Vorwürfe wegen Toten vor griechischer Insel

Erstveröffentlicht: 
13.02.2014

Grenzschützer sollen Flüchtlinge aufs Meer geschleppt haben
Zwölf Flüchtlinge ertrinken vor den Augen der griechischen Küstenwache. Womöglich sterben sie gerade ihretwegen. Von Stefan Buchen, Athen, und Frederik Obermaier Immer wieder holt Sabur Azizi die Fotos hervor: Sie zeigen seinen Sohn Behzad und seine Frau Elahe, beide lächeln, sehen erleichtert aus. Ihr Blick erzählt von dem großen Glück, es nach einer Flucht vorerst in Sicherheit geschafft zu haben, an einen Ort, wo man bei schönem Wetter sogar schon sein Ziel am Horizont sehen kann. Europa.

 

Azizi hat es nach Griechenland geschafft. Doch was ist das schon wert? Er sitzt in einem Hotelzimmer in Athen, er weint. Die Fotos von seiner Frau und seinem Sohn sind keinen Monat alt, und doch zeigen sie eine Welt, wie sie nie mehr sein wird. Beide sind ertrunken, eingeschlossen im Wrack eines Fischerbootes, gestorben in der Nacht, die Azizi nie vergessen wird und in der sich auch die Irrungen und Wirrungen der europäischen Flüchtlingspolitik in ihrer ganzen Drastik zeigen.

In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar bestiegen Azizi, seine Frau und sein Sohn südlich der türkischen Stadt Izmir einen Fischkutter. Der Steuermann sollte sie auf eine griechische Insel bringen. Die Fahrt übers Mittelmeer sollte die letzte Etappe sein. Die Familie war in Afghanistan aufgebrochen, jetzt wollte sie nach Hamburg, wo bereits eine Schwägerin lebte.

 

Diese Toten haben Namen und Gesichter

28 Menschen stachen in jener Nacht in See, doch für zwölf von ihnen, drei Frauen und neun Kinder, endete die Überfahrt tödlich. Es ist eines von vielen Einzelschicksalen, die sich jedes Jahr an den europäischen Außengrenzen abspielen und von denen nur wenige Notiz nehmen, es sei denn, es sterben Hunderte, wie im Oktober vor Lampedusa. In der Regel bleiben die Toten anonym.

Der Fall dieses Kutters jedoch, der zwischen der türkischen Küste und dem griechischen Inselchen Farmakonisi sank, ist anders. Er ist greifbarer, weil weder die Toten noch die Lebenden anonym sind. Sie haben Namen und Gesichter, Namen wie Elahe und Behzad, Azizis Sohn und Frau. Ihr Fall beschäftigt mittlerweile auch das Europäische Parlament. Es geht um Verantwortung, unterlassene Hilfeleistung und Schuld. Denn die zwölf Menschen starben vor den Augen der griechischen Küstenwache. Womöglich starben sie gerade wegen ihr.

Die Überlebenden werfen den Griechen vor, sie aufs Meer hinausgeschleppt zu haben. Das Boot sei vollgelaufen, sie hätten um Hilfe gerufen und den Küstenwächtern ihre Kinder entgegengestreckt. Wenigstens die sollten überleben. Doch anstatt zu helfen, habe die Küstenwache das Abschleppseil gekappt: "Sie wollten uns alle untergehen lassen", erzählt Sabur Azizi der SZ und dem NDR. Es ist ein schwerwiegender Vorwurf, doch seine Aussage deckt sich mit den Schilderungen anderer Überlebender. "Das war eine Push-back-Operation, die völlig entglitten ist", vermutet Karl Kopp vom Flüchtlingshilfsverein Pro Asyl.

 

Zweifel am Vorgehen der griechischen Küstenwache

Push-back - so nennen es die Experten, wenn Grenzschützer Flüchtlinge abschieben, ohne sie je angehört zu haben. Wenn sie beispielsweise Flüchtlingsboote aus griechischen Gewässern einfach wieder aufs Meer hinausschleppen und dort ihrem Schicksal überlassen. Dutzende solche Fälle haben Amnesty International und Pro Asyl im vergangenen Jahr dokumentiert. Die Praxis ist illegal, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 geurteilt. Und dennoch, so legen es die Berichte der Menschenrechtler nahe, ist sie weit verbreitet.

Dass es die Praxis gibt, räumte sogar Frontex-Chef Ilkka Laitinen vor nicht allzu langer Zeit ein. "Ich kann nicht bestreiten, dass es diese Fälle gegeben hat", sagte er. Er sprach in der Vergangenheit, doch der Fall Azizi liegt in der Gegenwart.

Länder wie Deutschland, die keine europäische Außengrenzen haben, machen es sich in der Debatte leicht. Flüchtlinge müssen dort Asyl beantragen, wo sie europäischen Boden erstmals betreten haben, in Ländern also wie Spanien, Italien oder Griechenland. Die Landgrenze zur Türkei ist deutlich verstärkt worden, seither versuchen es noch mehr Flüchtlinge auf dem Seeweg. Wie Azizi in jener Nacht auf den 20. Januar.

 

Relevante GPS-Daten nicht auffindbar

Er erzählt, dass sie es bis wenige Hundert Meter vor die Insel Farmakonisi geschafft hätten. "Ich konnte erkennen, wie die weiße Gischt über die Felsen spülte. Weiter oben waren einzelne Lichter." Dann sei plötzlich die Küstenwache aufgetaucht und habe sie wieder aufs Meer hinausgezogen. Als das Boot zu sinken begann, hätten die Flüchtlinge noch versucht, auf das Schiff der Küstenwache zu gelangen, doch man habe nach ihnen getreten. Nur 16 hätten es auf das rettende Boot geschafft. Azizis Frau und sein Sohn sanken mit dem Fischkutter in die Tiefe.

Nun steht Aussage gegen Aussage. Küstenwachen-Chef Dimitrios Bantias murmelte vor dem griechischen Parlament etwas von "Entschuldigung bei den Flüchtlingen und beim griechischen Volk". Dass das Schiff Kurs in Richtung Türkei genommen habe, so lässt er später verlauten, sei gelogen. Die GPS-Daten der Küstenwache, die Klarheit schaffen könnten, sind nicht auffindbar.

EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström spricht derweil von "schwerwiegenden Vorwürfen" - und geht auf Distanz. Frontex habe mit der Aktion nichts zu tun. Zwar arbeiten die Griechen für Frontex, "aber in der tragischen Nacht war es allein eine Aktion der griechischen Küstenwache".

Und Azizi? Wartet. Taucher haben mittlerweile vier Leichen aus dem Wrack vor Farmakonisi geborgen. Seine Frau und sein Sohn könnten unter ihnen sein.