zu ihm auf. E.A. erzählt, wie es dazu gekommen ist.

 

„Bring uns die Verantwortlichen von Paris!“


„Es war nicht mehr lange hin zu einer Gedenkveranstaltung für gefallene PKK-Kämpfer. Bei Facebook erhielt ich eine Drohnachricht von jemandem, der Murat hieß. Sein Nachname war nicht angegeben. Sein Profilfoto war ein Polizei-Abzeichen, sein Wohnort war Antep. In seiner Nachricht hatte er persönliche Informationen über mich. ‘Wir bringen deine Familie um, deine Geschwister, deine ältere Schwester, wir kennen sie sehr gut; wir kennen dich sehr gut, du lebst in Evry’ schrieb er. Ich hatte große Angst und wusste nicht, was ich machen sollte. Er fragte mich, wer die Arbeiten in Paris führe und wer der Verantwortliche der Jugendlichen war. Er verlangte deren Bilder. Zunächst ging ich nicht darauf ein, doch ich bekam Angst, als er die vollständige Adresse meiner Familie schrieb. Da konnte ich nicht stark bleiben. Ich nahm es an. Er versprach mir, dass die Drohung aufgehoben wird, wenn ich mache, was er sagt. Auf der Gedenkveranstaltung schoss ich die Fotos und schickte sie ihm. Ich gab ihm auch die Namen.

 

Später wollte er, dass ich die Fotos an die türkische Botschaft in Paris schicke. Er schickte mir ein Screenshot und erklärte mir, wie ich es machen sollte. Ich schickte ihm und der türkischen Botschaft in Paris die Bilder. Er verlangte nach meinen Bankdaten. Ich schickte sie ihm, Sagte ihm aber, dass ich es nicht wegen Geld gemacht hatte, sondern nur um meine Familie zu schützen. Er sagte mir, dass die Drohung langsam aufgehoben würde. Ich bekam eine bestimmte Summe von einem mir unbekannten Konto auf mein Bankkonto gutgeschrieben. Es waren 380 Euro.”

 

„In Mannheim machte er dasselbe“


E.A. erzählt, dass er nach diesen Ereignissen aus persönlichen Gründen Frankreich verließ und nach Deutschland, Mannheim zog. Währenddessen erreichte ihn der Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes namens ‘Murat’ erneut. Nachdem er auch die Namen der in Mannheim die Arbeiten führenden Personen an ‘Murat’ preisgab, verließ er Mannheim und zog zu seinen Verwandten nach Berlin. Auch in Berlin besucht er immer wieder den kurdischen Verein, jedoch behauptet er, deren Namen oder Fotos nie weitergegeben zu haben.

 

E.A. nahm an einer Demonstration in Köln teil, die über mehrere Tage lief. Es war der sog. lange Marsch, der von der kurdischen Jugend traditionell vor dem Internationalen Kurdischen Kulturfestival stattfindet. Auch dort setzte sich die Kontaktaufnahme des Mitarbeiters des türkischen Geheimdienstes namens ‘Murat’ fort. Der von Zeit zu Zeit mit ‘Murat’ in Kontakt stehende E.A. begann erneut sich selbst zu hinterfragen. Am Ende dieser Selbsthinterfragung entschließt E.A. sich, die Geschehnisse in einem Brief niederzuschreiben. E.A. bekundet in diesem Brief seine Reue. Er gesteht sich ein, dass er den Werten des Freiheitskampfes und den Opfern, die seine Familie für diesen Kampf aufgebracht hat, nicht gerecht werden konnte. Gleichzeitig schreibt E.A. aber auch, dass er sich seines „Verrats“ bewusst geworden sei und diese Praxis hinter sich lassen will.

 

Warum sammelt der türkische Staat Informationen? Und was unternimmt Deutschland dagegen?


In den vergangenen Tagen erreichten unsere Zeitung die Informationen und Dokumentationen des entlarvten türkischen Agenten M.F.S. und seine Aktivitäten. Die bereits bekannten Erzählungen von E.A. bringen nochmal die Absichten des türkischen Staates, Informationen über kurdische Organisationen in Europa zu sammeln, zum Ausdruck. Die Frage ist: Was haben sie mit diesen Informationen vor? In welchem Pool werden die Informationen gesammelt? Und für welche operativen Aktivitäten werden sie gesammelt?

 

Tätigkeiten des türkischen Geheimdienstes in Deutschland wohl Teil politischer Verhandlungsmasse


An dieser Stelle macht es Sinn, nochmals an das Koblenzer Verfahren gegen die drei MIT-Agenten, darunter auch der Berater Erdoğans Muhammed Taha Gergerlioğlu, aus dem vergangenen Jahr zu erinnern. Das Verfahren wurde abrupt nach einer Zusammenkunft von Erdoğan und Merkel eingestellt. Allein aus diesem Verfahren hätten sich wichtige Erkenntnisse über die Tätigkeiten des türkischen Geheimdienstes in Deutschland herleiten können. Allerdings war das wohl infolge von Absprachen zwischen Deutschland und der Türkei nicht mehr erwünscht.

 

Die drei gefassten Agenten galten als die Stellvertreter des türkischen Geheimdienst-Chefs Hakan Fidan in Deutschland. Die Generalbundesanwaltschaft schilderte die Vergehen dieser drei Herrschaften wie folgt:

 

„Der Angeklagte, Muhammed Taha Gergerlioğlu, ist ein leitender und reisender türkischer Spionage-Agent. Hier sprechen wir von dem Geheimdienst MİT. Darüber, ob der Angeklagte jedoch ein offizielles Mitglied dieser Institution oder zum Vorbereiten des Spionage-Dienstes direkt für den türkischen Staat oder irgendeinem Mitgliedsstaat hier ist und anonyme Tätigkeiten als Mitglied einer Spionage-Gruppe entwickelt, konnte keine Klarheit geschaffen werden. (…) Der Angeklagte Gergerlioğlu hatte sich zumindest in der Zeit vom Februar 2013 bis zu dem Tag an dem er in Untersuchungshaft kam, also dem 17. Dezember 2014, mit vielen ‘verschwörerischen Quellen’ getroffen und durch diese über hier lebende Personen Informationen gesammelt. Er gab ihnen zudem weiterhin die Aufgabe, als Spion tätig zu werden.”

 

Diese Worte sind Worte eines Generalbundesanwaltes. Die Aussage, dass die drei Personen “Unmittelbar für den türkischen Staat oder für ein Mitglied dieses Staates” tätig sind, beweist, dass deren “Dienste” direkt für Erdoğan getätigt wurden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es sich bei den ‘verschwörerischen Quellen’ wohlmöglich um Auftragskiller handelt. Die Morde in Paris an drei kurdischen Politikerinnen wurden ebenfalls durch die ‘verschwörerischen Quelle’ des türkischen Geheimdienstes, Ömer Güney, ausgeführt. Somit ist der Verdacht, dass das Ziel der Sammlung all dieser Informationen, Morde im Auftag des türkischen Staates sind, nicht aus der Luft gegriffen.

 

Die Geschehnisse in diesem Prozess waren aus Sicht des türkischen Staates sehr gefährlich, denn ihre “schmutzige Wäsche” hätte zum Vorschein kommen können. Der Prozess der türkischen Spionage-Agenten begann mit der Anklageschrift. Doch die Bemühungen des türkischen Staates, sich vor dem ersten Verhandlungstag bereits in das Verfahren einzumischen, sorgte bereits für Aufsehen. Laut der Zeitschrift Focus sei der türkische Generalkonsul aus Karlsruhe Serhat Aksen während der Vorlesung der Anklageschrift in den Saal getreten und habe die Anklageschrift mit den folgenden Worten unterbrochen: “Ich bin hier, um meinem Landsmann an diesen schweren Tagen beizustehen.” Dann wird, während die Verlesung der Anklageschrift fortgesetzt wird, die Bundesanwaltschaft angerufen und wird daran erinnert, dass Gergerlioğlu ein einflussreicher Berater Erdoğans sei. Die Message hinter dem Anruf soll wohl lauten: “Nehmen Sie sich in Acht und fügen Sie unserem Mann keinen Schaden zu”.

 

Das angesetzte Prozessende für den 23. Dezember 2015 wurde vorgezogen, um den Prozess schnellstmöglich abzuschließen. Folgendes ging durch die Köpfe aller Beobachter: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Erdoğan trafen sich eine Woche vor dem Urteil. Wohlmöglich hatte Erdoğan im Gegenzug zu den Forderungen aus Deutschland die Freilassung der MIT-Agenten verlangt.

 

Offene Fragen…

Während des ganzen Prozesses war es den Geschädigten nicht erlaubt, an dem Prozess teilzunehmen. Der Prozess wurde unter großer Geheimhaltung geführt. Daher konnte die Öffentlichkeit über die Details lediglich über durchgesickerte Informationen erfahren. Aufgrund der raschen Einstellung des Prozesses, tauchten folgende Fragen in unseren Köpfen auf:

 

Für welche Gegenleistung wurde dieses Verfahren fallen gelassen?


Wer sind die ‘verschwörerischen Quellen’ in Deutschland, mit denen sich Gergerlioğlu laut Angaben der Generalbundesstaatsanwaltschaft traf? Warum sind bisher nie Ermittlungen gegen diese gelaufen? Was sind die ultimativen Ziele der Aktivitäten dieser “Quellen”?

Und wer sind die Osmanen Germania, die direkt von der türkischen Botschaft und ihren Institutionen unterstützt werden, denen deutsche Ermittlungsbehörden “türkische Spionage-Beziehungen” vorwerfen und bei denen bei Durchsuchungen Waffen und Drogen gefunden wurden. Wer sind sie und von wem werden sie geführt?

 

1. Vorgängerpartei der HDP