Interview mit Migrationsforscher "Die Maghreb-Staaten sollten sichere Herkunftsländer werden"

Erstveröffentlicht: 
17.06.2016

Rahim Hajji ist Migrationsforscher an der FH Magdeburg-Stendal. Er ist Deutscher mit marokkanischen Wurzeln. Ein Interview über die Maghreb-Abstimmung im Bundesrat, kriminelle Migranten und seine marokkanischen Eltern - geführt von MDR SACHSEN-ANHALT-Reporter Niklas Ottersbach.

von Niklas Ottersbach

 

Deutschland debattiert über den Maghreb. Sind Ihrer Meinung nach Marokko, Tunesien und Algerien sichere Herkunftsländer?


Hajji: Ich bin dafür, dass diese drei Länder zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Das zeigen auch die Anerkennungsquoten: Von 100 Marokkanern, die hier einen Asylantrag stellen, werden genau zwei Leute als Flüchtlinge anerkannt. Das heißt, diese beiden können nachweisen, dass sie politisch verfolgt werden. 98 können es nicht! Das bedeutet in der Konsequenz, dass in diesen Ländern nicht systematisch politisch verfolgt wird.

Das bedeutet ja nicht, dass Menschen, die aus diesen Ländern kommen, keinen Antrag stellen dürfen. Sie dürfen weiterhin einen Antrag stellen. Und wenn sie gute Gründe für politische Verfolgung anführen können, dann werden sie hier Asyl bekommen. 

 

Wie könnte die Einstufung als sicheres Herkunftsland, die Migration aus Marokko verändern?

 

Konkret ändert sich doch einiges. Ein Beispiel: Serbien, Albanien und Montenegro wurden 2015 zu sicheren Herkunftsländern deklariert. Dadurch hat sich allein die Zahl der albanischen Asylanträge von 11.000 auf 4.615 615 im Zeitraum Januar bis April im Vergleich zum vorangegangenen Jahr verringert. Das heißt: Wir verkleinern damit die Anzahl der Anträge von Menschen, die sowieso keine Aussicht auf Asyl hier haben. Damit schaffen wir weniger Anreize hier einen Antrag zu formulieren, was wiederum die Verwaltung in Deutschland entlastet. 

 

Und wenn der Bundesrat "Nein" zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung sagt?


Klar gibt es auch Gründe gegen dieses Gesetz zu stimmen. Nur in der Konsequenz muss man sich drüber im Klaren sein, dass dann mehr Menschen hierherkommen, die keinen Anspruch auf politisches Asyl hier haben. Und dadurch produziert man ein Stück weit gesellschaftliche Kriminalität, das nimmt man damit in Kauf. 

 

Damit sind wir bei den Migranten aus dem Maghreb, die jetzt schon hier sind. Im letzten Jahr kamen 10.000 Menschen aus Marokko nach Deutschland. Die meisten haben keine Bleibeperspektive. Auch die Rückführung nach Marokko gestaltet sich oft schwierig. Wie sollen wir mit diesen Menschen umgehen?


Hajji: Das ist eine wichtige Frage, denn: Gerade Migranten aus Ländern ohne Bleibeperspektive neigen überproportional zu Kriminalität. Das gilt für Marokko, für Algerien, aber auch für Serbien. Wir müssen uns also überlegen, wie wir diese Leute zurückführen können. Den Kontakt zu den Maghreb-Staaten zu intensivieren, halte ich da für den richtigen Weg. Was man darüber hinaus machen könnte: die Leute einbinden. Denen wenigstens die Möglichkeit zu eröffnen, einen Integrationskurs zu machen. Das heißt ja nicht, dass sie später nicht wieder abgeschoben werden können. 

 

Aber warum sollte man sich die Mühe machen, Menschen zu integrieren, die in ein paar Jahren dann wieder weg sind?


Ich würde nicht sagen, dass die Anstrengungen umsonst sind. Wenn man den Leuten die Chance eröffnet, Deutsch zu lernen, sie in die Gesellschaft holt, ist das die beste Gewalt-Prävention. Und das lohnt sich. 

 

Sie selbst sind in Dortmund geboren, Ihre Eltern stammen aus Marokko. Wie sehen Ihre Eltern die aktuelle Debatte um die Migration aus dem Maghreb?

 

Meinen Vater kann ich nicht mehr fragen, der ist schon gestorben. Meine Mutter lebt in Düsseldorf. Es ist ein innerliches Schämen darüber, wie Marokkaner ohne Papiere nach Deutschland kommen und sich hier verhalten haben. Also Scham auf der einen Seite, aber es ist, glaub ich, ganz wichtig zu sehen dass diese Kriminalität auch gesellschaftlich produziert ist. Marokkaner sind nicht per se krimineller als andere, sondern es ist die fehlende Bleibeperspektive, die junge Leute dazu führt, kriminell zu werden. 

 

Die Nachrichten von kriminellen Marokkanern kommen überwiegend aus dem Westen der Republik. Wie groß ist eigentlich die marokkanische Community in Sachsen-Anhalt?


Schwer zu sagen. Vielleicht unter 1.000 - also nicht nennenswert. Das gilt für Ostdeutschland insgesamt. Das liegt daran, dass in den 1960er-Jahren die Leute aus dem Maghreb nach Nordrhein-Westfalen gegangen sind, weil dort die Zechen standen. Oder sie sind nach Hessen zu den Industriewerken gegangen. Inzwischen werden sie teilweise über den Königsteiner Schlüssel (Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge) auch in den Osten der Republik verteilt. Das wiederum auch nur, wenn es genügend Übersetzer in den Regionen gibt, die arabisch bzw. den marokkanischen Dialekt sprechen. Davon gibt es hier nicht so viele, weshalb allein aus praktischen Gründen das Asylverfahren für Marokkaner überwiegend in Nordrhein-Westfalen stattfindet.

 

Hintergrund Rahim Hajji ist 38 Jahre alt, in Bonn aufgewachsen und lehrt seit drei Jahren an der Fachhochschule Magdeburg-Stendal. Fachgebiet: Migrationsforschung, empirische Sozialforschung und Gesundheitsökonomie. Außerdem ist er Mitglied im "Deutsch-Marokkanischem Kompetenznetzwerk". Er hat ein Buch über die marokkanische Migrationsgeschichte in Deutschland geschrieben ("Jenseits von Rif und Ruhr: 50 Jahre marokkanische Migration nach Deutschland").