Die Schweiz sägt am eigenen Ast

An der Schweizer Grenze nach Frankreich: Ein Flugzeug auf dem Genfer Flughafen
Erstveröffentlicht: 
22.11.2014

Zuwanderungsinitiative

Volle Züge, hohe Mieten: Viele Schweizer wollen die Zuwanderung von Ausländern radikal begrenzen. Die Politik warnt, die Wirtschaft zittert. Und jetzt entscheidet das Volk. Hinterher könnte das Land ein anderes sein.

 

Von Johannes Ritter

 

Schweizer Grenzlandschaften

Ein Gespenst geht um in der Schweiz. Es heißt Ecopop. Das klingt nach einer Ökobrause, doch in Wahrheit verbirgt sich dahinter eine eidgenössische Volksinitiative, die, falls sie in einer Woche angenommen wird, das Ansehen und den Wohlstand der Schweiz ernsthaft gefährden dürfte. Es geht um strikte Zuwanderungsregeln – und nicht wenige sagen, für die Schweiz geht es um alles. Vor einem „Totalschaden“ warnt Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann und er bekennt: „Ich habe Angst.“

Wie kann es so weit kommen? Die Schweizer sind stolz auf ihre direkte Demokratie. Seit 1891 können die Eidgenossen mit Volksinitiativen ihrer Regierung sagen, wo es langgehen soll. In der ersten Abstimmung vor 121 Jahren entschieden die Schweizer, dass Tiere betäubt werden müssen, bevor sie geschlachtet werden. Seither hat das Volk über weitere 192 Anträge befunden. Um eine Initiative zu lancieren, sind – bei einer Gesamtbevölkerung von heute gut 8 Millionen Menschen– gerade einmal 100000 Unterschriften binnen 18 Monaten notwendig. Die meisten Initiativen haben die Stimmbürger abgeschmettert. Nur 22 bekamen die erforderliche einfache Mehrheit der Stimmen sowie die mehrheitliche Zustimmung der 26 Kantone.

Das zeigt: Das Volk ist nicht für alles und jedes zu haben, es ist im Prinzip ein verantwortungsvoller Souverän. Gerade in wirtschaftlichen Fragen haben die Bürger meist Vernunft walten lassen. Die vorgeschlagene Erhöhung des Mindestlohns? Abgelehnt. Die Einführung einer Einheitskrankenkasse? Abgelehnt. Kürzlich gab es allerdings einen Einschlag, der nicht in dieses Bild passt. Dieser Einschlag traf das Land am 9. Februar dieses Jahres unerwartet und mit voller Wucht. An jenem Sonntag stimmten die Bürger mit knapper Mehrheit für die Initiative der nationalkonservativen Partei SVP gegen die „Masseneinwanderung“ in die Schweiz. Die Regierung in Bern erhielt den Auftrag, die Zuwanderung fortan durch Kontingente zu steuern und zu begrenzen. Dieser Marschbefehl bringt die Minister seither schwer ins Schwitzen. Denn eine solche Begrenzung verstößt gegen das mit der Europäischen Union 2002 vertraglich vereinbarte Freizügigkeitsprinzip, wonach EU-Bürger in der Schweiz wohnen und arbeiten dürfen. Die Regierung sucht verzweifelt nach einem Weg, das Votum in die Praxis umzusetzen, ohne diesen und all die anderen bilateralen Staatsverträge mit der EU zu gefährden, die für die Wirtschaft des Landes enorm wichtig sind. Schließlich gehen mehr als die Hälfte aller Exporte in die EU. Aus Brüssel ist bisher keinerlei Verständnis und Entgegenkommen zu verspüren.

 

Die Zuwanderung soll begrenzt werden

Als wäre diese Quadratur des Kreises für die Schweizer Regierung nicht schon schwierig genug, droht nun noch größeres Ungemach: von Ecopop. Diese 1970 gegründete Umweltschutzorganisation (Association Écologie et Population) kämpft dafür, die natürlichen Lebensgrundlagen für Mensch und Natur zu erhalten. Den Anhängern bereiten die weitere Zersiedlung des Landes, die Versiegelung des Bodens und der „Dichtestress“ Sorgen. Alles soll besser werden, wenn das Bevölkerungswachstum gebremst wird. Daher hat der Verein die Volksinitiative „Stopp der Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen“ auf den Weg gebracht.

In dem offiziellen Text zur Abstimmung am 30. November machen die Initiatoren allerdings noch ein anderes großes Fass auf: Der Bund, so heißt es da, soll künftig mindestens 10 Prozent seiner Entwicklungsgelder in Maßnahmen zur Förderung der „freiwilligen Familienplanung“ stecken. Übersetzt heißt das: Kondome für Afrika! Als „Kolonialherren“ und „Birkenstock-Rassisten“ werden die Ecopop-Aktivisten daher beschimpft.

Wohlweislich stellen die Umweltschützer ihre Vorstellungen zur Geburtenkontrolle in den Entwicklungsländern nicht in den Mittelpunkt ihrer Kampagne. Dort steht eine andere Forderung – und die zielt direkt in das Herz der heimischen Wirtschaft: Die jährliche Zuwanderung in der Schweiz soll auf 0,2 Prozent der Wohnbevölkerung begrenzt werden. Das hieße, dass im Saldo nur noch rund 17000 Personen im Jahr einwandern dürften anstatt wie zuletzt rund 80000. Eine solch starre Quote, die weit über die Masseneinwanderungsinitiative vom Februar hinausgeht und wohl allein schon durch Asylanten weitgehend ausgeschöpft würde, wäre der sichere Todesstoß für die bilateralen Verträge mit der EU. Sie würde die Wachstumschancen dieses wirtschaftlich gesunden Landes, in dem nahezu Vollbeschäftigung herrscht und das dringend auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist, künftig deutlich beschränken.

 

Die Unternehmen schlagen Alarm

Das erzeugt Widerstand. Es hat sich eine Phalanx von Gegnern formiert, zu denen neben bürgerlichen Kräften und Unternehmensverbänden auch rot-grüne Bündnisse aus Parteien, Gewerkschaften, Hilfswerken und Kulturschaffenden gehören. Der Schweizer Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann fürchtet, dass die Verträge mit der EU einfach ausradiert werden: „Ein Ja zu Ecopop würde den Totalschaden bedeuten.“ Der liberale Politiker warnt seine Landsleute vor Selbstgefälligkeit – und vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze.

Auch die Unternehmen schlagen Alarm. „Die geforderten starren Einwanderungsquoten würden die unternehmerischen Freiheiten erneut bedeutend einschränken und damit den Innovationsstandort und Werkplatz Schweiz schwächen“, sagte Ulrich Spiesshofer, Chef des ABB-Konzerns, dieser Zeitung. Der Hersteller von Hochtechnologie sei darauf angewiesen, weltweit „die besten Köpfe rekrutieren zu können“. Aber was, wenn die aus dem Ausland kommen und Ecopop durchkommt? Patrick Odier, der Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung, warnt: „Banken sind mobil, Mitarbeiter weniger.“ Ohne ein vertrauenswürdiges Verhältnis zu Europa könne sich die Wirtschaft in der Schweiz nicht entwickeln.

Der Ton wird schärfer: „Ecopop wäre Selbstmord“, sagte Odier der „Neuen Zürcher Zeitung“. Und Severin Schwan, der Vorstandsvorsitzende des Baseler Pharmakonzerns Roche, warnt: „Die Schweizer würden den Ast, auf dem sie sitzen, nicht nur ansägen, sondern durchsägen.“ Roche will in den nächsten zehn Jahren mehr als 3 Milliarden Franken in der Schweiz investieren. „Das können wir uns nur leisten, solange wir die besten Talente aus der ganzen Welt anziehen und unsere Produkte problemlos in die ganze Welt ausführen können.“

 

Fluggesellschaft Swiss sieht ihre Existenz gefährdet

Die Fluggesellschaft Swiss sieht gar ihre Existenz gefährdet, falls Ecopop angenommen wird. Das stellte der Verwaltungsratspräsident Bruno Gehrig in einer E-Mail klar, die er an alle Mitarbeiter der Lufthansa-Tochtergesellschaft geschickt hat. Denn auch für den Luftverkehr sind die europäischen Verträge essentiell: „Wir könnten das aktuelle Streckennetz in Europa und damit den Hub nicht mehr aufrechterhalten.“

Auch in das Sozialsystem könnte Ecopop große Löcher reißen. Forscher der Universität Basel haben im Auftrag des Schweizerischen Arbeitgeberverbands ausgerechnet, dass bis zum Jahr 2030 allein im Gesundheitswesen rund 110000 Arbeitskräfte fehlen, falls Ecopop obsiegt. In den Ingenieurberufen blieben 25000 Stellen unbesetzt, im Bildungsbereich 20000. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt betont, dass die Finanzierung der Sozialsysteme entscheidend vom Zustrom ausländischer Arbeitnehmer abhänge. Selbst bei einer Zuwanderung von durchschnittlich 40000 Personen laufe die Rentenversicherung bis 2030 in eine Finanzierungslücke von jährlich 9 Milliarden Franken. Mit Ecopop würde sich dieses Loch nahezu verdoppeln, sagte Vogt: „Mit der Annahme dieser Initiative würden wir uns einen wichtigen Teil unserer Zukunft verbauen.“

Rational betrachtet, spricht also viel dafür, dass die Schweizer Ecopop ablehnen. Aber in der Zuwanderungsfrage zählen nicht nur Sachargumente. Das Thema ist emotional aufgeladen. Schon lange ist von einem Gefühl der Überfremdung die Rede angesichts eines Ausländeranteils von 24 Prozent (Deutschland: 9 Prozent). Die Busse und Züge sind voll, die Straßen und Autobahnen auch. Und Wohnraum ist knapp und teuer.

Nach den jüngsten Umfragen sieht es nicht so aus, als würde Ecopop mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen. Aber hoffnungslos abgeschlagen ist die Initiative auch nicht. Das verdankt sie zum Teil der Partei SVP, die schon die Masseneinwanderungsinitiative in Gang gesetzt hatte und seit langem die Überfremdung des Landes thematisiert. Die Parteispitze um den Rechtspopulisten Christoph Blocher hat ihren Anhängern zwar empfohlen, Ecopop abzulehnen – die Partei ist schließlich nicht nur fremdenfeindlich, sondern wesentlich auch wirtschaftsfreundlich positioniert. Aber einige Ortsgruppen in den Kantonen haben sich für eine Annahme der Initiative ausgesprochen. Dieser Spaltung hat Blocher Vorschub geleistet, als er die bilateralen Abkommen mit der EU für „verzichtbar“ erklärte. Seither ist klar: Die jahrelange, parteiübergreifende Übereinkunft, wonach die Personenfreizügigkeit untrennbar ist von der überlebenswichtigen Einbindung der Schweiz in die Märkte der EU, gehört de facto der Vergangenheit an.

Da auch die Grünen mit Ecopop sympathisieren, die Gefahr also real ist, bleiben die Gegner schwer in Aktion. Den Fehler aus dem Vorlauf zur Masseneinwanderungsinitiative, als die Anhänger einer offenen Schweiz die Stimmung falsch eingeschätzt und sich zu wenig engagiert hatten, wollen sie nicht noch einmal begehen. Schon Anfang Oktober begann das mediale Sperrfeuer gegen Ecopop mit Postwurfsendungen, Plakataktionen und Interviews. Das rot-grüne „Komitee solidarische Schweiz“ indes griff dabei etwas daneben. Man ließ Plakate aufhängen mit dem Aufruf „Nein zur Ecopop-Sackgasse“. Unter diesem Schriftzug prangt der Oberkörper eines Mannes, der ein Sackgassenschild vor dem Kopf trägt. Das Motiv war jedoch unglücklich gewählt: Das strenge Straßenverkehrsgesetz der Schweiz verbietet Reklame und Ankündigungen, die mit Verkehrsschildern verwechselt werden könnten. Die Plakate mussten am Rand von Straßen und Kreuzungen wieder abgehängt werden. Ordnung muss sein.