Aus dem Ruder gelaufen?

Erstveröffentlicht: 
18.08.2015

Anti-Legida-Demo am 3. August: Demonstranten und Augenzeugen werfen Beamten Gewalt vor / Polizei weist Vorwürfe zurück

 

Von Mark Daniel und Jürgen Kleindienst


Ein paar Scharmützel, ein paar Flaschenwürfe - ansonsten weitgehend ruhig. So etwa lautete die Bilanz der jüngsten Legida-Demo am 3. August in Leipzig, bei der 600 Teilnehmer und 1000 Gegendemonstranten gezählt wurden. Laut verschiedener Beobachter haben sich jedoch in der Bose- und Gottschedstraße offenbar Jagd- und Gewaltszenen abgespielt, die nicht im offiziellen Polizeibericht auftauchen. Gegendemonstranten beschuldigen die Beamten. Sie seien geschlagen worden, ihnen sei Gewalt angedroht worden. Der Einsatz sei völlig unverhältnismäßig gewesen. Die Polizei weist die Vorwürfe vehement zurück. Darüber, was an diesem Abend passiert ist, gehen die Darstellungen massiv ausein-ander. Demo-Teilnehmer, die sich erst jetzt gemeldet haben, und von der LVZ befragte Augenzeugen wollen ihre Namen nicht nennen. Ihre Berichte werfen jedoch Fragen auf. Andererseits liegen laut Polizei keine Anzeigen vor.


Ist der Einsatz zum Teil aus dem Ruder gelaufen? Ja, sagt Friedrich Rückert*, Anfang 20: "Wir hatten uns spontan zusammengefunden, niemand war bewaffnet, niemand hatte etwas in der Hand, niemand war schwarz gekleidet. Wir waren viele junge Leute, aber es waren auch erheblich ältere dabei", berichtet er. Sie haben nur ein gemeinsames Ziel: Den Legida-Rednern, die von "Asylanten-Flut", "Invasoren" und "Bürgerkrieg" reden und ihren Mitläufern, die am Ende alle drei Strophen des Deutschlandlieds anstimmen werden, lautstark entgegenzutreten.


Demonstrant: Leute wurden von Beamten geschlagen


Was in den nächsten rund zwei Stunden passiert, hat Rückert nachhaltig verstört. "In der Bosestraße waren wir auf eine Polizeikette am Ring zugelaufen. Plötzlich rannten 15 bis 20 Polizisten auf uns zu, schrien 'Verpisst euch', wir rannten in die andere Richtung, man hörte Schreie." Während er selbst in Panik flüchtete, habe er mitbekommen, wie Polizisten auf Leute einschlugen, die hingefallen waren. Rückerts Beschreibung deckt sich mit einem Bericht der Leipziger Initiative Demo-Beobachtung: "Die Einsatzkräfte traten und schlugen auf die sich wieder in die andere Richtung bewegenden Menschen ein. Einzelne Demonstrierende wurden zu Fall gebracht, eine Person wurde gezielt aus dem Sprung heraus in den unteren Rücken getreten", heißt es in einer Pressemitteilung. Die Polizeibeamten, so Rückert weiter, seien extrem aggressiv aufgetreten. ",Haut ab', brüllten die immer wieder. Doch wohin wir uns auch bewegten, überall gerieten wir wieder an Beamte, die das Gleiche schrien."


In der Gottschedstraße entsteht so mehreren Berichten zufolge eine bizarre Szenerie: auf der einen Straßenseite Schreie, Einschüchterungen - auf der anderen Feierabendstimmung auf den Freisitzen. Dort sorgten die Vorgänge für Fassungslosigkeit, wie eine Kellnerin des Sol y Mar berichtet: "Unsere Gäste haben alles schockiert beobachtet. An einem Tisch saß eine Familie mit Kindern, die große Angst hatten."


Prügelszenen will ein weiterer Beobachter gesehen haben, der sich zu der Zeit an der Ecke Gottsched-/Zentralstraße aufhielt. "Ich sah, wie eine Gruppe ganz junger Leute in der Zentralstraße von Polizisten bedrängt wurde. Von den Demonstranten ging keinerlei Aggressivität aus. Ich habe keine Flasche oder sonst etwas in ihren Händen gesehen. Doch einzelne Polizisten schlugen zu", sagt der 36-Jährige. Mit der Faust sei ein junges Mädchen von einem etwa zwei Meter großen Polizisten ins Gesicht geschlagen worden. "Als zwei Jungs den Polizisten zur Rede stellen wollten, schlug er auch auf sie ein. Ich war entsetzt", sagt er. "Wir leben in einer Demokratie. Ich bin dafür, dass die Anhänger von Legida ihre Meinung auf der Straße sagen können. Genauso bin ich dafür, dass die Gegendemonstrationen stattfinden können. Aber so ein brutales Auftreten der Polizei ist nicht hinnehmbar. Egal gegen wen. Als ich gegenüber der Polizei mein Unverständnis zum Ausdruck brachte, wurde ich nur barsch aufgefordert, die Straße zu verlassen." Ein Anwohner in der Zentralstraße hat solche Prügelszenen nicht gesehen. "Ich sah nur, wie ein Polizist einen Demonstranten ins Gebüsch schubste", berichtet er.


Später, es ist jetzt ungefähr 20.15 Uhr, wird ein Teil der Demonstranten auf dem eingezäunten Parkplatz an der Ecke Bosestraße/Gottschedstraße eingekesselt, um die Personalien aufzunehmen. Friedrich Rückert: "Wenn wir telefonierten, wurden uns die Handys weggenommen. Die von anderen, die zu filmen versuchten, wurden auf den Boden geworfen." Wer die Verhältnismäßigkeit anzweifelte, habe unmissverständliche Ansagen von den Beamten bekommen, berichtet er: "Wenn Sie noch einmal Widerworte geben, führen wir das unter Gewalt durch. Dann schlafen Sie heute nicht zu Hause." Es sei um Einschüchterung, Demütigung gegangen. Dazu noch einmal die Kellnerin des Sol y Mar, die sah, wie einige auf dem Parkplatz Eingekesselte über den Zaun zu klettern versuchten. "Sie wurden von Polizisten zurückgerissen und verprügelt."


Polizei: Gewalt ging von Gegendemonstranten aus

 
Die Polizei widerspricht diesen Darstellungen entschieden: Die Behauptung, Beamte hätten Personen vor den Augen erschrockener Gaststättenbesucher verprügelt, "entbehrt jeglicher Realität und wird entschieden zurückgewiesen. Gleiches gilt für den Vorwurf der Sachbeschädigung durch Polizeibeamte; es wurden keine Mobiltelefone entrissen, weggeschleudert oder zerstört", sagt dazu Polizeisprecher Andreas Loepki.


Laut Darstellung der Polizei ist die Gewalt von den Gegendemonstranten ausgegangen: Eine "offenbar dem NoLegida-Lager zuzuordnende Gruppe von etwa 50 Personen" sei auf eine seitens der Polizei eingerichtete Sperre getroffen. "Die Gruppe bewarf dort eingesetzte Beamte massiv mit Flaschen sowie diversen Zuckerstreuern und Aschenbechern, welche von Freisitzen in der Nähe befindlicher Lokalitäten entwendet wurden." Das stimme definitiv nicht, sagt dazu wiederum Friedrich Rückert. Es habe keinen Angriff der Gegendemonstranten gegeben.


Weiter heißt es seitens der Polizei: "Die ,Einkesselung von Gegendemonstranten' war eine nachfolgende Identitätsfeststellung auf strafprozessualer Grundlage, da die vorherige Handlung den Tatbestand des Landfriedensbruchs nach §125 StGB erfüllt." Da eine ganze Reihe der Tatverdächtigen versucht habe zu flüchten, "waren die Beamten aufgrund der Verpflichtung zur Strafverfolgung berechtigt - auch durch Einsatz unmittelbaren Zwangs -, dieses Verhalten zu unterbinden", so Loepki. Aber: "Ein unverhältnismäßiges oder aggressives Auftreten wird bestritten. Insofern entspricht es der Wahrheit, dass Personen vom Zaun gezogen wurden."


Unvereinbar steht so Aussage gegen Aussage. Erst gegen 21.30 Uhr können die Demonstranten gehen. "Wir haben einen Platzverweis für die gesamte Innenstadt bekommen." Trotz dieser Erfahrung steht für Rückert fest: Er wird auch bei der nächsten Gegendemo dabei sein.


*Name geändert, richtiger Name der Redaktion bekannt