Erri De Luca - Interview mit Le Monde 10.4.2014

Anmerkung: der französische Originaltext ist nur gegen Bezahlung abrufbar. Die Übersetzung ist die Übersetzung der Übersetzung ins Italienische.

Die moralische Pflicht zum Widerstand existiert

10. April 2014

 

Titanische Baustelle, erregt der TAV Turin-Lyon den Zorn der Umweltfreunde auf beiden Seiten der Grenze. Die Bewohner des Susa Tals in Italien machen inzwischen seit Jahren gegen diese Arbeiten mobil, die mit der Eröffnung eines 57 Kilometer langen Tunnels von Susa im Piemont nach Saint-Jean de Maurienne in Savoyen einher gehen. Mehrfach abgelehnt, wurde dieses Projekt der gemischten Waren- und Personenbeförderung 1991 vorgeschlagen, 2001 durch ein internationales Abkommen amtlich auf den Weg gebracht und lange Zeit zu Ungunsten der Bereitstellung von Mitteln vertagt. Das Gesamtwerk sollte 25 Milliarden Euro kosten, von denen 8,5 für den internationalen Streckenabschnitt anfallen. Ausgeführt werden die Arbeiten für den besagten Abschnitt von LTF, einer Gesellschaft unter dem Schirm des französischen und italienischen Bahnnetzes.

 


Der Schriftsteller Erri De Luca hat sich voll und ganz dem Anliegen der Widerständigen im Susa Tal im Kampf gegen die Eröffnung des Tunnels verschrieben. Alter linksextremer Militanter Angehöriger von Lotta Continua in den 70er Jahren, ist De Luca Autor zahlreicher Bücher, Essays, Chroniken, Romane und Erzählungen, unter denen "Montedidio", der 2002 den Preis Femina ètranger gewann. Sein jüngster Roman, Il torto del Soldato ["Das Unrecht des Soldaten", d. Ü.] ist kürzlich bei Gallimard erschienen.

 


Am 1. September 2013 erklärte er der italienischen Ausgabe der Huffington Post gegenüber, dass die Arbeiten für den TAV sabotiert werden müssen. LTF erstattete eine Anzeige, die für den Schriftsteller eine Anklage zur Folge hatte.

 

 

 

Die Arbeiten für die Turin-Lyon Trasse rufen im Susa Tal bedeutenden Widerstand hervor. Aus welche Gründen?

 
"Zunächst gilt, dass der Berg voller Uran und Pechblende ist, einem radioaktiven Material, das die Bohrung des Tunnels über Dutzende Kilometer freizusetzen droht. Besonders diese Arbeiten haben den wesentlichen Zweck, die Mittel für den Bau den Unternehmen zuzuführen, die sich damit die Taschen voll stopfen, während es schon eine angestammte Bahnstrecke gibt, die zu weniger als 20% der Kapazität ausgelastet ist. Italien ist voller verlassener Baustellen. Brücken, Straßen, Krankenhäuser. Es gibt Hunderte davon. Gewissermaßen haben sich jene Baustellen selbst sabotiert. Es ist ein Entwicklungsmodell. Vergisst nicht, dass Italien das korrupteste Land in Europa ist.

 

 

Wie weit ist die Baustelle gediehen?

 
Seit 2008 ist die TAV Baustelle militarisiert, die Bewohner müssen sich ausweisen, um in ihre Weinberge zur Arbeit zu gehen. Die Regierung hat eine Armee gegen die lokale Bevölkerung entsendet, die seit Jahren in den Widerstand getreten ist. Eine Form der Repression nach altertümlichem Muster. Mindestens tausend Personen werden im besagten Zusammenhang verfolgt. Beispielsweise, weil sie die Zaunanlagen beschnitten hatten, die LTF auf kommunalem Gebiet positioniert hatte, wo deren Installation ein illegaler Akt war. Nun werden vier von ihnen wegen "Terrorismus" verhaftet, nach dem man sie beschuldigt hatte, einen Kompressor auf der Baustelle ruiniert zu haben. In Turin beschäftigt sich ein Pool von Staatsanwälten allein damit. Sie verhalten sich, als seien sie die Wachhunde von LTF. Auch in Genua hatte die Polizei 2001 hunderte Menschen verhaftet, die Richter ließen sie aber wieder frei. In diesem Fall machen sie den Job der Polizisten... Das Susa Tal ist aber solidarsisch. Im Februar haben sie zusammengelegt [und gesammelt, d. Ü.], um die Geldstrafe zu bezahlen, zu der die Frontgestalt der Widerständigen Alberto Perino [und zwei Lokalpolitiker, die zusammen rund 225000 Euro Schadensersatz an LTF zahlen mussten, d. Ü.] verurteilt worde war. Das Susa Tal ist eine internationale Angelegenheit geworden. Es ist eine Causa für die echte italienische Linke, die der Basis und der sozialen Zentren und auch von manchen anderen, wie Beppe Grillos Movimento 5 Stelle oder Sinistra e Libertá (SEL) [Ähnlich wie die Linkspartei, d. Ü.]. Der Kampf gegen den TAV steht für den kraftvollsten und robustesten Volkskampf, den es in Italien gegenwärtig gibt.

 

 

Welche ist Ihre Rolle in dieser No Tav Widerstandsbewegung?


Ich bin seit 2006 an deren Seite. Damals war ich mit meiner ersten Vorstellung "Don Quijote und die Unbesiegbaren" auf Tour. Ich hatte sie tagsüber aufgesucht und mit ihnen gesprochen. In der Nacht riefen sie mich an: die Polizei hatte ihr Camp in Venaus zerstört. Wir blockierten die Straße. Es handelte sich um friedlichen Widerstand. Später nahm ich an öffentliche Begegnungen und an ihren Geldsammlungen Teil.

 

 

Derzeit läuft eine Anzeige gegen Sie. Worum geht es dabei?

 
Die Beamten der Digos, der Sparte, die sich mit Terrorismusangelegenheiten beschäftigt, haben sich am 24. Mai bei mir eingestellt und mir die den Bescheid überbracht, dass man wegen "Anstiftung zur Gewalt" gegen mich vorgehen wird. Ermittlungen erfolgten nach einer am 1. September 2013 erstatteten Anzeige von LTF. Der Grund: zwei Sätze, die am 1. September in der italienischen Ausgabe der Huffington Post wiedergegeben wurden. Ich sagte darin: "der TAV gehört sabotiert", und dass diese Sabotageakte "notwendig sind, um begreiflich zu machen, dass der TAV eine nutzlose und Schaden stiftende Baustelle ist".

 

 

Ist die Anstiftung zur Sabotage nicht etwas sehr schwerwiegendes?

 
Meine Vorsätze in der Huffington Post stellen eine Meinung dar. Es ist lediglich meine Sichtweise bezüglich dieses Projektes und dessen, was angebracht wäre, zu tun: jene arbeiten zu sabotieren. Es handelt sich nicht um einen Akt. Ich bin nicht auf eine Barrikade gestiegen, um die Menge anzutreiben. Die Sabotage ist eine Form des politischen Widerstands, die nicht allein ihrer materiellen Ausprägung nach aufgefasst werden kann. Dieses Wort hat einen umfassenderen Sinn, einen politischen Sinn. Wenn sich diese Abgeordneten im Parlament einem Gesetz widersetzen, sabotieren sie es auf ihre Art. Auch der Streik ist eine Sabotageart. Und wenn sich jemand weigert, einem Massenvernichtungsbefehl Folge zu leisten, trägt er dazu bei, diesen zu sabotieren. Die moralische Pflicht zum Ungehorsam existiert. Die Staatsanwälte haben meine Sätze genommen und sie in zwischen Anführungsstriche gesetzt, sie haben sie interpretiert, um sie zu zensieren. Es ist, als würde man meinen Worten Handschellen anlegen. Ich kann sie meinerseits nicht befreien. Ich kann sie lediglich wiederholen.

 

 

Gründet die Demokratie nicht auf der Achtung der Gesetze?

 
Gesetze sind vergänglich. Sie ändern sich. Die Demokratie ist auch die Möglichkeit, die Dinge zu verändern, mit den Gesetzen und der Politik. Es ist wie im wissenschaftlichen Bereich: Individuen sind häufig effektiver als Massen. Als Kopernikus sein De Revolutionibus Orbium Coelestium schrieb, war er allein. In Italien wurde der Widerstand gegen den Faschismus von kleinen Gruppen geleistet, die Zuflucht in den Bergen gesucht hatten. Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert der anfänglich von Minderheiten vorangetriebenen Revolutionen gewesen. In der Ära der Arbeiterkämpfe in den Fabriken  spornte Lotta Continua, die Bewegung, der ich angehörte in den 70er Jahren die Arbeiter zur Sabotage der Fertigungsstraßen an. Das war notwendig, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Nichts wurde dadurch zerstört, mit Ausnahme des Produktionsablaufs. Bei uns verhält es sich wie folgt: die Macht ist unbeweglich, es sind also Aktivisten nötig, die im Namen der Mehrheit den Kampf vorantreiben. Im Susa Tal verteidigt die Bevölkerung ihre Gesundheit. Sie kämpft gegen die Vergiftung des Tals. Es handelt sich um eine Massenbewegung. Überall, wo große Industrieanlagen sind, gibt es ökologische Tragödien. Die Verteidigung der Luft, des Bodens und des Wassers: das ist revolutionär. Diejenigen, die an jenen Orten geboren sind, haben das Recht, deren Bürger zu sein und über die Umwelt, die sie haben wollen, zu entscheiden.

 

 

In den 70er Jahren vertrat eine linksextreme Bewegung wie Lotta Continua, der sie angehörten, universale Rechte. Die Bewegung aus dem Susa Tal hat ihren Schwerpunkt in einem lokalen Kampf. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Kontinuität?


Der Widerstand im Susa Tal steht nicht für einen lokalistischen Kampf. Es ist ein Kampf gegen die Herabsetzung des Bürgers in den Rang eines einer absoluten Macht unterworfenen Subjekts. Das ist universal.

 

 

Wodurch tangiert diese Anschuldigung ihre Tätigkeit als Schriftsteller?


Dadurch, dass es um Worte geht, die ich ausgesprochen habe. Sie sind es, die unter Anklage stehen. Als Privatperson kann ich mich physisch engagieren, wie ich es tat, als ich während des Krieges nach Jugoslawien ging. Als Schriftsteller aber, engagiere ich mich durch mein Schreiben. Es ist ein offenkundiges Engagement, ein elementares. Gewiss liegt mir am Recht auf freie Meinungsäußerung sehr viel.

 

 

Wer unter den italienischen Intellektuellen und Künstlern hat sie nach der Anzeige unterstützt?

 
Im September gab es eine Petition von Intellektuellen, die sich zu meinen Gunsten aussprachen. Später haben der Schriftsteller und Schauspieler Ascanio Celestini, die Sängerin Fiorella Mannoia und der Schauspieler Alessandro Gassmann persönliche Erklärungen zu meiner Unterstützung abgegeben. TV und Presse sprechen darüber aber nicht. Die Eigentümer sind immer dieselben...

 

 

Welche Strafe riskieren Sie?

 
Die Gefängnishaft. Und ich werde nicht in Berufung gehen, falls man mich verurteilen sollte.

 

 

 

http://www.lemonde.fr/livres/article/2014/04/10/erri-de-luca-le-devoir-moral-de-desobeissance-existe_4399462_3260.html

 

Übersetzung des Le Monde Artikels ins Italienische:


http://www.gigirichetto.it/?p=367