Flüchtlingsproteste in Italien - Protest mit zugenähtem Mund

Erstveröffentlicht: 
26.12.2013

 Die Lebensbedingungen in italienischen Auffanglagern sind erbärmlich. Nun rebellieren Flüchtlinge mit verzweifelten Aktionen. Ein linksdemokratischer Politiker hat sich für drei Tage in ein Lager in Lampedusa eingeschlichen.

 

Patricia Arnold, Mailand 

Am Ende seines Protestes wirkte Khalid Chaouki sehr zufrieden, aber auch erschöpft. Der 30jährige Parlamentsabgeordnete der italienischen Linksdemokraten hatte sich ins Flüchtlingscamp auf Lampedusa eingeschlichen, um auf die menschenunwürdigen Bedingungen dort aufmerksam zu machen. Drei Tage teilte der Politiker marokkanischen Ursprungs das Elend der illegalen Einwanderer, darunter auch Überlebende der tragischen Schiffskatastrophe vom 3. Oktober. Damals waren unmittelbar vor der Mittelmeerinsel 366 Eritreer ertrunken. Chaoukis Aktion hatte Erfolg. An Weihnachten wurden 169 Migranten im Flugzeug von Lampedusa nach Palermo und Rom gebracht, in besser ausgestattete Flüchtlingseinrichtungen, wie es in italienischen Medien hiess.

 

Die Demonstration des Parlamentariers ermutigte Flüchtlinge in anderen Übergangslagern des Landes zu Widerstand, mit oftmals verzweifelten Gesten. In Ponto Galeria bei Rom, einem Identifikations-und Auslieferungslager, nähten sich in den vergangenen Tagen zeitweise bis zu 15 Afrikaner ihren Mund zu. Ihre Lippen hatten sie mit spitzen Eisenteilchen durchstochen und Wolle aus ihren Pullovern gezogen, die sie dann als Fäden benutzten. Die Männer wehrten sich so gegen drohende Abschiebung, denn sie leben ohne Papiere in Italien oder sind straffällig geworden.

 

«Die Situation ist abscheulicher als in einem abrissreifem Gefängnis», kritisierten drei Abgeordnete der linken Partei «Sinistra Ecologia Libertà» (SEL) nach einer Besichtigung der Einrichtung am ersten Weihnachtstag. Sie erzählten auch, dass Migranten Essen verweigerten oder aus Protest gegen die miserablen Umstände nachts im Freien schliefen. Seit Jahren schon beanstanden internationale Menschenrechtsorganisationen, dass Asylverfahren in Italien verschleppt und Asylsuchende häufig ohne gerichtliche Klärung abgeschoben würden.

 

Schlechtes Essen soll an Heiligabend eine Revolte im Auffanglager von Bari in Süditalien ausgelöst haben. Flüchtlinge aus Syrien und Tunesien setzten Medienberichten zufolge zunächst einige Räume unter Wasser. Als die Polizei eingriff, steckten sie Möbel und andere Einrichtungsgegenstände in Brand. Erst als ein arabisches Lokal in Bari Kebab zu den Flüchtlingsbaracken brachte, soll sich die Situation beruhigt haben.

«Wie Tiere behandelt»

Von Flüchtlingen, die am Ende ihrer Nerven und Kräfte sind, berichtete der PD-Abgeordnete Chaouki in Gesprächen mit Journalisten, die er auf Lampedusa führte. Er erzählte, wie illegale Einwanderer den Tag verbringen: Essen und schlafen auf einer zerfledderten Matratze zwischen feuchten Wänden und ohne funktionierende sanitäre Anlagen. Der junge Politiker beschrieb, wie nachts eine junge Eritreerin durchdrehte und fürchterlich schreiend über den Hof lief. Eine Dreiviertelstunde habe es gedauert, bis ein Krankenpfleger eingegriffen habe, sagte Chaouki.

 

«Wir werden wie Tiere behandelt», äusserte ein Einwanderer in einem Video, das vor ein paar Tagen Italien schockierte. Die kurze Dokumentation, die ein syrischer Kriegsflüchtling mit seinem Handy gedreht hatte und die vom staatlichen italienischen Fernsehsender RAI ausgestrahlt wurde, zeigt, wie Migranten nackt auf dem Hof der Flüchtlingseinrichtung stehen und mit einem Wasserschlauch abgespritzt werden. «Wir werden zwei Mal die Woche mit Desinfektionsmittel besprüht», erzählte einer der Migranten.

40 000 illegale Einwanderer im 2013

«Gastfreundschaft für Menschen, die auf der Suche nach Würde sind», forderte auch Papst Franziskus in seiner Weihnachtsansprache vor mehreren Tausend Gläubigen auf dem Petersplatz in Rom. Im Sommer hatte der Pontifex aus Argentinien Lampedusa besucht und sich zutiefst erschüttert über die Flüchtlingsschicksale gezeigt. Etwa 40 000 illegale Einwanderer, darunter zahlreiche Eritreer, Syrer und Tunesier, sind nach Angaben des Innenministeriums in Rom allein in diesem Jahr ins Land gekommen. Meist wurden sie von brutalen Schleppern übers Meer gebracht. 2012 war diese Zahl mit 13 000 Immigranten weit geringer.

 

Laut einem Bericht der römischen Tageszeitung «La Repubblica» gibt der italienische Staat jeden Tag 1,8 Millionen Euro für Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und medizinische Versorgung der illegalen Einwanderer aus. In welchen Taschen verschwindet diese enorme Summe? Innenminister Angelo Alfano liess inzwischen Ermittlungen einleiten. Die Flüchtlingsmisere nutzen vermutlich die privaten Betreiber von Auffanglager, um sich skrupellos zu bereichern.