[Türkei] Interview zur LGTB-Bewegung

Yildiz Tar

Über Folter und Unterdrückung, Widerstand und die Auswirkungen von Gezi. Interview zur LGTB-Bewegung in der Türkei.

Wir haben uns mit Yildiz Tar getroffen, Journalist*in, Autor*in des Buches „Genosse, ich bin eine Schwuchtel“, seit acht Jahren Aktivist*in in der lesbian, gay, bisexual, transgender Bewegung (LGBT). Yildiz ist Redakteur*in des Magazins und der Website von KAOS GL (eine anarchistische LGBT Organisation die 1994 Gegründet wurde). Außerdem ist Yildiz Mitglied bei Lamda Istanbul (einer sozialistischen LGBT Organisation die 1993 nach dem Verbot des Cristopher Street Day’s gegründet wurde.)

 

Während Gezi hat Yildiz für Etkin, eine sozialistische Nachrichtenagentur aus Istanbul, gearbeitet. Das Magazin von KAOS GL wird vierteljährlich publiziert und hat eine Leser*innenschaft von ungefähr 5000 Personen. Die Website ist die erste und einzige Quelle für Tagesnachrichten aus der türkischen LGBT-Gemeinschaft und ist gleichzeitig ein Versuch der Archivierung der LGBT Bewegung. Auf ihr werden alle Hassverbrechen gegen LGBT-Menschen publik gemacht.

 

KAOS GL feiert ja dieses Jahr seinen 20. Geburtstag, wir reden also über eine Bewegung mit einer langen Geschichte. Könntest du die für uns umreißen?

 

Also, meiner Meinung nach, hat die Bewegung ihren Ursprung vor dem Militärputsch von 1980. Bereits da haben sich transgender Frauen organisiert und versucht Widerstand zu leisten. Wir alle kennen die Geschichten der Repression gegen die Revolutionäre oder die kurdische Befreiungsbewegung, aber niemand kennt die Geschichte der Transfrauen. Sie wurden systematisch gefoltert. Das Militär hat sich für sie eigene Foltermethoden ausgedacht, so wurden sie zum Beispiel mit Katzen in einen großen Sack gesteckt, dann wurden die Katzen geschlagen und haben ihnen das Gesicht zerkratzt. Manchmal wurden sie auch mit Zügen in ländliche Gegenden gefahren und während der Fahrt rausgeworfen und den Tieren zum Fraß vorgeworfen.

 

Offiziell hat die Bewegung jedoch erst mit KAOS GL in Ankara und Lamda Istanbul angefangen. 1994 wurde unser Magazin das erste Mal publiziert. Es war damals verboten, also wurde es in verschiedenen Copyshops kopiert und dann in diversen Privatwohnungen zwischen Büchern versteckt. Nach der „Legalisierung“ musste es mit einem Vorwort veröffentlicht werden, in dem Stand, dass es für die Öffentlichkeit unangemessen ist und Kindern schaden könnte. Erst seit 2008 müssen wir das nicht mehr schreiben. In den letzten acht Jahren haben sich viele neue Organisationen gegründet, wie „Pinklife“ in Ankara, „Istanbul-LGBT“, aber auch in Izmir und Diyarbakir. In den letzten fünf Jahren sind in über 30 Städten in der Türkei und Kurdistan LGBT-Organisationen gegründet worden.

 

Gezi war ein riesiger Wendepunkt für die LGBT-Bewegung. Nach Gezi gab es in jeder einzelnen Stadt LGBT-Organisationen, überall wehte die Regenbogenflagge und sie haben das auch aus den Städten herausgetragen und haben das Abenteuer der LGBT’s unheimlich beschleunigt. Viele behaupten jetzt, die Bewegung hätte erst mit Gezi angefangen. Das ist nicht die Wahrheit. Wir reden hier über eine ernsthafte Geschichte voll von Schmerz und Freude die uns überhaupt erst zu dem Punkt gebracht hat, sagen zu können: „Wir sind hier!“ Gezi hat es beschleunigt, aber angefangen hat es viel früher.

 

Auch wenn Gezi nicht der Anfang der Bewegung war, war es ja ein gigantischer Katalysator. Was hatte es für Auswirkungen auf die Bewegung?

 

Sie wuchs gewaltig, viele neue Organisationen wurden gegründet und die gesamte LGBT-Gemeinschaft wurde viel stärker. Wir wurden sichtbar in den Massenmedien und jeder musste folgenden Fakt akzeptieren: Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender sind hier, ob es euch gefällt oder nicht! Das mussten wir uns bis dahin erkämpfen.

 

Wir wollten sichtbar werden und durch Gezi wurde diese Phase unseres Kampfes erfolgreich beendet. Von jetzt an können wir für unsere Rechte und Befreiung kämpfen, radikal queer und auf eine anarchistische Art der Selbstbefreiung und der Befreiung der Welt. Das ist also unser nächstes Ziel. Ich benutze gerne eine Metapher, wenn es um Gezi geht. Alle Gruppen hatten Mauern um sich herum gebaut, wie bequeme Heime, von denen aus sie mit anderen Gruppen, in anderen Häusern gearbeitet haben, wie Nachbarn. Wir haben uns aus den Fenstern zu gerufen. Gezi hat alle Mauern niedergerissen, alle „Heime“ zerstört. Wir haben angefangen unsere Erfahrungen und unsere Lebensweise miteinander zu teilen.

 

Hatte Gezi Auswirkung auf das Verhalten der Regierung gegenüber der LGBT-Bewegung?

 

Wir sehen die Zeichen, aber man kann noch nichts mit Sicherheit sagen. Vor Gezi waren wir wie die ungewollten Kinder der Regierung. Sie wollten uns nicht, mussten sich aber auch nicht um uns kümmern, die Gesellschaft hat uns sowieso gehasst und viele Leute haben durch Hassverbrechen dem Staat die Arbeit erspart. Sie haben uns ermordet und es war allen egal.

 

Während und nach Gezi hat der Staat das Potential der Bewegung erkannt und sieht uns nun als Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Zum Beispiel gibt es ein Projekt für LGBT-Gefängnisse. Die Regierung ist so verrückt geworden, dass sie für LGBT-Gefangene ein eigenes Gefängnis bauen wollen.

 

Sie sagen zwar, dass es Vergewaltigungen und anderem „ungewolltem Verhalten“ gegenüber den LGBT’s vorbeugen soll und dass es dem Schutz dient, aber das ist offensichtlich eine Lüge. Die Transgender-Gefangenen werden von den Wärtern vergewaltigt. Eine Genossin von uns wurde fünf Mal vergewaltigt, in fünf verschiedenen Gefängnissen, immer von Wärtern.

 

Sie ist dann in den Hungerstreik getreten und nach 70 Tagen gelang es ihr, die Vergewaltigungen zu stoppen. Jetzt ist zwar ihr Hungerstreik beendet, aber sie leidet nun unter dem Korsakoff-Syndrom. ** Es ist also nicht das Ziel die Gefangenen zu beschützen. Wenn die türkische Regierung einen Knast baut, sagt sie damit: „Wir werden kommen und euch einsperren.“ Das können wir auch bei den kurdischen und sozialistischen Bewegungen anhand der F-Typ Gefängnisse sehen. Wir bemühen uns, uns auf diese Attacken vorzubereiten, aber es ist nicht sicher, wann und ob sie kommen. Die Situation in der Türkei ist es momentan sehr Chaotisch und irgendwie vom Zufall bestimmt. Marx berühmte Worte „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht“ werden hier jetzt Realität.

 

Sind vor den “eigenen” LGTB-Gefängnissen die LGBT-Gefangenen in reguläre Männergefängnisse gesteckt wurden?

 

Nein. Transfrauen wurden von den anderen Gefangenen isoliert und weder mit Frauen, noch mit den Männern inhaftiert. Wenn du dich als schwuler „geoutet“ hast, wurdest du auch isoliert, wenn du einfach nichts gesagt hast, ist nichts passiert. Jetzt wollen sie alle LGBT-Gefangenen in ein Gefängnis stecken, das ist ihr aktuelles Projekt von dem wir leider noch nichts Genaues wissen, zum Beispiel, wo sie es bauen oder ob sie einfach ein altes leer machen und zum LGBT Gefängnis erklären.

 

Wie sieht es mit der Akzeptanz von LGBT-Aktivisten innerhalb der linken Bewegung und den linken Organisationen aus? Hat sich da was durch Gezi verändert?

 

Als Anarcho-Kommunist*in war ich immer Mitglied sozialistischer Parteien oder Teil der kurdischen Befreiungsbewegung. Das ist also irgendwie auch meine persönliche Geschichte. Vor zehn Jahren konnte ich nicht sagen, dass ich queer bin, als ich es doch getan hab, haben sie mich rausgeschmissen. Vor fünf Jahren wurde dann allerdings eine große Organisation, die Koalition der kurdischen und sozialistischen Bewegung (HDP), gegründet und da war ich wieder mit dabei.

Aber auch das hat sich durch Gezi geändert. Ich habe sogar ein Buch darüber geschrieben, „Genosse, ich bin eine Schwuchtel“. Ich habe dazu die Führer*innen oder Sprecher*innen von verschiedenen sozialistischen Parteien interviewt und sie gefragt was sich für sie mit Gezi geändert hat. Vieles hat sich durch Gezi geändert, aber manche Dinge sind auch einfach so geblieben. Im Grunde akzeptieren sie den Kampf der LGBT-Bewegung als einen wichtigen Kampf, wissen aber nicht, wie sie damit umgehen sollen. Vor Gezi sahen sie es nicht einmal als wichtigen Kampf an, sie dachte die Menschen in der Türkei würden es nicht verstehen und es wäre zu früh für solch eine Bewegung. Offensichtlich hat Gezi sie eines Besseren belehrt.

 

Auf der anderen Seite gab es auch nicht diese „große Erleuchtung“ und Homophobie ist auch nicht verschwunden. Es gibt Homophobie und Transphobie in den revolutionären Bewegungen, aber es gibt auch Hoffnung, dass sie sich ändern. Außerdem ist die linke Bewegung keine homogene Gruppe. Auf der einen Seite gibt es sehr konservative Organisationen, die sagen Homosexualität sei die Perversion der bürgerlichen Gesellschaft und dass es eine heilbare Krankheit ist. Auch wenn sie mir jetzt wahrscheinlich nicht zustimmen würden, aber auch sie ändern sich. Es gibt aber auch Organisationen, die LGBT als Teil des revolutionären, anti-kapitalistischen Kampfes akzeptieren. Das sind quasi die zwei Pole der Akzeptanz der LGBT-Frage innerhalb der linken Bewegungen.

 

Wie sieht es mit der Akzeptanz im Rest der Gesellschaft aus?

 

Naja, im Grunde gibt es keine gesellschaftliche Akzeptanz. Wir werden gesellschaftlich nicht akzeptiert, aber vor Gezi hatten alle den Luxus, einfach so zu tun, als würde es uns nicht geben. Jetzt wo wir sichtbar geworden sind, müssen alle irgendwie Position beziehen, für oder gegen LGBT. Die Grenzen wurden schärfer. Die konservativen und nationalistischen Kräfte stehen nun öffentlich gegen LGBT und progressivere Kräfte unterstützen uns öffentlich. Die Situation ist klarer, durchsichtiger geworden. Wir sind jetzt sichtbar. Unser Kampf hat seinen Weg in die Massenmedien und die Tagespolitik gefunden, was eine extrem wichtige Sache für jede Bewegung ist. Es bedeutet, dass wir ihnen nicht länger nur ausgesetzt sind. Wir können Position beziehen, und sie müssen sich dazu verhalten. Das bedeutet wirklich viel und ist ein riesiger Erfolg.

 

Vielen Dank für deine Zeit.


** Eine neurologische Störung die durch Mangelernährung auftritt; Symptome sind massiver Gedächtnisverlust [retrograde und anterogade Amnesie], Apathie, Konfabulation, Inhaltsverlust in Konversationen.

 

 


 

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