Wenn Fantasie Wirklichkeit wird

Erstveröffentlicht: 
23.12.2015
Das britische TV-Drama „Der Marsch“ erzählte 1990 prophetisch von einer afrikanischen Völkerwanderung, die Europa flutet VON NORBERT WEHRSTEDT

 

Es war die Woche der Besorgten. Damals, im Mai 1990. Eine Welt für alle, nannte sie die ARD und strahlte am 20. Mai nach der „Tagesschau“, zusammen mit 20 weiteren Staaten, das BBC-Afrika-Drama „Der Marsch“ aus. Auch das Babelsberger DFF 2 der noch existenten DDR beteiligte sich. Die ARD ließ der Ausstrahlung eine Diskussion zum Film folgen. Der würde, meinten etliche in der Talk-Runde, vor allem eines tun: ziemlich schwarz sehen.

 

25 Jahre später ist „Der Marsch“, der nun endlich auf DVD vorliegt, unversehens zum visionären Zukunfts-Blick geworden. Der damals 42-jährige Autor William Nicholson, inzwischen hochgelobter Drehbuchschreiber in Hollywood („Nell“, „Gladiator“, „Les Misérables“, „Everest“), erzählte von einem Alptraum: Die dramatische Geschichte einer afrikanischen Völkerwanderung, die vor den Mauern der Festung Europas auftaucht.

 

Alles beginnt in den Hungerlagern im Sudan. Seit fünf Jahren hat es nicht mehr geregnet, Millionen Afrikaner vegetieren ohne Hoffnung in Hitze und Staub. Die Irin Clare Fitzgerald, EU-Kommissarin für Entwicklung, fliegt mit Stab ein, sieht mit Erschrecken die Misere, stößt bei der EU aber auf taube Ohren und hinhaltende Debatten. Keiner will helfen, zu viele Millionen sind bereits auf dem Kontinent versickert für die Paläste der Diktatoren, Luxusgüter, Waffen und Stammeskriege.

 

Da passiert etwas völlig Überraschendes. Geführt von Isa El-Mahdi ziehen die Hungernden los – entlang der alten Salzstraße, durch die Wüste, durch Libyen, Algerien, Marokko. Ihr Ziel: Gibraltar. Der Zug wird von Bewaffneten überfallen und ausgeplündert, doch immer mehr schließen sich El-Mahdi, dem Messias, an – bis 250 000 an der Meerenge stehen und übersetzen wollen. Seht zu, wie wir sterben, ist der Marschruf der Vergessenen. Das Fernsehen berichtet, ein farbiger US-Präsidentschaftskandidat macht PR für sich und berät El-Mahdi, während Clare bei der EU endlich doch noch einen Nothilfeplan über 50 Millionen bekommt. Der allerdings kommt längst zu spät.

 

„Der Marsch“ senkte filmisch die Sonde zivilisatorischen Unbehagens in die Nord-Süd-Diskussionen jener Jahre. Immer wieder ist die Rede vom Klimawandel, vom Verschwenden der reichen und dem Martyrium der armen Länder, von der afrikanischen Hoffnungslosigkeit und der globalen Apartheid. Das ist allerdings oft zu deutlich und lehrbuchhaft zu hören. „Was ist bloß passiert mit der Welt“, fragt Clare einmal vor dem Haus ihrer Mutter, deren Demenz zum Menetekel wird: Gedächtnisschwund und Verdrängung als europäische Krankheit.

 

Wenn im riesigen Leidens-Camp der gewaltlose Aufstand der marschierenden Füße beginnt, gelingen Regisseur David Wheatley (1949 – 2009) und John Hooper hinter der Vollbildkamera beeindruckende Ansichten in David-Lean-Manier: fließender Sand, Schleier in der Luft, Staubfahnen, Hitze und Sonnenglast. Der Zug wird ausgelaugt und erschöpft. Das Fernsehen holt das ferne Sterben in Europas Wohnzimmer, Besorgte fordern: Wir müssen uns einschränken – oder kämpfen. „Wir sind arm, weil ihr reich seid“, bringt El-Mahdi, der bald als afrikanischer Gandhi gilt, die große Wanderung auf einen griffigen Slogan. Eine Herausforderung. Eine Chance im öffentlich-rechtlichen Hauptprogramm hat die filmische BBC-Prophetie „Der Marsch“ trotz der Flüchtlingsströme heute nicht mehr. Das Erste versteckte ihn gerade erst im September auf die Stunde nach Mitternacht. Vielleicht, weil er die europäische Ratlosigkeit gnadenlos vorführt. Dazu passt dann auch das Finale des Marschmarathons.

 

Die ersten Boote mit den Afrikanern landen an Europas Küste, ein Junge feuert eine gefundene Pistole freudig in die Luft – und wird von einem der längst aufmarschierten Soldaten erschossen. Die Armada der Afrikaner hält sein Tod nicht auf. Der Sonnenstrand mit seinen Liegen und Schutzschirmen wird geflutet, dann der Ort mit verlockenden, vollen Schaufenstern. Der Blick auf den gefüllten Tisch endet vor einer Mauer bewaffneten Soldaten. Das Bild erstarrt. „Wir sind noch nicht bereit für euch“, sagt Clare.

 

„Der Marsch“ malte eine Zukunft, die damals keiner wirklich glaubte und die inzwischen längst Wirklichkeit geworden ist. Darin liegt die Stärke der BBC-Produktion, weniger im aufklärerischen Ton.

 

Der Marsch, GB 1990, Regie: David Wheatley, 95 Minuten, Bildformat: 4:3 (Vollbild), mit Juliet Stevenson, Malick Bowens