Die Grauen Wölfe werden unterschätzt

Erstveröffentlicht: 
23.09.2015

In Deutschland und der Schweiz kommt es vermehrt zu gewalttätigen Zusammenstössen zwischen Kurden und türkischen Nationalisten – den Grauen Wölfen. Diese finden unter Jugendlichen Zulauf.

 

Nationalisten haben in der Türkei 300 Parteibüros der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) angegriffen, sie stürmten bereits zum zweiten Mal die Redaktion der regierungskritischen Tageszeitung «Hürriyet» und verletzten 27 Menschen beim Angriff auf Unterkünfte kurdischer Saisonarbeiter. Die Gewalt hält das Land, das sich seit dem Ende des Waffenstillstands zwischen der türkischen Armee und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zumindest in Teilen in bürgerkriegsähnlichem Zustand befindet, fest im Griff.

Und diese Gewalt schwappt wegen der türkischen Diaspora zusehends auch auf Deutschland und in die Schweiz über. Am letzten Wochenende kam es in Köln zu einer Schlägerei, nachdem türkische Nationalisten vor einem kurdischen Gesellschaftszentrum provoziert hatten. Eine Woche zuvor gab es Gewaltexzesse: In Hannover wurde am Rande einer Auseinandersetzung ein Kurde mit einem Messer verletzt, und in Bern gab es bei Zusammenstössen 22 Verletzte. Unter anderem war ein Auto in eine Menschenmenge gerast.

 

Immer treffen dabei die gleichen Gruppierungen aufeinander: die Grauen Wölfe und Kurden, welche der PKK mehr oder weniger nahestehen. «Die Grauen Wölfe haben ein breites Spektrum», sagt der deutsche Historiker Nikolaus Brauns. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), drittstärkste politische Kraft in der Türkei, zählt er ebenso dazu wie die rechtsextreme islamistisch-nationalistische Partei der Grossen Einheit (BBP) und Osmanenvereine, die am Rande der Regierungspartei Recep Tayyip Erdogans anzusiedeln sind. Die MHP ist die Urorganisation und der politische Arm der Grauen Wölfe.

 

Tausende Morde zu verantworten

 

Graue Wölfe hetzen gegen Kurden, Armenier, Juden oder Christen. «Die mit der Höherbewertung des Türkentums einhergehende Abwertung anderer Ethnien gibt ihrem Nationalismus den charakteristischen Zug des Rassismus», sagt Marwan Abou Taam, Islamexperte beim Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz. In der Türkei würden die Grauen Wölfe für Tausende Morde verantwortlich gemacht. In Europa, sagt Brauns, seien die Grenzen fliessend zwischen Unterstützung von Erdogan und Übergriffen. Aber egal, wer eine Türkendemo organisiere, ein Teil werde immer von den Grauen Wölfen mitgetragen, sagt er.

 

So war es zum Beispiel auch in Bern. Zur Demonstration aufgerufen hatte die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), beobachtet wurden dann aber auch Männer, die den Wolfsgruss machten. In Deutschland zählt die Anhängerschaft der Grauen Wölfe laut Brauns 12'000 Personen. Die Unterstützung für die MHP ist weit grösser. Laut Marwan Abou Taam mobilisierte die MHP bei den Wahlen im Juni 480'000 Wähler. Die Grauen Wölfe hätten in Europa türkische Vereine unterwandert und seien gut verlinkt in den politischen Parteien, sagt er. Insbesondere in der CDU entstehen immer wieder Diskussionen um Mitglieder, die den Grauen Wölfen nahestehen.

 

Und es werden offenbar mehr. «Zunehmend entwickelt sich eine von den Grauen Wölfen geprägte Jugendkultur, die sich vor allem in den sozialen Netzen im Internet organisiert», sagt Abou Taam. Seit einiger Zeit werden sie auch vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet. Insbesondere der nicht organisierte Teil, dessen überwiegend jüngere Anhänger über soziale Netzwerke vernetzt sind, macht dem Verfassungsschutz Sorgen. Es bestehe eine gewisse Gewaltbereitschaft, vornehmlich gegen Kurden, heisst es. Davon zeugten Hassvideos im Internet, in denen vor allem gegen PKK-Anhänger auch zu Gewalt aufgefordert werde. Abou Taam sieht in den Grauen Wölfen eine Gefahr und eine grosse Herausforderung für die Gesellschaft. «Vor allem weil sie derzeit nicht im Fokus stehen und unter türkischen Jugendlichen massiv rekrutieren können.»

 

«Die kurdische Jugend ist reizbar»

 

Auf der anderen Seite der Gewalteskapaden stehen die Kurden. Während in der Türkei die PKK ihren Teil an der Schuld für die Eskalation der Gewalt trägt, gelten die Sympathisanten und Anhänger in Europa als recht friedlich. Hinter der kurdischen Jugend, die bei den jüngsten Demonstrationen sehr aktiv war, stecke die PKK, sagt Brauns. Die PKK habe die Jugend aber recht gut im Griff, zumindest in der Schweiz. In Deutschland sei es schwieriger, weil die PKK verboten sei und deshalb keine legalen Strukturen habe. «Aber die kurdische Jugend ist reizbar», sagt Brauns. Sie lässt sich gerade von den Grauen Wölfen immer wieder provozieren.

 

Sollte sich die Situation in der Türkei zwischen der Regierung und den Kurden nicht wieder entspannen, rechnen Experten damit, dass es auch in Europa vermehrt zu Demonstrationen kommen wird. Womit auch die gewalttätigen Zusammenstösse zwischen türkischen Nationalisten und Kurden programmiert sind. Der Konflikt in der Türkei wirke derzeit sehr enthemmend, auch auf kurdische Nationalisten, sagt Abou Taam.