Haftbefehl gegen V-Mann nicht vollstreckt

Erstveröffentlicht: 
22.06.2016

Neonazi Ralf Marschner alias V-Mann "Primus" ist eine Schlüsselfigur für die Aufklärung des NSU-Komplexes. Er hätte schon 2012 festgenommen werden können. Seit Jahren lebt er in der Schweiz.

 

Gegen Ralf Marschner, Neonazi aus Zwickau und ehemaliger V-Mann, liegt seit 2012 ein Haftbefehl vor, der noch immer nicht vollstreckt worden ist. Marschner hatte dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) von 1992 bis 2002 als V-Mann "Primus" berichtet. Er war in Zwickau eingesetzt, der Stadt, in der Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe vom Jahr 2000 an gelebt hatten. Seit 8. November 2011 sitzt Zschäpe in Untersuchungshaft, vier Tage zuvor hatten sich ihre Komplizen nach einem Banküberfall das Leben genommen.

 

Marschner soll laut Zeugenaussagen Zschäpe und Mundlos in zwei seiner Unternehmen beschäftigt haben. Der V-Mann hat unter anderem eine Baufirma und einen Laden betrieben, in dem er unter anderem Kleidung verkauft hat. 

 

Strafe wegen Insolvenzverschleppung


Der offene Haftbefehl hängt mit einer der Firmen Marschners zusammen. Die M. u. M. Vertriebs GmbH war 2007 pleitegegangen, Marschner hatte es jedoch versäumt, die Insolvenz zu melden – dazu wäre er aber als Geschäftsführer verpflichtet gewesen. Stattdessen hatte er sich 2007 fluchtartig ins Ausland abgesetzt. In Abwesenheit wurde Marschner 2009 wegen Insolvenzverschleppung zu einer Zahlung von 90 Tagessätzen à 50 Euro verurteilt – insgesamt hatte er also 4500 Euro zu zahlen.

 

Da Marschner den Betrag auch im Dezember 2012 noch nicht beglichen hatte, beantragte die Chemnitzer Staatsanwaltschaft einen Vollstreckungshaftbefehl gegen Marschner, wie eine Sprecherin der Behörde der "Welt" mitteilte. Demnach leitete die Staatsanwaltschaft keine weiteren Schritte ein, da Marschner bei Nichtzahlung maximal eine dreimonatige Haftstrafe gedroht hätte.

 

Allerdings wurde ebenfalls 2012 bekannt, dass Marschner inzwischen in der Schweiz lebt und er als V-Mann des BfV eine zentrale Rolle im NSU-Komplex spielen könnte. Trotzdem hat die zuständige Staatsanwaltschaft danach nichts unternommen, um den Haftbefehl gegen Marschner vollstrecken zu lassen. So wurde kein Auslieferungsersuchen bei Schweizer Behörden gestellt. Ob man das nun nachholt, prüfe man jetzt, hieß es vonseiten der Staatsanwaltschaft in Chemnitz gegenüber der "Welt". 

 

Haftbefehl in Fahndungssystem eingespeist


Der Haftbefehl gegen Marschner wurde zudem in das Fahndungssystem Inpol der Polizei eingespeist. Das ist deswegen wichtig, weil auch das Bundeskriminalamt (BKA) Zugriff auf diese Daten hat. Das BKA wiederum hat sich intensiv seit Anfang 2012 – nach dem Auffliegen des NSU – mit dem Fall Ralf Marschner beschäftigt. Denn früh hatten Zeugen gegenüber dem BKA ausgesagt, dass sie Böhnhardt und Mundlos zusammen mit Marschner gesehen haben wollen.

 

Im Beisein von BKA-Beamten wurde Marschner auch deshalb in den Jahren 2012 und 2013 von Schweizer Staatsanwälten als Zeuge im NSU-Verfahren verhört. Er wurde intensiv zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe befragt. Marschner leugnete in den Vernehmungen, dass er die drei kannte. Der Haftbefehl, so heißt es aus Schweizer Justizkreisen, kam bei den Verhören Marschners nicht zur Sprache.

 

Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft, die für die Ermittlungen in Sachen NSU verantwortlich ist, erklärte der "Welt", dass den Beamten des BKA der Haftbefehl bekannt sei. Der gelte jedoch nur für Deutschland, und es sei deshalb nicht möglich gewesen, ihn im Ausland zu vollstrecken. 

 

Marschner betreibt Laden in Liechtenstein


Im Zuge der Selbstenttarnung des NSU waren untergetauchte, per Haftbefehl gesuchte Neonazis ein brisantes Thema in diversen NSU-Untersuchungsausschüssen. Denn auch gegen die mutmaßlichen Kernmitglieder des NSU – Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos – lagen seit 1998 Haftbefehle vor, die aber nie vollstreckt wurden, weil die drei sich mithilfe von anderen Rechtsextremisten in den Untergrund abgesetzt hatten.

 

Erst jüngst musste das Bundesinnenministerium zugeben, dass aktuell 441 Neonazis per Haftbefehl gesucht werden, aber nicht auffindbar sind. Ralf Marschner befindet sich hingegen nicht im Untergrund, betreibt weiter offen einen Laden in Liechtenstein.

 

Der Fall des per Haftbefehl gesuchten V-Mannes Marschner wurde bekannt, weil er auf einer speziellen Liste des sächsischen Justizministeriums steht. Die Liste führt untergetauchte Neonazis aus Sachsen auf, gegen die noch nicht vollstreckte Haftbefehle vorliegen.