Kämpferin für die Wahrheit

Wenn eine um mehr Menschlichkeit bemühte Mitarbeiterin des Jobcenters Hamburg Missstände der rotgrünen „Agenda 2010“ aufzeigt, sollte dies doch eigentlich im Interesse all derjenigen sein, die eine sinnvolle Beschäftigungspolitik mit „passgenauer“ und langfristiger Arbeitsvermittlung anstreben. Das Gegenteil ist der Fall, kritische Menschen und whistleblower sind nach wie vor unerwünscht, wie das durch die Medien bekannte Beispiel Inge Hannemanns zeigt: Die Behörden und KollegInnen reagierten mit Überwachung, Einschüchterung, Beleidigungen und letztlich mit juristischen Konsequenzen bis hin zur (derzeitigen) Freistellung bzw. Versetzung. Ihr soeben erschienenes Buch zeigt eindringlich, dass sich die häufig als „Hartz IV-Rebellin“ bezeichnete Inge Hannemann nicht hat mundtot machen lassen und abermals gesellschaftlichen Stereotypen über vermeintlich faule Arbeitssuchende widerspricht, medialen Stigmatisierungen entgegentritt und auch nicht an Schelte einiger ihrer ehemaligen KollegInnen spart, die sie  als „zu wenig qualifiziert, zu wenig motiviert oder schlichtweg zu bequem“ (S. 58) für eine wirkliche Vermittlungsarbeit bezeichnet.


Zwar sind die Missstände in Jobcentern, wie etwa quotenerfüllende Zuweisungen in sinnfreie „Maßnahmen“ zur vermeintlichen Weiterbildung, Sanktionen und Auflagen, 1-€-Jobs usw. seit Jahren durch Öffentlichkeitsarbeit der Erwerbsloseninitiativen bekannt, aber durch einen sprachlich flüssigen und leicht verständlichen Schreibstil kann sie Neu-Betroffenen eine ausgezeichnete Einführung bieten und zudem Lesenden fachkundige und kritische Erläuterungen des Hartz IV-Systems liefern, die das Thema bislang gemieden, belächelt oder als irrelevant abgetan haben. Lesenswert macht ihre Darstellung gerade auch die Kombination aus ihrer persönlichen Biografie und ihren Erfahrungen als Jobcenter-Mitarbeiterin, wenngleich sich viele Fallbeispiele sich vorrangig auf Arbeitssuchende unter 25 Jahren beziehen.


Gerade Hannemanns persönliche Geschichte durch eine fördernde Familie, unterfordernde Schule, Krankheit und Behinderung, ihre Erwerbsbiografie bis hin zu bore-out-Erfahrungen, veröffentlichten Brandbriefen und eine spürbare Art „Meinungs-Radikalisierung“ untermauern ihre Jobcenter-Kritik mit Authentizität und Glaubwürdigkeit, ging es Hannemann doch zunächst „nur“ um mehr selbstverständliches Mitgefühl mit Personen, die durch den Verlust oder Nichterlangung eines Arbeitsplatzes schon genug gedemütigt, schamgeplagt und im Alltag improvisierend-umtriebig sind.


Es bleibt wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen, die Arbeitssuchende anstelle von Unterstützung beim Jobcenter erwarten: absichtlich geschürte Angst, Schikanierung, Demütigung, Drangsalierung und Willkür der SachbearbeiterInnen, die Menschen in existentielle Nöte treiben kann, letztlich die Verweigerung von Grund- und Menschenrechten (Hannemann nennt z.B. das Recht auf Arbeit und den Schutz bei Arbeitslosigkeit, freie Berufswahl, Freizügigkeit, S. 253).


Man kann hoffen, dass immer mehr Menschen das Hartz IV-System und die damit einhergehende Exklusion und Armut als politisch gewollt erkennen, wenn solche Kritik von jemandem geäußert wird, die auf der anderen Seite des Jobcenter-Schreibtisches saß, oder die Reputation eines Günter Wallraffs hat (vgl. Team Wallraff Bericht bei RTL im Frühjahr 2015). Hannemanns inhaltlich sehr engagierte Aussagen sind wahrlich nichts Neues für Betroffene, aber sie haben mehr Gewicht als die von Erwerbslosen, wie bereits die taz (15.12.2014) feststellte.


Seit nunmehr 10 Jahren, so konstatiert Hannemann zu Recht, hat sich um die Thematik Hartz IV eine „unsichtbare Mauer“ (S.7) gebildet, die zu einer Entsolidarisierung zwischen Gesellschaft, Gewerkschaften, Verbänden und Wissenschaft mit den Betroffenen führte, von der meiner Ansicht nach nicht einmal politisch linksstehende Gruppierungen frei sind: Erwerbslosigkeit wird tabuisiert und individualisiert („selbst schuld“, so der gesellschaftliche Tenor). Die Folgen eines Hartz IV-Systems, das den Niedriglohn-Arbeitsmarkt suventioniert („Aufstocker“) und den neoliberalen Wirtschaftsstandort samt seines Wachstumscredos aufrechterhält, jedoch nur zu mehr Leiharbeit, Werkverträgen, Minijobs, prekärer Beschäftigung und Altersarmut führt, sind noch lange nicht absehbar. Die Intention der Politik besteht jedoch in einer quasi-volkserzieherischen Maßregelung: „Noch-Beschäftigte“ ebenso wie Jobcenter-Mitarbeitende, die angesichts diverser Vorschriften und zu erfüllender Quoten unter enormem Druck stehen, sollen „nicht auf die Idee kommen, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und prekäre Entlohnung zu wehren“ (S. 68). In diesem Punkt schwächelt Hannemanns Veröffentlichung leicht, hätte sie doch die systemimmanente Verwertungslogik, Kontrollinstrumente zur Wahrung des „sozialen Friedens“ und die zugrunde liegenden Absichten des herrschenden Turbo-Kapitalismus´ deutlicher herausarbeiten können, um auch dem nicht näher erläuterten Titelteil „Diktatur“ mehr Nachdruck verleihen zu können. Hannemann argumentiert stattdessen teils mit christlich-humanistischen Werten (S. 249), will Jobcenter-Mitarbeitende mit mehr psychologischen Kenntnissen ausstatten (S. 244), sodass der Eindruck entsteht, dass sie anfänglich die Jobcenter behutsam von innen reformieren wollte, nur aufgrund ihrer whistleblower-Erfahrung mag sie zu „radikaleren“ Forderungen wie sofortige Abschaffung der Sanktionspraxis, des Hartz-Systems und für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (Modell Götz Werner, ihre langfristige Forderung) gelangt sein, die sie letztlich zur Partei Die Linke brachte, oder nachträglich von dieser übernahm, allerdings ist dies pure Spekulation meinerseits.


Die durch das Hartz-IV-System bedingte Steuergelderverschwendungen sowie zahlreichen Profiteure einer ganzen Hartz IV-Industrie wie z.B. Billiglohnfirmen und der so genannte zweite (oder dritte) Arbeitsmarkt inklusive Bildungsträger oder Tafeln werden von Hannemann leider nur am Rande erwähnt, Rita Knobel-Ulrich („Reich durch Hartz IV“ 2013) liefert hierzu weiterführende Recherchen, auch wenn diese zu anderen Schlüssen gelangte als Hannemann und das strittige „Workfare“ statt „welfare“-Prinzip vertritt.


Auch wenn Hannemann bemüht ist, alle Personengruppen, die vom Hartz-IV-System betroffen sind, in ihre Überlegungen einzubeziehen, die wachsende Gruppe der hochqualifizierten AkademikerInnen, die zwischen prekärer Beschäftigung und Zeiten mit Hartz IV pendelt, neue Erwerbsformen erfinden und ganze Lebensentwürfe komplett über den Haufen werfen muss, findet bei ihr leider gar keine Erwähnung. Wohl aus Gründen der Lesbarkeitserleichterung verzichtet sie zudem weitgehend auf fundierte Quellenangaben oder diese würden wissenschaftlichen Standards nicht genügen (z.B. Fußnote S. 144).


Längst überfällig ist das Aufzeigen Hannemanns (S. 117ff), dass der Staat weiterhin allmonatlich sinkende Arbeitslosenstatistiken propagandistisch verkündet, wenngleich diese Statistiken extrem geschönt sind, werden doch z.B. Krankgeschriebene/Reha-Teilnehmende, Zeitarbeitende, Maßnahmenteilnehmende, Aufstockende, „Ein-Euro-Jobber“, sich in Pflege von Angehörigen oder in Erziehungszeit Befindende sowie Zwangsverrentete nicht offiziell zu den Arbeitssuchenden gezählt. Die von Hannemann angenommene Größenordnung von 1 Million somit unterschlagener Arbeitssuchender dürfte dabei eher eine Minimumsangabe sein. Die Täuschung der Öffentlichkeit über ein angebliches „Jobwunder Deutschland“, das vornehmlich im Bereich prekärer Beschäftigung anzusiedeln ist, sowie ihre schlichte und einfache Feststellung, dass „überhaupt keine Arbeitsplätze vorhanden sind, an die (…) [ Jobsuchende] vermittelt werden könnten“ (S. 30, dazu auch S. 35 und 248) wäre ein sicherlich noch zu vertiefendes Thema, sofern diese Wahrheit überhaupt jemand hören will, da selbst die Medien Statistiken der Bundesagentur kritiklos übernehmen.


Am Ende des Buchs beschleicht einen das Gefühl, Hannemann legte noch längst nicht alles offen, sondern hat noch mehr Insider-Wissen, so dass man ihr wünschen möchte, weiterhin so couragiert und engagiert zu bleiben und mit Ihrem Buch noch mehr Menschen zu erreichen und zum Überdenken eines menschenverachtenden Systems zu bringen, das der Bevölkerung gegenüber (wie vieles andere) als „alternativlos“ verkauft wird.


Inge Hannemann (mit Beate Rygiert): “Die Hartz IV Diktatur – eine Arbeitsvermittlerin klagt an“, Rowohlt-Taschenbuch Verlag, Mai 2015, 284 Seiten, € 9,99