Hätte die Ukraine ihre Atomwaffen besser behalten?

Erstveröffentlicht: 
01.03.2014

Nach Ende der Sowjetunion besaß die Ukraine eine immense Zahl an Atomsprengköpfen. Die gab sie an Moskau ab für Sicherheitszusagen aus Russland, USA und Großbritannien. Doch was sind die noch wert?


Clemens Wergin

Ob Russland auf dieselbe Art und Weise bei seinem ukrainischen Nachbarn zündeln würde, wenn das Land noch über Atomwaffen verfügte? Das ist nicht nur eine akademische Frage, denn schließlich besaß die Ukraine nach dem Zerfall des Sowjetreiches plötzlich eine große Anzahl sowjetischer Atomraketen, die auf dem eigenen Staatsgebiet stationiert waren.

1994 hat die Ukraine sich verpflichtet, diese Waffen an Russland zu übergeben, im Tausch gegen Sicherheitszusagen aus Moskau, den USA und Großbritannien – Zusagen, auf die Kiew nun pocht, da offenbar von Moskau angestachelte russische Nationalisten versuchen, die mehrheitlich von ethnischen Russen bewohnte Krim von der Ukraine abzuspalten.

Nun hat auch der neue ukrainische Premier Arseni Jazenjuk Russland zur Einhaltung seiner Verpflichtungen aus dem sogenannten Budapest Memorandum von 1994 aufgerufen. Damals hatte sich die Ukraine, die über die drittgrößte Anzahl von Nuklearsprengköpfen auf der Welt verfügte, dazu verpflichtet, diese an Russland zu liefern und dem Nichtweiterverbreitungsvertrag beizutreten.

Die Ukraine hat auf Abschreckungsmacht verzichtet

Das sah damals aus wie ein guter Deal. Die internationale Gemeinschaft profitierte, weil so verhindert werden konnte, dass es einen weiteren Atomwaffenstaat auf der Welt gab. Und Kiew bot sich die Gelegenheit, von Moskau die Anerkennung seiner Grenzen in einem völkerrechtlich relevanten Vertrag zu bekommen. Eine Win-win-Situation, so schien es.

Heute könnte es jedoch einen großen Verlierer dieser Abmachung geben: die Ukraine. Denn Papier ist geduldig. Und niemand weiß, ob Russland noch gewillt ist, seine damaligen Zusagen einzuhalten. Die Ukraine verfügt schon lange über keine Atomwaffen mehr – und somit auch nicht über deren Abschreckungsmacht.

Wenn Russland also tatsächlich versuchen sollte, die Krim aus der Ukraine herauszulösen, würde das viele Fragen aufwerfen. Etwa die, ob russische Unterschriften unter Verträge überhaupt noch etwas bedeuten. Und auch die Frage, was das denn für das internationale Nichtweiterverbreitungsregime heißen würde.

Wer soll noch an russische Zusagen glauben?

Welcher Staat in der Welt wäre noch bereit, Atomwaffen aufzugeben, so wie es Südafrika und die Ukraine getan haben, wenn die Atommacht Russland solcherart gegen die mit der Ukraine geschlossenen Vereinbarungen verstoßen sollte?

Es steht in diesen Tagen also noch mehr auf dem Spiel als die Zukunft und der territoriale Zusammenhalt der Ukraine – was wichtig genug wäre. Es geht nun zusätzlich auch um die Glaubwürdigkeit der führenden Atommächte und der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Und um den zukünftigen Bestand des Nichtweiterverbreitungsregimes.

Zwar stellt das Budapest Memorandum keinen echten Beistandspakt dar, der die USA und Großbritannien verpflichten würde, der Ukraine gegen Aggressionen Russlands militärisch beizustehen. Es dürfte aber klar sein, dass die beiden westlichen Garantiemächte des Memorandums nicht einfach zusehen können, wenn Russland die Einheit der Ukraine untergräbt.

London und Washington halten sich bedeckt

Derzeit sieht es noch so aus, als würde man sich in London und in Washington davor drücken, klare Aussagen zu den Verpflichtungen zu machen, die sich aus dem Budapest Memorandum ergeben. Das wird sich sicher nicht durchhalten lassen.

Warum sollte ein Staat jemals wieder darauf vertrauen, Atomwaffen abzugeben, wenn sich führende Weltmächte dann aus der Verantwortung stehlen, die durch die Abgabe der Atomwaffen verwundbar gewordenen Staaten zu schützen?

Je deutlicher die Hand Moskaus sichtbar wird hinter den destabilisierenden Aktionen, die sich derzeit auf der Krim abspielen, desto größer wird der Druck auf die USA und auf Großbritannien werden, die Ukraine nicht im Regen stehen zu lassen. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit für die führenden Mächte des Westens.