Göttinger Verwaltungsgericht stärkt Grundrecht auf Versammlungsfreiheit: Zivilpolizisten dürfen bei Demos nicht unerkannt observieren. Atomkraftgegner hatten geklagt
Die Anti-Atom-Initiative Göttingen hat einen bedeutenden Erfolg vor 
Gericht erzielt: In Niedersachsen müssen sich Zivilbeamte der Polizei, 
die Demonstrationen und Kundgebungen überwachen, gegenüber der 
Versammlungsleitung künftig als solche zu erkennen geben. Das gilt für 
jeden der eingesetzten Polizisten, entschied das am späten Mittwoch 
nachmittag (Az: 1 A 98/12).
Seit der Atomkatastrophe von Fukushima veranstaltet die 
Anti-Atom-Initiative einmal im Monat eine Mahnwache in der Göttinger 
Innenstadt. Neben Uniformierten waren meist auch zivile Beamte zugegen. 
Sie outeten sich aber nicht als Polizisten, sondern erweckten – Kaffee 
trinkend oder telefonierend – den Eindruck, als seien sie nur Passanten.
 Gegen diese Praxis – konkret ging es um drei Mahnwachen im Herbst 2011 –
 klagte die Anmelderin der Mahnwachen.
Ihr Rechtsanwalt Johannes Hentschel argumentierte in dem Verfahren 
zweigleisig: Wenn sie sich nicht zu erkennen geben, verstoße die 
Anwesenheit von Zivilpolizisten bei Demonstrationen gegen das 
Niedersächsische Versammlungsgesetz. Darin sei klar festgelegt, daß sich
 alle Polizisten gegenüber der Versammlungsleitung zu erkennen geben 
müßten. Dies gelte auch für in Zivilkleidung auftretende Kräfte.
Außerdem sei die Anwesenheit verdeckter Ermittler ein Verstoß gegen 
Artikel acht des Grundgesetzes, so der Anwalt. Das Grundrecht auf 
Versammlungsfreiheit werde beeinträchtigt, weil die heimliche 
Observation von der Teilnahme an Kundgebungen abschrecke und es Bürgern 
schwer mache, unbeschwert ihr Recht auf Meinungsfreiheit auszuüben.
Der Prozeßvertreter der Polizeidirektion Göttingen, Matthias Scholze, 
hielt dagegen: Göttingen habe »das Potential, daß Versammlungen eine 
extremistische Richtung nehmen können«. Deshalb müsse zunächst jede 
Versammlung von den Behörden überwacht werden. Die zivil gekleideten 
Beamten sollten unerkannt bleiben, eben weil sie »in der Szene« agieren.
Wenn sich die Polizei der Versammlungsleitung gegenüber ganz allgemein 
als anwesend zu erkennen gegeben habe, sei dem Versammlungsgesetz doch 
bereits Genüge getan, so Scholze. Das Niedersächsische 
Versammlungsgesetz sei da »zu eng formuliert«. An anderer Stelle seiner 
Einlassung sprach Scholze sogar von einem »redaktionellen Fehler« in dem
 Gesetzeswerk.
Das Gericht sah das anders und gab der Klage statt. Es orientierte sich 
am eindeutigen Wortlaut des Paragraphen elf. Darin heißt es: »Die 
Polizei kann bei Versammlungen unter freiem Himmel anwesend sein, wenn 
dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz erforderlich ist. 
Anwesende Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte haben sich der Leiterin 
oder dem Leiter zu erkennen zu geben.«
»Das Versammlungsrecht ist nicht irgendwas, das ist ein Grundrecht«, 
unterstrich der Vorsitzende Richter Thomas Smollich. Da es sich 
bundesweit um die erste Entscheidung zu diesem Thema handelt, ließ die 
Kammer eine Berufung zu.
Nach Angaben der Göttinger Initiative »Bürger beobachten Polizei und 
Justiz« waren nicht nur die Atomkraftgegner von der Observierung durch 
Zivilbeamte betroffen. So sei in den vergangenen Jahren eine Vielzahl 
von Versammlungen durch verdeckte Ermittler überwacht worden. Neben 
praktisch allen Demonstrationen und Kundgebungen des linken Spektrums 
treffe dies auch auf eine Demo anläßlich eines bundesweiten 
Bildungsstreik-Aktionstags sowie für eine Arbeitskampfaktion von ver.di 
für bessere Arbeitsbedingungen beim Discounter Netto zu. Linke, 
Piratenpartei, Grüne Jugend, die örtliche ver.di-Fachgruppe Einzelhandel
 und weitere Initiativen unterstützten denn auch die Klage der 
Anti-Atom-Initiative.
