Wachstumsstadt Leipzig „Wir brauchen jedes Jahr 4500 neue Wohnungen“

Erstveröffentlicht: 
18.06.2016

Leipzig platzt aus allen Nähten. Jedes Jahr lassen sich über 10 000 Menschen neu nieder; im Jahr 2030 könnten hier rund 720 000 Leipziger leben. Die LVZ zeigt in einer Serie, wie die Boomtown ihre Weichen für die Zukunft stellt. Heute: ein Interview mit Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau (parteilos) zum Thema, wie die Stadt für genügend Wohnraum sorgen will.

 

Wie viele Wohnungen müssen pro Jahr gebaut werden, um mit dem starken Wachstum in Leipzig Schritt zu halten?


Etwa 4500 – zumindest gehen wir nach der jüngsten Bevölkerungsprognose vom Frühsommer von dieser Größenordnung aus. Noch in diesem Jahr werden wir eine neue Wohnungsmarktprognose vorlegen. Damit wird der Bedarf präzisiert, auch auf Grundlage der aktuellen Daten zur Zuwanderung und den Baufertigstellungen.

 

Für 2014 standen in der Fertigstellungsstatistik nur 1000 neue Wohnungen. Wie wollen Sie zeitnah auf 4500 kommen?


Die Statistik ist da nicht sehr aussagekräftig, sie erfasst im Grunde nur größere Neubauten. Im Stadtbild sind die Kräne und Gerüste jedoch überall zu sehen. Wir erwarten, dass für 2015 schon ein deutlich höherer Wert erreicht wurde – bis zu 1500.

 

Sind das nicht immer noch viel zu wenig?


Sie dürfen nicht vergessen, dass Leipzig nach wie vor Wohnungsleerstände hat und jährlich rund 1500 Wohnungen durch Sanierungen ruinierter Gebäude wieder auf den Markt kommen. Der Leerstand schmilzt allerdings rasant. Langfristig benötigen wir deshalb über 3000 Wohnungen im Neubau, um den Bedarf der wachsenden Stadt zu decken. Wenn man die vielen, vielen kleinen Maßnahmen privater Eigentümer hinzu nimmt – vom Einfamilienhaus über eine Dachgeschossnutzung bis zum Anbau für eine Einliegerwohnung – ließe sich damit ein Mangel vermeiden. Es ist ja gerade der Wohnungsmangel, der in anderen Metropolen zu extrem steigenden Mieten führt.

 

In Leipzig wird geschimpft, wenn Neubauten für Kaltmieten ab acht Euro angeboten werden. Gibt es dagegen kein Mittel?


Unser Problem ist, dass die meisten neuen Häuser im hochpreisigen Segment liegen. Zumindest, wenn man es am recht niedrigen Niveau der Bestandsmieten von 5,50 Euro misst. Grund dafür sind nicht zuletzt gesetzliche Rahmenbedingungen und damit erheblich gestiegene Baukosten. Das Thema gehört schleunigst auf der Bundes- und Landesebene angepackt.

 

Wo ließen sich denn Kosten sparen?


Zum Beispiel bei der Vorschrift, dass für jede neu errichtete Wohnung Auto-Stellplätze geschaffen werden müssen. Das passt nicht mehr ins Zeitalter von kompakten Städten, E-Bikes, Mobilitätsstationen, Car-Sharing und Fernbussen. Völlig abstrus wird dieses Gesetz, wenn in Grünau auf einer Abrissfläche ein neues Haus entstehen soll. Dann wird dort auch pro Wohnung ein neuer Parkplatz verlangt, obwohl es ringsum genug Stellplätze gibt. In den geplanten Quartieren nahe des Hauptbahnhofs versuchen wir bereits, da bessere Lösungen zu vereinbaren.

 

Was unternimmt die Stadt sonst noch, um die Mieten bezahlbar zu halten?


Der Stadtrat hat das neue wohnungspolitische Konzept beschlossen. Dessen Umsetzung gehen wir gerade an. Es enthält etliche Unterstützungsangebote für alle, die sich mit Eigeninitiative bezahlbaren Wohnraum schaffen oder sichern möchten. Bei Großprojekten werden die Investoren in Zukunft verpflichtet, bis zu ein Drittel der neuen Wohnungen zu günstigen Konditionen bereitzustellen.

 

In München gibt es dieses Modell schon seit Jahrzehnten. Dort heißt es: Soziale Bodenordnung. Viele Fachleute glauben, es habe sogar Mitschuld daran, dass die Münchner heute die höchsten Mieten in Deutschland berappen. Stimmt das nicht?


Sicher steigen dadurch die Mieten in den anderen Wohnungen. Doch das ist nicht unser Ansatz. Wir hoffen, auch hier Mittel des sozialen Wohnungsbaus einsetzen zu können. Jedoch kam der entsprechende Programm-Entwurf des Freistaates Sachsen bei den Akteuren des Wohnungsbaus – egal ob privat, genossenschaftlich organisiert oder kommunal – bisher weit weniger gut an als das neue Programm zum sozialen Wohnungsbau in unserem Nachbarland Thüringen. Dort wird es sehr gut angenommen. In Sachsen, so sagen die Praktiker vor Ort, fehlten bei dem Entwurf mindestens 300 Euro pro Quadratmeter für die Wirtschaftlichkeit eines Neubaus. Außerdem ist das Volumen des Programms viel zu klein.

 

Wie viele Sozialwohnungen werden denn pro Jahr benötigt?


Ohne den Bedarf für Flüchtlinge, der schwer einschätzbar ist, müssten jährlich etwa 500 Wohnungen mit Mietpreis- und Belegungsbindung für Haushalte mit geringem Einkommen neu geschaffen werden. Das entspricht einer Fördersumme zwischen 23 und 30 Millionen Euro.

 

Und was plant der Freistaat ein?


Das reicht kaum für die Hälfte.

 

Kritiker sagen, Leipzig weise zu wenig Bauland aus. Das treibe die Bodenpreise nach oben, was letztlich auch zur Steigerung der Mieten führe. Ist das auch falsch?


Absolut. In unserem Stadtentwicklungsplan sind alle freien Wohnbauflächen von über 3000 Quadratmetern ausgewiesen. Insgesamt sind das weit über 500 Hektar. Davon verfügen zwei Drittel über einen rechtskräftigen Bebauungsplan oder fallen unter Paragraf 34 des Baugesetzbuches, was ebenfalls einen zügigen Start von Vorhaben ermöglicht. Darüber hinaus stehen in riesigem Umfang kleine Standorte zur Nachverdichtung, auf Brachen oder in Baulücken, zur Verfügung. Auf absehbare Zeit kann sich Leipzig also organisch entwickeln – ohne neue Großsiedlungen am Stadtrand. Unser noch recht dünner Speckgürtel wird trotzdem dicker. Dagegen gibt es auch gar nichts einzuwenden, denn nur gemeinsam mit der Region kann die Stadt – von Industrieansiedlungen bis zum Tourismus – auf Dauer erfolgreich bleiben.

 

Warum steigen die Bodenpreise so stark?


Unter anderem sind es Spekulationen, auch die allgemeine Flucht vor niedrigen Zinsen in Immobilien. Leipzig als die am schnellsten wachsende Stadt in Deutschland erscheint da wie ein sicherer Hafen. Wir als Verwaltung können nur ein Kompass für die Investoren sein, ihnen erklären, was tatsächlich auf dem Wohnungsmarkt gebraucht wird. Ich glaube, dass zum Beispiel kleinere, überschaubare Grundrisse mit mehreren Zimmern im Trend liegen. Das gab`s schon mal in den Zwanziger- und dann wieder in den Fünfzigerjahren. Für viele Singles, Senioren, Alleinerziehende mit Kind oder junge Paare könnten solche Quartiere – passgenau ausgestattet – sehr attraktiv sein. Aufgrund der geringeren Quadratmeterzahl bleiben sie auch bei etwas höheren Mieten erschwinglich sowie für Hartz-IV-Bezieher als angemessen förderbar.

 

Was haben Wachstumsmetropolen wie Berlin oder München falsch gemacht, wenn dort zuletzt massenhaft ärmere Schichten fortziehen mussten? Was kann Leipzig aus diesen Erfahrungen lernen?


Die wichtigste Lehre ist, rechtzeitig den Neubau anzukurbeln. In Berlin, wo ich bis 2006 die Stadtentwicklung im Bezirk Mitte leiten durfte, hieß es damals: Wir haben 10 000 leere Wohnungen, wozu brauchen wir Neubau? Eigentlich wurde dort erst vor drei Jahren umgeschwenkt, also viel zu spät. Übertragen auf Leipzig hieße das, wir müssten jetzt noch zehn Jahre lang tatenlos zuschauen wie sich der Markt von allein entwickelt. Aber das tun wir nicht. Deshalb glaube ich, dass Leipzig nicht in eine derartige Notsituation wie unsere Hauptstadt kommen wird.

 

Wo viel gebaut wird, verschwinden grüne Nischen und das Vogelgezwitscher. Wie wollen Sie die Lebensqualität sichern?


Es gibt Beispiele wie die Nachbarschaftsgärten in Lindenau, bei denen wir die Nutzer beim zumindest teilweisen Erhalt grüner Oasen unterstützen. Andernorts schafft die Stadt auch neue Grünzüge: den Bürgerbahnhof Plagwitz, Grünauer Stadtwald oder Parkbogen Ost. Der Masterplan für den Parkbogen samt Höhenradweg über einen Viadukt wurde jetzt überarbeitet und weit realistischer. Gleich nach der Sommerpause sollen dazu die Diskussionen mit dem Stadtrat beginnen.

 

Von Jens Rometsch