Fragmente über die Tage, die Teheran erschüttern

Das System der iranischen Theokratie, das sich als „Islamische Republik" bezeichnet, hat sich in eine verzweifelte Lage manövriert. Seit der Wahlfarce vom 12. Juni ist ein unverhüllter Machtkampf ausgebrochen, in dem die diversen Fraktionen des Regimes auf Leben und Tod gegeneinander und zugleich gegen die radikaleren Manifestationen der gesellschaftlichen Unzufriedenheit antreten. Die tieferen Gründe dieser für die Grundlagen des Systems desaströsen Entwicklung liegen in dem durch die ökonomische Krise und den Verfall des Ölpreises eingeschränkten Verteilungsspielraum des Regimes: Der von der Theokratie verwaltete Rentiersstaat kann die Schaffung breiter Loyalität durch die Verteilung der Ölrente nicht mehr gewährleisten. Erste Anzeichen dafür waren bereits die Benzinriots vor zwei Jahren, die in der Verwüstung von Tankstellen und Straßenkämpfen kulminierten. Alle Widersprüche, die das theokratische System prägen, liegen nunmehr offen zutage.

1.
Der Versuch der gegenwärtigen Machthaber, durch eine hohe Wahlbeteiligung sich Legitimität zu verschaffen ist gescheitert. Dass das Regime in den Wochen vor der Wahlfarce den Tugendterror auf der Straße milderte und im Fernsehen vergleichsweise offene Debatten zwischen diversen Präsidentschaftskandidaten zuließ, hat nur seine tiefgreifende Schwäche offenbart. Die Milderung der Repression verschaffte der gesellschaftlichen Unzufriedenheit die Gelegenheit, sich auf den Straßen zu sammeln: Reclaim the streets in Teheran und in allen größeren Städten des Landes. Diese heterogene Bewegung setzt sich keineswegs nur aus Unterstützern des nach den Kriterien der iranischen Theokratie „gemäßigt konservativen" Kandidaten Moussavi zusammen; sie versammelt auch diejenigen, die in den „sozialen Bewegungen" der vergangenen Jahre aktiv waren oder mit deren Forderungen sympathisierten: die Studenten insbesondere von den Massenuniversitäten, denen eine wenig beneidenswerte Zukunft als proletarisierte Kopflanger blüht und deren Revolte, die für das Ende der „Islamischen Republik" plädierte, vor zehn Jahren blutig in der Isolation niedergeschlagen wurde, die Frauenbewegung, die die Gleichheit der Geschlechter und das Ende der Steinigungen und des Tugendterrors fordert, die prekarisierte städtische Jugend, in einem geringeren Ausmaß auch unzufriedene Arbeiter.

2.
Das schiere Ausmaß der sich manifestierenden Unzufriedenheit führt zu panischen Reaktionen der gegenwärtigen Machthaber und zum offenen Bruch im System der „Islamischen Republik". Noch bevor alle Wahllokale geschlossen sind, erklärt der „Oberste Führer" Ayatollah Ali Khamenei den bisherigen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad, der zur Strömung der „Radikalen" mit apokalyptischen Visionen gehört und sich insbesondere auf die militärische Parallelstruktur der Pasdaran („Revolutionswächter") stützt, zum Sieger der Pseudowahlen. Die vier vom Wächterrat einzig zugelassenen Kandidaten waren bereits aus 400 Bewerbern handverlesen worden, und die verkündete Zweidrittel-Mehrheit für Ahmadinejad wird von seinen drei Gegenkandidaten nicht angefochten. Khameneis Vorgehen ist ein Bruch mit den Traditionen der so genannten Islamischen Republik, die ein starkes theokratisches Element - der „Oberste Führer" mit seiner von Gott verliehenen Autorität übt eine starke Kontrolle über die Institutionen der "Islamischen Republik" aus und ist oberster Befehlshaber der Armee und der Sicherheitsorgane - mit einem schwachen republikanischen Element - das Staatsvolk darf die vom Regime verlesenen Kandidaten wählen - vereint. Bislang hatte der „Oberste Führer" die Wahlergebnisse lediglich gebilligt, nachdem die Regierung sie festgestellt und verkündet hatte. Das hielt die Fiktion aufrecht, dass der theokratische Teil des Systems das republikanische Element anerkenne. Dieses Mal verschwand diese Fiktion durch Khameneis Vorgehen, der zudem erklärte, er habe Ahmadinejads Sieg gewollt.

3.
Statt dass die „Islamische Republik" mit einem neu legitimierten Präsidenten ausgestattet wird und Ruhe und Ordnung einkehrt, geht die soziale Bewegung auf den Straßen zur offenen Revolte über, die die Krise innerhalb des Systems verschärft. Die Bewegung hat mit der Wahlfälschung ein Thema, das die Unzufriedenheit zunächst in der Frage „Wo ist meine Stimme?" und dem Ruf „Nieder mit dem Diktator" bündelt. Die Demonstrationen in Teheran und in den größeren Städten Irans schwellen an - es kommt zu harten Straßenkämpfen mit Polizei, Revolutionsgarden und Basij-Milizen, die zum bevorzugten Ziel der Revoltierenden werden - bevor sie durch harte Repression mit zig, wenn nicht Hunderten von Toten zunächst eingedämmt werden. Und die Bewegung trifft auf einen nun offensichtlichen Machtkampf im Establishment, der sich durch sämtliche Institutionen der „Islamischen Republik" zieht. Der ehemalige Präsident Khatami, ein „Reformer", der für eine politische Liberalisierung im Rahmen der Theokratie eintritt, spricht von einem „samtenen Putsch", die Legitimität von Ahmadinejad als neu gewählter Präsident, dann auch immer mehr die des „Obersten Führers", wird offen in Frage gestellt. Die um Khamenei und Ahmadinejad gruppierten Teile des Regimes drohen jene, die zu Protesten aufrufen, als Ketzer zu behandeln und hinrichten zu lassen. Der Großayatollah Montazeri, der der Strömung um Moussavi zugerechnet wird, erlässt eine Fatwa, die die Legitimität des „Obersten Führers" in Frage stellt.

4.
Der Bruch im iranischen Establishment beruht keineswegs auf der Unterscheidung zwischen einer „neoliberalen" Fraktion um den angeblich bei der Wahlfarce unterlegenen Moussavi und dem „Mann der einfachen Leute" Ahmadinejad. Amtsinhaber beider Fraktionen haben seit dem Ende des Golf kriegs kontinuierlich eine Austeritätspolitik verfolgt. Ahmadinejad vertritt eher die staatskapitalistische Fraktion, das heißt den Teil der herrschenden Klasse, der sich auf den staatlichen Sektor der Wirtschaft stützt; hier sind insbesondere die militärisch organisierten Pasdaran, die „Revolutionswächter", zu nennen, die über die Holding Khatam-ol-anbia einen großen Teil der staatlichen Unternehmen kontrollieren und denen der Präsident Schlüsselstellungen in diversen Ministerien und in der hohen Bürokratie zuschanzte. Moussavi hingegen profiliert sich Ahmadinejad gegenüber wiederum dadurch, dass er verspricht, dessen Günstlingswirtschaft bzw. Klientelismus ein Ende zu bereiten. Kurz vor der ersten Wahl Ahmadinejads schoss der Ölpreis in die Höhe und stieg auch danach weiter an. Durch die Mehreinnahmen über die Ölrente wurden umfangreiche Kreditprogramme um die Konjunkturvoranzubringen gestartet. Kredite zu günstigen Zinsen (unter Inflationsniveau) wurden an mittlere und kleinere Unternehmen mit einem hohen Anteil an menschlicher Arbeitskraft vergeben. Allerdings wurden diese Gelder von den Kreditnehmern nicht in den unmittelbaren Produktionsprozess investiert, sondern in spekulative Geschäfte, z.B. mit Immobilien, gesteckt. Bereits zwei Jahre nach Ahmadinejads Wahlsieg im Jahr 2005 stieg die Arbeitslosigkeit auf 20 Prozent, die Wohnungspreise und die Mieten verdoppelten sich nach und nach.

5.
Die spektakulären Formen, die die Proteste jenseits der Straßenkämpfe annehmen, verweisen auf die Revolution gegen das Schah-Regime, die nach dessen gewaltsamem Ende in die islamische Konterrevolution mündete, und wenden die Symbolik gegen die Machthaber um Khamenei und Ahmadinejad. So wird die „islamische" Farbe grün als Farbe der Unterstützer des unterlegenen Kandidaten Moussavi inszeniert, während die Machthaber um Ahmadinejad die schwarze als authentisches Symbol der „islamischen Republik" bevorzugen; allabendlich erschallen von den Dächern in den größeren Städte die Rufe „Allahu akbar" und „Nieder mit dem Diktator", die damals gegen den Schah gerichtet waren und nun ausdrücken, dass das derzeitige Regime keineswegs besser ist als das des Schah. Sie sind zugleich ein Indiz dafür, was der Protestbewegung zum offenen Bruch mit der Ideologie der „Islamischen Republik" noch fehlt.

6.
Die Desorganisation in der „Islamischen Republik" schreitet voran. Für die Woche des 9. Juli - an diesem Tag wurden vor zehn Jahren Teheraner Studenten in ihren Wohnheimen überfallen, seither ist es der Gedenktag der Studentenbewegung - hatte die Oppositionsbewegung gegen die Wahlfarce zu einem einwöchigen Streik aufgerufen. Aber die Regierung nahm heiße Staubwolken, die aus dem Irak kamen und den Himmel verdunkelten, zum Anlass, die Behörden und Fabriken zu schließen, weil es gesundheitsschädlich sei, bei diesem Wetter im Freien zu sein, berichtet der iranische Dissident Ali Schirasi in seinem Beitrag „Patt im Iran", weswegen die Leute zuhause blieben. Schon warnen der unterlegene Präsidentschaftskandidat Mohsen Rezaie, der den „Konservativen" zugerechnet wird und ein ehemaliger Kommandeur der militärischen „Revolutionswächter" ist, als auch ein Berater des „Obersten Führers" vor einem „Kollaps" des Systems. Zu einer erneuten Eskalation kommt es Mitte Juli anlässlich des Freitagsgebets, das der „Pragmatiker" Rafsandjani, Power-broker hinter den Kulissen und Milliardär, in Teheran hält. Er spricht von einer „Krise" der „Islamischen Republik" und fordert die Freilassung der Gefangenen. Auf der Straße finden sich erneut Zehn-, wenn nicht Hunderttausende zu Auseinandersetzungen mit den Repressionskräften ein. Wie die „Islamische Republik" sich aus ihrer tiefen Krise retten kann, ist unklar - konnte das Regime in früheren Auseinandersetzungen die Repression selektiv gegen Minderheiten, Arbeiter bestimmter Industriezweige und Studenten einsetzen, so trifft die Repression diesmal die Gesamtheit der Unzufriedenen, die sich schwerlich als isolierte Minderheit darstellen lässt. Die Frage, wie sich die Arbeiter weiter verhalten werden, ist die große Unbekannte in der Rechnung. Sie haben sich bislang eher als Individuen an den Straßenprotesten beteiligt, nicht als kollektives Subjekt mit einer autonomen Klassenposition. Zwar gab es einen Aufruf der Teheraner Busfahrergewerkschaft, die die Proteste begrüßte und Organisationsfreiheit für die Arbeiter forderte, und halbstündige „Solidaritätsstreiks" pro Schicht in der Automobilfabrik Iran-Khodro. Doch in den Fabriken sind die Bedingungen hart, insbesondere in der strategisch bedeutsam gewordenen Automobilindustrie ist die Überwachung erdrückend, auch wenn die als Kontrollinstrumente gegen die Arbeitermacht seit 1979 eingeführten „Islamischen Räte" durch die gewerkschaftlichen Organisierungsversuche der vergangenen Jahre geschwächt sind. Die Bastionen des Erdölproletariats, das durch seinen halbjährigen Generalstreik dem Schah-Regime den Todesstoß versetzte, wurden teilweise geschleift. Zudem wird die Renitenz der Arbeiter durch die hohe Arbeitslosigkeit in Schranken gehalten.

Drei Optionen stehen der „Islamischen Republik" zur Verfügung, die allesamt schwerwiegende Probleme aufwerfen. Ein Sieg der Fraktionen um Moussavi, auch wenn ein solcher angesichts der starken Gegenkräfte unrealistisch erscheint, würde die Begehrlichkeiten der Bewegung zweifellos anstacheln; ob die Moussavi-Fraktion genügend Intergrationskraft besitzt, müsste sie erst beweisen. Ein Kompromiss zwischen den sich derzeit unversöhnlich gegenüberstehenden Flügeln des Regimes ist schwer zu erreichen. Er könnte darin bestehen, dass Moussavi die Erlaubnis erhält, seine „Nationale Front" als politische Repräsentation der Unzufriedenheit zu gründen, während im Gegenzug Ahmadinejad als Präsident anerkannt wird. Eine offene Machtübernahme durch Khamenei, Ahmadinejad und die Pasdaran mit harter Repression würde jedenfalls die Gefahr eines Braindrain der Qualifizierten mit sich bringen und die Desorganisation in Staat und Ökonomie verschärfen. Im Übrigen erinnert sich auch diese Fraktion des Establishments an das, was Talleyrand vor 200 Jahren warnend verkündete: „Sire, Sie können mit einem Bajonett alles machen, aber Sie können nicht darauf sitzen."

Die objektiven Möglichkeiten einer sozialen Emanzipation haben sich durch die fortschreitende Modernisierung von Technik und Verwaltung während des islamischen Regimes groteskerweise verbessert. Auf der subjektiven Seite kann eine solche Emanzipation nur durch die Auflösung der bizarren religiösen Ideologie, auf der die Theokratie fußt, erreicht werden. Die Arbeiter haben ,79 mit ihren Aktionen der später rekuperierten Revolution zum Durchbruch verholten, heute würde es an ihnen liegen, sie zu einem richtigen Ende zu führen. Ob dies gelingt, steht in den Sternen. Ein glückliches Ende findet sich aber nur jenseits des Halbmondes.

 

Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft
am 19. Juli 2009