Der NSU: Verschwörungstheorien und ihr Wahrheitsgehalt

Erstveröffentlicht: 
13.11.2014

NSU

 

Drei Jahre nach der Aufdeckung ranken sich noch immer Legenden um die Begleitumstände der Mord- und Anschlagsserie. Der schleppende Prozess befeuert die Verschwörungstheorien weiter. Was ist dran an den Anschuldigungen?

 

Wie konnte das nur geschehen? Diese Frage konnten weder ein Prozess noch drei Untersuchungsausschüsse klären. Die Taten der sog. Terrorgruppe „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) werfen seit ihrer Aufdeckung im Herbst 2011 immer wieder neue Fragen auf. Die vielen Ermittlungs„pannen“ zeichnen das Bild eines ahnungslosen Staates. Doch entspricht das wirklich der Realität?

Was Hoffnung gab, hat längst enttäuscht: Der Prozess gegen Beate Zschäpe vor dem Münchener Oberlandesgericht kommt nur schleppend voran. Der vorsitzende Richter Manfred Götzl müht sich weiterhin mit einer schweigenden Hauptangeklagten ab. Die Beweisaufnahme liefert mehr Fragen als Antworten.

Wie konnten die drei mutmaßlichen Neonazis überhaupt abtauchen? Wie groß war das Helfernetz? Haben die V-Leute dem Verfassungsschutz wirklich so wenig berichtet? Oder sind dort Informationen verschwunden? Die größten Rätsel des sog. NSU sind noch immer ungeklärt.

Kaum verwunderlich, dass immer neue, waghalsigere Theorien zum Entstehen, Bestehen und Ende des sog. NSU die Runde machen. DTJ-Online fasst die wichtigsten Verschwörungstheorien zusammen und schätzt deren Wahrheitsgehalt ein.

Theorie I: Der Geheimdienst steckt mit dem NSU unter einer Decke

Kurz nach dem Auffliegen der Terrorgruppe schredderte ein Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz im November 2011 Akten über Verbindungsmänner in der rechtsextremistischen Szene. Wollte er Beweismaterial vernichten?

Zwar bescheinigte die Staatsanwaltschaft Köln den beteiligten Beamten, rechtmäßig gehandelt zu haben, denn sie hätten den Ernst der Lage nicht gekannt. Dennoch: Die Aktion erscheint verdächtig. Zumal ihr Vorgesetzter bereits über den sog. NSU in Kenntnis gesetzt wurde.

Selbst Verfassungsschützer sind sich einig, dass der Beamte nicht so naiv gehandelt haben konnte. Der Vorwurf steht im Raum, dass der Referatsleiter die Akten gezielt vernichtet habe. Stand also etwas Wichtiges in der Akten, das unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen sollte?

Ein ehemaliger Spitzel des Verfassungsschutzes, dessen Akten bei der besagten Aktion vernichtet worden waren, behauptet mittlerweile, die Sicherheitskräfte hätten die mutmaßlichen NSU-Terroristen bewusst untertauchen lassen. Das Amt für Verfassungsschutz will davon nichts wissen.

Der Wahrheitsgehalt: Die Vernichtung von relevanten Akten erscheint zwar hochverdächtig. Umso unwahrscheinlicher ist es jedoch, dass die beteiligten Beamten ihr Vorgehen bei der vermuteten Verschwörung penibel in offiziellen Akten des Verfassungsschutzes festhielten.

Theorie II: Der NSU hatte mehr Mitglieder

War der sog. NSU eine kleine verschworene Gruppe, wie es der deutsche Bundesanwalt vermutet, oder bestand die Terrorgruppe aus viel mehr Mitgliedern? Die Theorie der kleinen Gemeinschaft untermauert die Tatsache, dass sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe seit ihrem Abtauchen extrem abschotteten.

Dennoch: Ohne Unterstützer hätte die Terrorgruppe nicht so viel Schaden anrichten können. Die vier weiteren Angeklagten im NSU-Prozess werden zwar nur der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung beschuldigt, ihnen kommt allerdings eine Schlüsselrolle zu: Ralf Wohlleben und Carsten S. beschafften die Schusswaffe, mit der zehn Menschen ermordet wurden.

Unklar bleibt weiterhin, wie viel die deutsche Neonazi-Szene wusste, und ob der NSU nicht doch weitere Mitwisser und Helfer hatte. In der gewaltbereiten rechtsradikalen Szene kursierte das Kürzel „NSU“ jedenfalls auf einschlägigen CDs und DVDs. Außerdem erschweren erstaunliche „Zufälle“ die These des „Terror-Trios“.

In München wurden zum Beispiel nach einem von Böhnhardt und Mundlos nachweislich begangenem Mord stadtbekannte Neonazis am Tatort beobachtet. In Köln wurden statt den beiden Glatzköpfen ein langhaariger Mann verdächtigt, die Bombe in dem Laden in der Probsteigasse gelegt zu haben. Außerdem liegt die Straße, wie bei vielen Tatorten, eher abseits. Konnten Böhnhardt und Mundlos ihre Anschlagsziele wirklich selbst auskundschaften oder bekamen sie Hilfe von Ortskundigen?

Der Wahrheitsgehalt: Die Frage nach den Unterstützern wurde im NSU-Prozess in München mehrfach gestellt. Belastbare Beweise für weitere NSU-Mitglieder konnten bislang nicht gefunden werden. Indizien, die auf ein breit gefächertes Unterstützernetzwerk hinweisen, sind hingegen bekannt.

Theorie III: Böhnhardt und Mundlos haben nicht Suizid begangen

Die letzten Minuten im Leben der NSU-Terroristen Böhnhardt und Mundlos haben sich in der offiziellen Version so zugetragen: Anfang November 2011 überfallen die beiden Neonazis die Wartburg-Sparkasse am Nordplatz in Eisenach. Alles geht glatt. Sie flüchten mit Fahrrädern zu einem Wohnmobil. Doch diesmal geht etwas schief. Anwohner melden ihr Fahrzeug der Polizei.

Als sich ein Sondereinsatzkommando dem verdächtigen Wohnmobil nähert, fallen Schüsse. Rauch tritt aus dem Inneren. Wenig später steht das Fahrzeug in Flammen. Böhnhardt und Mundlos entziehen sich der Festnahme durch die Polizei, indem einer zunächst den anderen tötet und dann sich selbst richtet.

Doch warum wählten die Terroristen den Freitod? Sie waren zuvor nicht um eine Bluttat verlegen. Mit erbittertem Widerstand hätten sie den einen oder anderen Beamten des Staates töten können, den sie seit ihrem Abtauchen bekämpften – zumal ihnen im Wohnmobil ein ganzes Waffenarsenal zur Verfügung stand.

Der Wahrheitsgehalt: Die Beweislage ist eindeutig: Die Sicherheitsbeamten haben niemanden weglaufen sein. Der Staat glaubt seinen Dienern. Also war da auch niemand. Eine weitere Verschwörungstheorie lautet allerdings: Die Terroristen wurden von der Polizei selbst umgebracht. Dies erscheint jedoch sehr weit hergeholt. Beweise gibt es dafür jedenfalls nicht ansatzweise. Ein Obduktionsbericht ließ im April hingegen ernsthafte Zweifel an der offiziellen Selbstmordversion der beiden mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt aufkommen.

Der sogenannte „Nationalsozialistische Hintergrund“ (NSU) soll von 2000 bis 2011 aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bestanden haben. Die beiden männlichen Mitglieder der Gruppe sollen acht türkischstämmige und einen griechischen Händler sowie eine Polizistin getötet und 14 Banken in Chemnitz, Zwickau, Stralsund und Arnstadt überfallen haben. Zschäpe ist seit 2013 wegen Mittäterschaft in zehn Mordfällen, besonders schwerer Brandstiftung und Mitgliedschaft in und Gründung einer terroristischen Vereinigung vor dem Münchener Oberlandesgericht angeklagt.</p>