„Wir sind doch kein Einwanderungsland“

Erstveröffentlicht: 
30.10.2015
CSU erhöht Druck auf die Kanzlerin für eine Korrektur der Flüchtlingspolitik – und fordert Abschiebungen

Von Dieter Wonka

 

Berlin. In Berlin halten sich hartnäckig Gerüchte, im Streit um die Flüchtlingspolitik könne ein Koalitionsbruch bevorstehen. Zieht die CSU ihre Bundesminister zurück, wenn es keine Verständigung geben sollte? Der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat versichert, dass seine Partei im Ringen um die richtige Flüchtlingspolitik nicht vor der Regierungsverantwortung davonlaufen werde. Gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland, zu dem auch diese Zeitung gehört, sagte Friedrich: „Die CSU hat den Anspruch, bundespolitisch zu gestalten und ist immer bereit, Verantwortung für die Politik in Deutschland zu übernehmen.“

 

Friedrich, der jetzt zum Kreis der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gehört, zieht einen Vergleich der heutigen Koalitionskrise mit dem Trennungsbeschluss der CSU von 1976. Die Gleichsetzung beider Entwicklungen sei „völlig falsch“, meint er. Damals, wenige Wochen nach einer verlorenen Bundestagswahl, sei es um die optimale Ausschöpfung des konservativen Wählerpotenzials und nicht um unterschiedliche inhaltliche Positionen gegangen. Heute, so Friedrich, gebe es in der CSU „keinerlei Pläne für eine bundesweite Ausdehnung“.

 

Klare Erwartungen richtet Friedrich an das sonntägliche Spitzengespräch zwischen den drei Parteichefs der Großen Koalition. „Notwendig ist die klare Einsicht, dass Deutschland und Europa nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen können und wollen. Auch Angela Merkel muss ihr weiteres Handeln an dieser politischen Einsicht ausrichten.“ Verbunden damit sei die Schlussfolgerung, dass Europa seine Außengrenzen sichern müsse, wenn die Aufnahmefähigkeit erschöpft sei. „Die Sicherung der EU-Außengrenzen muss so dicht sein, dass nur noch der rein kann, den wir auch reinlassen wollen.“

 

Außerdem sei Deutschland „kein klassisches Einwanderungsland“, fügte der CSU-Politiker hinzu. Es gebe keinen Schmelztiegel aus zuwandernden Kulturen. „In Deutschland gibt es eine vorhandene Kultur, in die sich die Einwanderer integrieren müssen.“

 

Debatte um Abschiebungen: Zur Frage der Rückführungen stellt Friedrich klar: „Auf den Westbalkan kann abgeschoben werden, aber auch in anderen Herkunftsländern wie Afghanistan und Pakistan gibt es Fluchtalternativen innerhalb der Länder, die eine Abschiebung erlauben.“ Ehe es zu Rückführungen kommen könne, müssten aber die Verhandlungen mit Kabul über ein entsprechendes Abkommen abgeschlossen werden. Der Sprecher des Flüchtlingsministeriums in Afghanistan, Islamuddin Dschurrat, betonte: „Zwar haben vorläufige Gespräche begonnen, aber es gibt noch keine Vereinbarung darüber, dass Deutschland Flüchtlinge nach Afghanistan zurückführt.“ Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte zuvor die hohe Zahl von Asylbewerbern aus Afghanistan als „inakzeptabel“ bezeichnet. Ziel sei es, gemeinsam mit der afghanischen Regierung dafür zu sorgen, dass es mehr Rückführungen nach Afghanistan gebe. „Die Menschen, die als Flüchtlinge aus Afghanistan zu uns kommen, können nicht alle erwarten, dass sie in Deutschland bleiben können – auch nicht als Geduldete.“

 

Gespräche in Athen: Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verhandelt seit gestern mit griechischen Regierungsvertretern über das Flüchtlingsthema. Es geht um die Frage, wie die Zuwanderer in Griechenland besser versorgt werden können – und wie es möglich werden kann, ihre Asylbegehren auf Griechenland selbst zu beschränken. Im Gespräch sind sogenannte „Hotspots“ – nämlich winterfeste Lager, in denen ankommende Flüchtlinge vorläufig und für längere Zeit unterkommen können.

 

Neue Kostenschätzung: Der Deutsche Städtetag rechnet mit drastisch steigenden Kosten für die Versorgung und Integration von Flüchtlingen im kommenden Jahr. Je nach unterstellten Flüchtlingszahlen könnten 2016 Ausgaben zwischen sieben und 16 Milliarden Euro anfallen, sagte der Finanzdezernent des kommunalen Spitzenverbands, Helmut Dedy, am Donnerstag in Berlin.

 


 

Chaos an der Grenze zu Österreich

An der deutsch-österreichischen Grenze strömen ungeachtet überfüllter Notquartiere unaufhörlich Flüchtlinge nach Bayern. Allein bis Donnerstagmittag kamen etwa 1200 Migranten an den Grenzübergängen Passau und Wegscheid an, wie die Bundespolizei mitteilte. Insgesamt hätten die österreichischen Behörden etwa 50 Busse mit bis zu 3000 Flüchtlingen für den Raum Passau angekündigt, sagte der Sprecher der Bundespolizeiinspektion Freyung.

 

Zuletzt waren meist mehr Busse als vorher gemeldet von österreichischer Seite zur Grenze gefahren. Am Donnerstagvormittag waren die Notquartiere für Flüchtlinge im Raum Passau noch komplett überfüllt. Erst gegen 3 Uhr in der Nacht waren die letzten wartenden Flüchtlinge von den Grenzorten in die Unterkünfte gebracht worden. „Die Menschen mussten länger in der Kälte ausharren, als uns lieb war“, erklärte die Bundespolizei. Die Temperaturen lagen im Grenzort Wegscheid auf 700 Metern Höhe nachts bei zwei Grad. „Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das erste Baby hier erfriert“, sagte Lothar Venus von der Stabsstelle des Landkreises Passau.

 

Im Lauf des Donnerstags waren vier Sonderzüge von Passau geplant, die mehr als 2000 Menschen in andere Bundesländer verteilen sollten. Die Züge sollten unter anderem nach Köln, Hannover und ins thüringische Saalfeld fahren. Auch in den kommenden Tagen ist ein Ende des Zustroms von Flüchtlingen nicht in Sicht.

 

Auf der sogenannten Balkanroute durch Kroatien, Slowenien und Österreich sind weiter Tausende Menschen unterwegs. In Slowenien trafen in der Nacht zu Donnerstag mehr als 5000 Flüchtlinge aus Kroatien ein. Seit Ungarn Mitte des Monats seine Grenze zu Kroatien mit einem Sperrzaun abgeriegelt hat, sind 102 757 Menschen auf der Balkanroute durch Slowenien gekommen. Das kleine Land leitet sie zur österreichischen Grenze weiter. Einige Tage später erreichen sie die deutsche Grenze.