Das Märchen vom raschen Rauswurf

Erstveröffentlicht: 
08.09.2015

Die Behörden schaffen es immer seltener, abgelehnte Asylbewerber tatsächlich schnell abzuschieben - das will die Union nun ändern

Von Jörg Köpke

 

Attila K. muss nicht raten. Als es am frühen Morgen klingelt und er die Beamten an seiner Tür sieht, weiß der junge Kosovo-Albaner sofort, worum es geht. Der Asylantrag, den er für sich, seine Frau und die drei kleinen Kinder gestellt hatte, war abgelehnt worden. Jetzt soll er zurück. Die Männer sind gekommen, um ihn und seine Familie zu holen.


Doch schon nach wenigen Minuten ist klar, dass die Mitarbeiter von Ausländerbehörde und Landespolizei Sachsen-Anhalt unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen. Eine Abschiebung der Familie ist vorerst unmöglich. Der Grund: Einer der fünf Pässe fehlt. Familien auseinanderzureißen - das gestattet die deutsche Gesetzgebung nicht.


Attila K. und seine Familie sind alles andere als ein Einzelfall. Die dramatischen Bilder syrischer Flüchtlingsströme und der großen Welle der Hilfe in Deutschland überdecken ein Problem, das deutschen Innenpolitikern zunehmend Sorgen bereitet: die Abschiebung derer, die in Deutschland nicht bleiben dürfen. Abschiebungen, im Amtsdeutsch "geordnete Rückführung" genannt, scheitern immer häufiger an fehlenden Identitätsnachweisen. Das belegen vertrauliche Dokumente und Zahlen, die dieser Zeitung vorliegen.


Nach internen Angaben des Ausländerzentralregisters, das im Auftrag des Bundesverwaltungsamtes sowohl die Bundesregierung als auch öffentliche Behörden mit aktuellen Daten versorgt, lebten in Deutschland Ende Juli insgesamt 185346 Ausreisepflichtige. Ein Großteil von ihnen, 134230, habe allerdings Gründe genannt, die eine Abschiebung vorläufig unmöglich machten und deshalb zu einer Duldung führten. Fachleute der Länder kommen in einem vertraulichen Bericht zu dem Ergebnis, dass 73 Prozent aller Flüchtlinge behaupten, keinerlei Identitätsdokumente zu besitzen.


Die Betroffenen kennen die deutsche Rechtslage offenbar gut - und wissen um das Problem, einen Flüchtling ohne Ausweis in die alte Heimat zu schicken. Oft werden die Dokumente unmittelbar nach der Ankunft in Deutschland einfach weggeworfen, nachdem ihr Besitzer das Passbild in viele kleine Stücke gerissen hat. Böschungen an Bahnlinien und Autobahnen kurz hinter der Grenze sind voll von Pässen vor allem aus den westlichen Balkanstaaten, in denen die Fotos fehlen. Die Dokumente später zu vergraben oder zu verstecken ist eine andere Methode, der Abschiebung zu entgehen. Vor allem Ausweise aus Mazedonien, Kosovo oder Albanien gehen auf diese Weise "verloren" - für Menschen aus den West-Balkanstaaten ist es nahezu unmöglich, in Deutschland als Asylbewerber anerkannt zu werden.


Die deutschen Innenpolitiker und Behördenchefs kennen das Problem - und sind bislang machtlos. Manchen macht das zunehmend wütend. In der vergangenen Woche zum Beispiel redete sich Lorenz Caffier bei einer internen Besprechung in Rage. Die Telefonkonferenz der Sicherheitsexperten und untergeordneten Dienststellen war erst wenige Minuten alt, als der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern das Wort ergriff. Es müsse sich etwas ändern, zürnte der CDU-Politiker und Sprecher der Unionsinnenminister laut Zuhörern, so könne und dürfe es nicht weitergehen. Sein Vorschlag rührte an einen heiklen Punkt: Ab sofort, forderte Caffier, sollten die Länder abgelehnte Asylbewerber auch ohne Pässe direkt und unverzüglich abschieben.


Verschwundene Papiere sind jedoch nicht das einzige Hindernis für eine rasche Abschiebung - es fehlt schlicht auch an Kapazitäten. Ein nur für den Dienstgebrauch bestimmtes "Merkblatt für Charterflüge zur Rückführung abgelehnter Asylbewerber nach Albanien" der deutschen Botschaft in Tirana vom 10. August unterstreicht dies eindrucksvoll. Danach steht für die zwangsweise Rückführung von Ausreisepflichtigen zurzeit nur ein einziger Flug pro Tag mit einer Kapazität von 70 Plätzen in Richtung Albanien zur Verfügung. Die Beamten klagen über "zu wenig Personal und unzureichende Logistik".


Gestern Abend wollten sich die Länderinnenminister von CDU und CSU mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in Berlin treffen, um über Lösungen zu beraten. Aus Teilnehmerkreisen hieß es zuvor, es werde "keine Denkverbote" geben.


Die beiden ostdeutschen Bundesländer Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind bereits im August dazu übergegangen, einstmals aus humanitären Gründen verhängte nächtliche Abschiebestopps aufzuheben. Tagsüber, so die Erfahrung, sind die Ausreisepflichtigen zu oft einfach nicht zu Hause.


Doch den Innenpolitikern reicht das nicht. Wegen der Schwierigkeiten bei den Abschiebungen - und der hohen Kosten - wollen sie am liebsten nun auch die Einreise erschweren. Geplant ist unter anderem die Wiedereinführung der Visumspflicht für die Balkanstaaten. Sogar eine Rückkehrprämie von bis zu 5000 Euro pro Person ist im Gespräch. Die Amtskollegen aus den SPD-geführten Ländern sollen zumindest mit einigen der Vorschläge einverstanden sein.


Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hält die geplanten Verschärfungen für unangemessen und übertrieben. Die Arbeitsgemeinschaft, die sich bundesweit für die Belange von Flüchtlingen einsetzt, betont, dass vor allem der Zustrom aus dem Kosovo in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen ist. Während im Februar noch 16616 Personen und damit 42,7 Prozent aller Zugänge aus dem Kosovo stammten, sei die Quote auf inzwischen etwa 10 Prozent gesunken. Eine ähnliche Entwicklung zeichne sich für Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien ab.


Lorenz Caffier ficht das nicht an. Im Gegenteil: Er rief gestern dazu auf, "das derzeitige Ausstellen von Passersatzpapieren erheblich zu beschleunigen, also binnen 24 Stunden". Man brauche eine bundeseinheitliche Linie. Die Bürokratie müsse sich trauen, "alles Bisherige über Bord zu werfen".


Indirekte Unterstützung erhielt er gestern von Manfred Schmidt. Der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sprach sich dafür aus, das Abschiebeverfahren strenger zu handhaben. Überstellungen sollten nach dem ersten Scheitern nicht mehr angekündigt werden - um zu verhindern, dass sich abgelehnte Asylbewerber der Abschiebung entziehen.


Sowohl Caffier als auch Schmidt zielen damit auf Fälle wie den des Kosovo-Albaners Attila K. Wie sich nach dem ersten gescheiterten Versuch herausstellte, hatte der Vater den fehlenden Pass im Garten vergraben. Inzwischen ist die Familie wieder im Kosovo.


 

 

"Sichere Staaten": Verfahren kaum schneller


Ein großer Teil der Asylbewerber, die nach Deutschland kommmen, hat so gut wie keine Chance auf Anerkennung. Sollen ihre Herkunftsländer deshalb alle zu "sicheren Herkunftsstaaten" erklärt werden?


Für manchen Politiker ist dies die Lösung - doch das Etikett "sicherer Herkunftsstaat" allein ist kein Wunder- mittel, das Asylverfahren beschleunigt. Auch die Warnungen vor einem angeblich ausgehöhlten Asylrecht sind übertrieben: Asylbewerber werden dadurch keineswegs völlig schutz- und rechtlos gestellt.


Seit November 2014 gelten Serbien, Bosnien und Mazedonien als "sichere Herkunftsstaaten". Aktuell wird diskutiert, ob drei weitere Staaten - Albanien, der Kosovo und Montenegro - ebenfalls das Etikett erhalten sollen.


Doch wer aus einem "sicheren Herkunftsstaat" kommt, erhält im Kern das gleiche Asylverfahren wie andere Antragssteller auch. Das heißt: Es gibt eine mündliche Anhörung, es können Argumente vorgebracht werden. Es besteht zwar die Vermutung, dass der Antragsteller nicht schutzbedürftig ist - aber die Vermutung kann widerlegt werden. Aus Mazedonien wurden im Juli immerhin sechs Personen als Flüchtling anerkannt, aus Serbien erhielten 17 Personen individuellen Abschiebeschutz. Das waren jeweils 0,2 Prozent der Antragsteller. Ähnlich niedrig waren die Schutzquoten auch vor Einstufung als "sicherer Herkunftsstaat".


Die behauptete Beschleunigung des Asylverfahrens ist minimal. Zwar gilt ein abgelehnter Antrag aus einem "sicheren Herkunftsstaat" automatisch als "offensichtlich unbegründet" - was den gerichtlichen Rechtsschutz auf ein Minimum reduziert. Doch die Einstufung beschleunigt das Asylverfahren laut Innenministerum um ganze zehn Minuten - weil nicht mehr begründet werden muss, warum ein Antrag "offensichtlich unbegründet" ist.


Die Schaffung "sicherer Herkunftsstaaten" hat noch einen anderen Zweck: Sie soll Menschen von einer Flucht nach Deutschland abschrecken. Doch auch das scheint nicht zu funktionieren: Die Zahl der Asylanträge aus Serbien und Mazedonien stieg gegenüber dem ersten halben Jahr 2014 sogar deutlich an.