Die Schweiz und ihr fragwürdiger Umgang mit Neonazis

Erstveröffentlicht: 
20.10.2016

Über 5000 Neonazis aus ganz Europa trafen sich am Samstagabend in der Tennishalle des 685-Seelendorfs Unterwasser, um am Rocktoberfest die volksverhetzenden und menschenverachtenden Texte von rechtsextremen Bands wie Amok, Stahlgewitter, Confident of Victory und Frontalkraft zu feiern. Es war das grösste Nazikonzert der letzten 20 Jahre. Obwohl der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) im Vorfeld über die Veranstaltung Bescheid wusste und die Kantonspolizei St. Gallen informiert war, wurden die Neonazis weder an der Einreise in die Schweiz gehindert, noch wurde ihre Veranstaltung von der Polizei unterbunden. Das wirft einige dringende Fragen zum Umgang der Schweizer Behörden mit der internationalen rechtsextremen Szene auf: Wie konnte das passieren? Und will die Schweiz tatsächlich als Plattform für Neonazi-Bands dienen, die andernorts Auftrittsverbote haben?

 

Besorgniserregender Organisierungsgrad

 

Das Rocktoberfest zeigt eindrücklich, dass die internationale Neonazi-Szene engmaschig vernetzt und stringent organisiert ist. Den Organisatoren gelang es, massenhaft Neonazis aus ganz Europa an einen Ort zu lotsen, der bis zum Tag der Veranstaltung nur ihnen bekannt war. Auf dem Event-Flyer war als Veranstaltungsort lediglich Süddeutschland angegeben. Ob die Schweiz in der Szene als deutsches Territorium gilt oder ob durch die Falschinformation die Behörden in die Irre geführt werden sollten, ist unklar. Wie aus Antifa-Kreisen verlautet wurde, trafen sich die ungebetenen Gäste an einem "Schleusepunkt" im süddeutschen Ulm und wurden von dort aus weiter nach Unterwasser geleitet. Die kleine Gemeinde wurde von der Veranstaltung laut Gemeindepräsident Rolf Züllig "komplett überrumpelt". "Die Organisatoren hatten ein Rockkonzert von Schweizer Nachwuchsbands für 800 Besucher angemeldet," erklärt der Manager der Eventhalle auf Anfrage. "Als ich den Menschenstrom auf die Halle habe zukommen sehen, wurde mir ganz anders."

 

Da die Neonazis verschlüsselte Kommunikationskanäle wie Telegram verwenden, tappten die Behörden lange Zeit im Dunkeln.

 

Verfolgung strafbarer Handlungen hatte keine Priorität

 

Der Nachrichtendienst des Bundes erfuhr vier Tage vor dem Konzert, dass "mehrere tausend Sympathisanten der rechtsextremen Szene" sich Ende Woche an einem Konzert treffen könnten, sagt Mediensprecherin Isabelle Graber gegenüber der NZZ. Daraufhin informierte der NDB die kantonalen Nachrichtendienstoffiziere sowie das Grenzwachtkorps. Als beim NDB kurz darauf bekannt wurde, dass das Konzert im Raum Zürich stattfinden könnte, informierte der Nachrichtendienst wiederum die Zürcher sowie die St. Galler Kantonspolizei.

 

Am Tag der Veranstaltung wurde die Kantonspolizei dann gegen 15 Uhr noch über den genauen Ort der Veranstaltung informiert. "Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits grössere Ansammlungen von Konzertbesuchern am Veranstaltungsort und es war nicht mehr möglich, die Durchführung der Veranstaltung zu verhindern," rechtfertigt die Kantonspolizei St. Gallen in einer Pressemitteilung ihre Passivität. Die Verfolgung möglicher strafbarer Handlungen habe in dieser Situation keine Priorität gehabt. Um dieses Konzert zu verhindern oder abzubrechen, wären hunderte von Einsatzkräften erforderlich gewesen. Der Ausgang einer solchen Intervention sei mit Gefahren für Beteiligte und auch Unbeteiligte verbunden gewesen, heisst es in der Pressemitteilung weiter. Dass das maximale Fassungsvermögen der Halle von 2000 Personen mehrfach überschritten wurde, und die Veranstaltung somit auch aufgrund feuerpolizeilicher Bedenken hätte verhindert werden müssen, wird in der Pressemitteilung nicht erwähnt.

 

Wie der NDB gegenüber der NZZ erklärte, habe er für die deutschen Musiker keine Einreiseverbote beantragen können, da die "aktuellen Gewaltbezüge der Bands" nicht vorlagen. Um die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht einzuschränken, unterscheidet das Schweizer Gesetz nämlich zwischen politischem Extremismus und gewalttätig-extremistischen Tätigkeiten. Nur Personen, die ein direktes Gewaltpotential aufweisen, können an der Einreise in die Schweiz gehindert werden. Gewaltaufrufe scheinen nicht unter dieses Gesetz zu fallen, denn obwohl Bands wie Stahlgewitter für Texte wie "Haut sie von der Straße, steckt sie in den Knast oder in den Steinbruch—so einfach ist das," bekannt wurden, konnten die Bandmitglieder problemlos in der Schweiz auftreten.

 

Angezeigt wurden der Veranstalter und die Musiker erst am Mittwoch von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Wann und wie sich die Staatsanwaltschaft St. Gallen mit dem Fall beschäftigt, ist aber noch unklar.

 

Antifa Bern machte den Neonazi-Auflauf publik

 

Die Veranstaltung wurde öffentlich erst bekannt, als die Antifa Bern den Flyer auf Twitter postete:

 

Rechtlich verantwortlich für die Veranstaltung ist der Deutsche Matthias Melchner, der in Rüti (ZH) als Koch arbeitet und Mitbesitzer eines einschlägig bekannten Tattoo Studios in Rapperswil ist, das auf seiner Facebook-Seite unter anderem Fotos von Tattoos veröffentlicht, die Nazi-Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg abbilden.

 

Melchner schloss mit der Halle den Mietvertrag für die Konzerte ab, wie Gemeindepräsident Züllig gegenüber Zeit online bestätigte. Der Recherche-Blog Thüringen Rechts Aussen schätzt den Umsatz der Veranstaltung auf 150.000 Euro, die Eintrittskarten wurden im Vorverkauf für 30 Euro angeboten. Das Geld landete auf auf dem Konto des Saalfelder Neonazis David Heinlein, der seine Kontonummer bereits bei früheren Konzertveranstaltungen in Thüringen zur Verfügung gestellt hatte. Über den Verwendungszweck des Gewinns aus der Veranstaltung kann nur spekuliert werden. Man darf allerdings davon ausgehen, dass er nicht dem Weltfrieden zugutekommen wird.

 

Die Veranstalter des rechtsextremen Konzertabends stammen aus dem Umfeld des Blood-and-Honour-Netzwerks, das in der Vergangenheit immer wieder durch Gewalttaten gegenüber Minderheiten aufgefallen ist. Musik hat innerhalb der Szene einen wichtigen Stellenwert, da sie identitätsstiftende, politische Botschaften verbreitet und besonders junge, orientierungslose Leute anspricht. Die Neonazis nutzen solche Veranstaltungen als Plattform, um sich international weiter zu vernetzen und um Nachwuchs zu rekrutieren. Zudem stärken solche Veranstaltungen den Gruppenzusammenhalt und dienen als Finanzierungsquelle. Gemäss dem antifaschistischen Magazin Lautstark fand unter dem Titel "Rock fürs Vaterland" zuletzt am 1. August 2015 im Zürcher Schönenberg ein von Blood and Honour organisiertes Konzert statt. Dabei trat die Schweizer Neonazi-Band Amok zusammen mit drei weiteren rechtsextremen Bands aus dem Ausland auf, jedoch nur vor wenigen hundert Leuten. Wie Szenekenner Fabian Eberhard gegenüber watsonerklärte, gab es in der Vergangenheit regelmässig kleinere solche Konzerte. Dass jedoch über 5000 Neonazis aus dem In- und Ausland anreisen, stelle eine neue Dimension dar.

 

Nächstes Neonazi-Konzert bereits in Planung

 

Das nächste rechtsextreme Konzert soll im Rahmen einer PNOS-Veranstaltung bereits diesen Samstag in Rapperswil stattfinden, wo die Neonazi-Band FLAK spielen wird. Zum Auftritt der Band sagt die PNOS heute in einer Meldung auf der eigenen Webseite: "Weil dabei ein Balladensänger auftritt, reden sie (Die Journalisten) bereits von einem weiteren Rechtsrock-Konzert." Dass über 5000 Nazis am vergangenen Wochenende in Toggenburg feierten, kommt der Partei gelegen, wie sie offen zugibt: "Die PNOS profitiert zur Zeit von den täglichen Berichterstattungen, denn etwas Negatives ist zu keinem Zeitpunkt vorgefallen."

 

Die rechtsextreme Partei PNOS gründete letztes Jahr ihre eigene Kampftruppe "Ahnensturm". Wie der Blick schreibt, verstehe sich der Trupp als Kampfelite, bestehend aus Eidgenossen, die bereit sind, für ihre Ideale sehr weit zu gehen. Sowohl Name, Inhalte, sowie die in Braun gehaltene Webseite sind bewusst provokativ gewählt: "Ahnensturm" kurz AS. Die Ähnlichkeit des Kürzels zur ehemaligen Sturmabteilung SA der NSDAP dürfte kein Zufall sein. Die PNOS versucht, mit neuen Aufgaben vermehrt junge Leute an sich zu binden und ihre Attraktivität zu erhöhen. Die Gründungsmitglieder Gysin und Kunz waren beide zuvor Mitglieder der Neonazi-Organisation Blood and Honour.

 

Neonazi-Attacken in der Schweiz

 

Die Neonazi-Szene macht seit dem Jahr 2000 immer wieder Schlagzeilen. Dennoch scheint die breite Öffentlichkeit kein Bewusstsein dafür zu haben, mit welcher Brutalität Neonazis auch hierzulande vorgehen.

 

Im Sommer 2001 wurde der Rabbiner Abraham Grünbaum beim Hallwylplatz im Zürcher Kreis 4 erschossen, als er auf dem Weg zu seiner Synagoge war. Man vermutete ein rassistisches Motiv, da die 1000 Franken, die Grünbaum in bar auf sich trug, nach der Tat nicht entwendet wurden. Die Ermittlungen im Mordfall wurden eingestellt, weil keine Spur zu einem Täter führte. Dies änderte sich im Jahr 2011, als die Verbrechen der rechtsextremen Terrorzelle NSU bekannt wurden. Man vermutete, dass der Rabbi-Mord mit den "Döner-Morden", wie die Deutsche Boulevardpresse die Mordserie abfällig bezeichnet, in Zusammenhang stehen könnte, da die Taten in ihrem Hergang grosse Ähnlichkeit aufwiesen und auch zeitlich aneinander gekoppelt waren.

 

Der selbsternannte "Nationalsozialistische Untergrund" ermordete zwischen 2000 und 2007 mindestens neun Menschen, übte Bombenanschläge und Raubüberfälle aus. Die Tatwaffe für die Morde sei über einen Mittelsmann in der Schweiz nach Deutschland gekommen. MDR Thüringen berichtete weiter, dass die Rechtsterroristen bei ihrem Urlaub auf Fehmarn mit einem Auto mit Schweizer Nummernschild unterwegs waren. Dass die NSU-Terroristen auch für den Mord an Grünbaum verantwortlich waren, konnte allerdings nie bewiesen werden.

 

Es kommt in der Schweiz immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Neonazis. Wie die Rundschau in einem TV-Beitrag berichtet, gingen beispielsweise im Juni 2007 ca. 20 Rechtsextreme auf Mitglieder der JUSO los. Auch Mitglieder der Band Amok waren—wie auf dem Fahndungsvideo der Polizei zu sehen ist—bei dem Angriff auf die JUSO-Aktivisten in Glarus mit von der Partie.

 

Zuletzt wurde im Sommer 2015 im Zürcher Stadtteil Wiedikon, das als jüdisches Viertel bekannt ist, ein orthodoxer Jude von einem 20-köpfigen Neonazi-Mob verfolgt, bespuckt und bedroht. Angeführt wurden die Neonazis vom Amok-Sänger Kevin Gutmann, der in einem seiner Songtexte den Journalisten Hans Stutz mit dem Tod bedrohte. Der Journalist zeigte die Band an, was zum Verbot des Tonträgers führte. Dennoch trat die Band auf Konzerten des rechten Milieus immer wieder auf.

 

Die Schweiz darf Neonazis keine Plattform geben

 

Wie die Vorfälle in der Neonazi-Szene der Schweiz zeigen, lassen sich Musik, Hetze und tätliche Angriffe nicht voneinander trennen. Rechtsrock-Konzerte als friedliche Musikevents abzutun, zu tolerieren oder eine einzelne Gemeinde dafür verantwortlich zu machen, ist nicht nur scheinheilig, sondern auch gefährlich. Denn dadurch sendet die Schweiz das falsche Signal ans Ausland: Sie positioniert sich als Event-Paradies für Neonazis.