Wenn eine Politik ohne Mitte die Gesellschaft zunehmend polarisiert und die „Mitte“ sich radikalisiert

Erstveröffentlicht: 
15.06.2016

Alle zwei Jahre veröffentlichen die Forscher vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig eine neue Studie zum emotionalen Zustand unserer Gesellschaft, zumeist als Mitte-Studie bezeichnet, denn die Studie zeigt eben nicht nur die Ränder der Gesellschaft, sondern den zum Teil recht finsteren Zustand der sogenannten Mitte. Sieht es nicht so aus, als habe die sich gründlich radikalisiert?

 

Diese Studien sind etwas mehr als die Aufnahme einer statischen Gemütslage. Denn wenn die Ansichten von Menschen statisch wären, würden sich Gesellschaften nicht binnen so kurzer Zeit radikalisieren. Aber woran liegt das? An den Flüchtlingen?

 

Ganz bestimmt nicht.


Man ahnt so langsam, welche Rolle auch klassische Medien und Parteien bei der Radikalisierung eines ganzen Kontinents haben. Nennen wir es einfach mal: Mehrheitsbeschaffung in Zeiten der Boulevardisierung von Politik. Radikale Einstellungen in der deutschen Bevölkerung belegen die Mitte-Studien aus Leipzig seit 2002. Nur dass es bis 2012 keineswegs opportun war, diese explosiven Emotionen der unverdauten Weltwahrnehmung auch zu aktivieren. Außer ganz außen am radikalen rechten Rand.

 

Doch mittlerweile lassen sich immer größere Teile der Bevölkerung von dieser – anfangs noch – verbalen Radikalisierung mitreißen. So dass die Leipziger Forscher mittlerweile feststellen können: Die politische Einstellung der deutschen Bevölkerung ist polarisiert.

 

Während eine deutliche Mehrheit der Gesellschaft zwar rechtsextremes Denken und auch Gewalt zum Teil strikt ablehnt und Vertrauen in demokratische Institutionen hat, sind Menschen mit rechtsextremer Einstellung immer mehr bereit, zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt anzuwenden. Dies ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie „Die enthemmte Mitte“, die PD Dr. Oliver Decker und Prof. Dr. Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig in Kooperation mit der Heinrich Böll-, der Otto Brenner- und der Rosa Luxemburg-Stiftung durchgeführt und am Mittwoch, 15. Juni, in Berlin vorgestellt haben.

 

Die Wissenschaftler befragten bundesweit 2.420 Menschen (West: 1.917, Ost: 503) zu den Themen Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Chauvinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Sie gliederten die Antworten in sechs soziologische Milieus.

 

Der wichtigste Unterschied zur letzten Studie ist unübersehbar


Jene Bevölkerungsteile, die 2014 zwar menschen- und demokratiefeindliche Ansichten äußerten, aber das noch auf der verbalen Ebene beließen, neigen nach den aufgeheizten Debatten und zunehmend gewalttätigen Aktionen der letzten zwei Jahre auch selbst dazu, ihren Vorurteilen mit Gewalt Geltung zu verschaffen. Ganz so, als hätte die massive Resonanz fremdenfeindlicher Positionen in den deutschen Massenmedien geradezu den Boden dafür bereitet, dass jetzt auch gewalttätige Übergriffe als reguläre Mittel der politischen Äußerung gelten.

 

„Es gibt zwar keine Zunahme rechtsextremer Einstellungen, aber im Vergleich zur Studie vor zwei Jahren befürworten Gruppen, die rechtsextrem eingestellt sind, stärker Gewalt als Mittel der Interessensdurchsetzung“, sagt Decker. Zudem habe bei diesen Gruppen das Vertrauen in gesellschaftspolitische Einrichtungen wie die Polizei oder Parteien deutlich nachgelassen. „Sie fühlen sich vom politischen System nicht repräsentiert“, erläutert er.

 

Als Erfolg der Zivilgesellschaft könne man es – so Decker – dagegen ansehen, dass in demokratischen Milieus Gewalt deutlich stärker abgelehnt wird als 2014. „Beides steht in Deutschland nebeneinander: Wir haben Menschen, die sich aktiv um Flüchtlinge bemühen, und es gibt Menschen, die Flüchtlinge aktiv ablehnen“, sagt der Studienleiter.

 

Damit habe eine deutliche Polarisierung und Radikalisierung stattgefunden.


Was schon verblüfft, wo doch gerade Politiker der konservativen Parteien immer wieder versuchen, die Menschen mit rechtsradikalen Ansichten mit entsprechenden Sprach- und Politikangeboten „abzuholen“. Doch sie scheinen damit gerade das Gegenteil zu bewirken: Sie bestärken die radikalen Tendenzen. Die Radikalisierung zeigt sich auch und gerade bei der Einstellung zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen.

 

„Die Ablehnung von Muslimen, Sinti und Roma, Asylsuchenden und Homosexuellen hat noch einmal deutlich zugenommen“, konstatiert Brähler. 49,6 Prozent der Befragten sagten zum Beispiel, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden. 2014 waren 47,1 Prozent dieser Meinung. 40,1 Prozent erklärten, es sei ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssten (2011: 25,3 Prozent). Und 50 Prozent gaben an, sich durch die vielen Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land zu fühlen. 2014 waren dies noch 43 Prozent.

 

„Die gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen, wie etwa das liberalere Staatsbürgerrecht, der letzten Jahre in Deutschland, wird nicht von allen Teilen der Bevölkerung getragen“, interpretiert der Leipziger Sozialpsychologe den Befund.

 

Sichtbar werde diese Einstellung bei Anhängern von Pegida, die Decker als „neurechte Bewegung“ sieht.


„Wer Pegida befürwortet, ist zumeist rechtsextrem und islamfeindlich eingestellt und sieht sich umgeben von verschwörerischen, dunklen Mächten“, sagt er. Alter, Bildungsanschluss oder Haushaltseinkommen spielten dagegen keine Rolle.

 

Zu Tage bringt die Leipziger Studie auch, dass die Wähler der Alternative für Deutschland (AfD) nicht als von der Partei verführte Menschen gelten können. Im Gegenteil: Die AfD holt die rechtsradikalen Wähler da ab, wo sie mit ihren Einstellungen zur Gesellschaft schon stehen: 84,8 Prozent der AfD-Wähler gaben beispielsweise an, Probleme zu haben, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Nachbarschaft aufhalten; 89 Prozent meinten, Sinti und Roma neigen zur Kriminalität.

 

„Die meisten AfD-Wähler teilen eine menschenfeindliche Einstellung“, sagt Brähler.


Auch in der Gruppe der Nicht-Wähler sind diese Vorurteile sehr verbreitet. „Das Potenzial für rechtsextreme oder rechtspopulistische Parteien ist noch größer als es die Wahlergebnisse bislang zeigen“, so Brähler. Was die Autoren nicht extra sagten, was aber immer Hintergrund der von der Studie erfassten Ressentiments ist, das sind die Ängste der Befragten, die sich hier in Positionen der Abgrenzung, Abwertung und Gewalt verkapseln. Und das sind Ängste, die natürlich verstärkt werden durch eine dauerhaft falsche Wortwahl im politischen Diskurs (Stichwort: Framing).

 

In wesentlichen Teilen resultieren sie aber auch aus einem neoliberalen Politikverständnis, das in den vergangenen 20, 30 Jahren sämtliche Prozesse in unserer Gesellschaft zunehmend ökonomischen Zwängen untergeordnet hat. Was unter anderem dazu führt, dass gerade die neoliberal denkenden politischen Eliten nicht mehr als Mittler fungieren, sondern als Teil einer technokratischen Herrschaftselite empfunden werden. Was wahrscheinlich einer der wesentlichen Gründe dafür ist, dass rechtsradikale Ansichten in Ostdeutschland noch etwas stärker ausgeprägt sind als im Westen.

 

Rechtsextreme Einstellungen der Jugend in Ost größer


Die Unterschiede in der rechtsextremen Einstellung zwischen Ost- und Westdeutschland sind der Studie zufolge zwar nicht so groß. Als ausländerfeindlich gelten im Osten 22,7 Prozent der Befragten, 19,8 Prozent im Westen (bundesweit 20,4 Prozent). Allerdings unterscheiden sich die Ergebnisse Ost und West je nach Altersgruppe, besonders bei den zwischen 14- und 30-Jährigen. Im Osten sind 23,7 Prozent dieser Altersgruppe ausländerfeindlich, im Westen nur 13,7 Prozent.

 

Und diese jungen Ostdeutschen sind nun einmal nicht die üblichen „Wende-Verlierer“, sondern eine schon komplett in der Bundesrepublik sozialisierte Gruppe, die auch keine Diktaturerfahrung mehr hat, aber – gerade in den ländlichen Räumen des Ostens – eine zunehmende politische Ratlosigkeit erlebt. Und die auch zunehmend allein gelassen wird in einem Umfeld, in dem rechtsradikale Verhaltensweisen auch von der offiziellen Politik über Jahre zunehmend toleriert wurden.

 

Hier hat Politik der Gegenwart gründlich versagt.


„Das ist gefährlich, Einstellungen können latent sein oder manifest geäußert werden, aber sie bleiben über die Zeit stabil“, sagt Decker. Wer jetzt rechtsextreme Ansichten habe, werde diese noch einige Jahre vertreten. Zudem sei ein Großteil der jungen Menschen bereit, Gewalt anzuwenden. Das ist die Melange, aus der auch der sächsische Fremdenhass gekocht wurde und wird. Aber das ist eben nicht erst in den Jahren 2014 und 2015 herangewachsen, sondern fand mit dem Auftreten von Pegida & Co. erst sein Ventil.

 

Für die „Mitte“-Studie der Universität Leipzig werden seit 2002 alle zwei Jahre bevölkerungsrepräsentative Befragungen durchgeführt. Es gibt keine vergleichbare Langzeituntersuchung zur politischen Einstellung in Deutschland.