Georg Restle: „Es ist eines der größten Menschheitsverbrechen unserer Zeit, und doch nehmen wir es meistens nur achselzuckend zur Kenntnis. Hunderte Leichen vor Lampedusa letzte Woche. Tausende tote Flüchtlinge in den Jahren zuvor. Europa macht die Schotten dicht, und keiner übernimmt die Schuld für das Massensterben von Menschen direkt vor unserer Haustür. Dabei tragen wir unmittelbar Mitverantwortung. Und das nicht nur, weil unser Asylrecht kaum jemandem eine Chance gibt. Sondern auch ganz konkret vor Ort über die europäische Grenzagentur Frontex, die fast immer mit dabei ist, wenn Flüchtlinge auf hoher See abgewiesen und ihrem Schicksal überlassen werden.“
Europas Küsten. Hunderte von Ertrunkenen jedes Jahr. Lampedusa steht 
im Rampenlicht, aber im Mittelmeer gibt es viele solcher Orte. Er hat es
 überlebt, Andom Woldemichael und seine Familie sind in Deutschland 
gelandet. Geflohen aus Eritrea, einem Land nach dem Bürgerkrieg. Bei 
ihrem ersten Versuch waren sie Opfer einer gewaltsamen 
Abschiebungsaktion der EU-Grenzschützer. Mit 82 Personen und drei 
Kindern auf einem Schlauchboot, Andom hat seinen Fluchtversuch mit Handy
 gefilmt. Dann begann der Einsatz der EU-Grenzschützer.
 Kibrom Andom Woldemichael (Übersetzung MONITOR):
 „Die Küstenwache befahl uns, auf ihr Schiff zu kommen. Wir fragten, 
wohin man uns bringen würde. Die Antwort war Libyen. Wir sagten, nein, 
das wollen wir nicht, da sind wir in Gefahr. Daraufhin zerrten sie erst 
die Frauen von Bord, ein Soldat versuchte mir meinen Sohn aus der Hand 
zu reißen, dann verprügelten sie mich mit Elektroschlagstöcken. Ich fing
 an zu bluten und wurde bewusstlos. Dann wurden wir nach Libyen 
zurückgebracht.“
 Andom ist bis heute als Folge der Schläge taub am rechten Ohr, die schuldigen Beamten wurden nie belangt.
 EU-Grenzschützer begehen Menschenrechtsverletzungen? Wir wollen uns 
selbst ein Bild vor Ort machen. Särge werden verladen, das ist das 
Erste, was wir nach unserer Ankunft auf Lampedusa sehen.
 Sie ist seit der Unglücksnacht berühmt in Italien. Grazia Migliosini 
und ihre Freunde zogen 47 Ertrinkende aus dem Meer vor Lampedusa auf ihr
 Boot, mehr passten nicht aufs Schiff. Sie musste hilflos zusehen, wie 
andere im Meer ertranken.
 Grazia Miglionsini, Retterin (Übersetzung MONITOR):
 „Die Leute zu retten war unglaublich, es war dramatisch. Ich weiß 
nicht, ob Sie sich das vorstellen können. Wir haben mit Mühe und Not 
drei Flüchtlinge an Bord gezogen, da sind schon drei andere vor unseren 
Augen im Wasser ertrunken, ihnen fehlte einfach die Kraft.“
 Noch während hier alle versuchen, mit der ersten Katastrophe fertig zu 
werden, beziehen die Reporter schon wieder Stellung vor ihren Kameras. 
Das nächste Flüchtlingsboot ist aufgegriffen worden, wieder werden 
Leichen an Land gebracht. Lampedusas Bürgermeisterin erklärt uns, schuld
 an diesen Katastrophen seien auch die EU-Grenzschützer.
 Giuseppa Nicolini, Lampedusa Bürgermeisterin (Übersetzung MONITOR):
 „Das Wort selbst sagt es schon: Frontex-Beamte. Da geht es um 
Grenzsicherung. Ich weiß nicht, was noch passieren muss, damit Europa 
versteht, dass wir diese Menschen nicht aufhalten können, dass wir die 
Grenze nicht gewaltsam dicht machen können, und dass das auch nicht 
richtig ist.“
 Frontex, das steht für die Abschottung der EU-Grenzen im Mittelmeer. 
Alle EU-Mitgliedsstaaten sind verantwortlich, auch deutsche 
Bundespolizisten arbeiten hier. 2004 wurde die Grenzkontrollagentur 
gegründet, gemeinsame Einsatzdoktrin, gemeinsame Operationen. Frontex 
sichert die Außengrenzen des europäischen Schengen-Raums. Vier der 
Hauptoperationsgebiete liegen im Mittelmeergebiet.
 Nicht nur vor Lampedusa, in allen Einsatzräumen berüchtigt sind die 
brutalen Abschiebungsaktionen, die sogenannten Push-Backs. Frontex 
liefert zu diesen Rückführaktionen die Handlungsanweisung und die 
Aufklärungsdaten.
 Warschau, die Frontex-Zentrale. Wir konfrontieren den Frontex-Chef mit 
den Berichten zu diesen Einsätzen. Er gibt zu: Gewaltsame 
Rückführaktionen gehörten bei Frontex zum Alltag.
Ilkka Laitinen, Direktor Frontex (Übersetzung MONITOR): „Die Abwehraktionen waren über Jahre eine Doktrin; ch würde sogar sagen, eine Strategie, die viele EU-Staaten anwandten.“
 Reporter (Übersetzung MONITOR): „Aber auch Sie von Frontex?“
 Ilkka Laitinen, Direktor Frontex (Übersetzung MONITOR): „Ja, wir mussten ja der Verordnung folgen.“
 Und so sieht die Verordnung für Frontex-Mitarbeiter aus. Im 
EU-Ratsbeschluss von 2010 steht genau, wie sie sich auf hoher See 
verhalten sollen. Push-back wird erklärt, Punkt für Punkt. Die letzte 
Anweisung lautet:
 Zitat: „f) Überstellen des Schiffs bzw. der an Bord befindlichen Personen an die Behörden eines Drittstaates.“
 Prof. Andreas Zimmermann, EU- und Völkerrechtler, Universität Potsdam:
 „Die derzeit noch anwendbare Richtlinie sieht vor, dass eine 
Rückführung stattfindet, ohne dass es zu einer individuellen Prüfung 
einer Foltergefahr kommt. Demgegenüber sagt der europäische Gerichtshof 
für Menschenrechte, das im Einzelfall überprüft werden muss, ob im 
Zielland, etwa in Libyen, Folter oder unmenschliche Behandlung droht 
oder nicht. Deshalb verstößt die Richtlinie gegen die europäische 
Menschenrechtskommission und ist daher auch rechtswidrig.“
 In der Tat. Der Flüchtlingsstrom riss trotz solchen Aktionen nicht ab, 
die Push-Backs hörten nicht auf. Anfang 2012 erklärte der Europäische 
Gerichtshof für Menschenrechte die Rückführaktionen an den EU-Grenzen 
für rechtswidrig.
 Zitat: „Kein Land darf pauschal eine Gruppe von 
Flüchtlingen ausweisen ohne eine Prüfung der individuellen Situation der
 einzelnen Betroffenen.“
 Doch trotz dieses Urteils wurde in Frontex-Gebieten weiter abgeschoben.
 Wir treffen Muhammed Abdi aus Somalia, er hat im Mai 2012 vor Italien 
eine solche Abschiebeaktion am eigenen Leib erlebt.
 Mohamed Mahamed Abdi (Übersetzung MONITOR):
 „Wir waren 88 Leute in einem Schlauchboot, tagelang auf See. Drei von 
uns waren schon tot, verdurstet. Es kam ein großes Schiff, darauf 
Soldaten mit EU-Flagge am Arm. Die holten uns auf ihr Schiff. Ich 
dachte, wir sind in Sicherheit. Stattdessen wurden wir wieder zurück 
nach Libyen gebracht.“
 Ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Und Frontex-Mitarbeiter 
waren in diesem Fall vor Ort. Für die direkte Beteiligung von Frontex an
 gesetzeswidrigen Aktionen gibt es genügend Hinweise. Amnesty 
International listet 40 Einzelfälle von Push-Backs allein im letzten 
Jahr auf, auch mit Frontex-Beamten.
 Ilkka Laitinen, Direktor Frontex (Übersetzung MONITOR):
 „Ich kann nicht leugnen, dass es das gegeben hat. Wir haben danach 
versucht, Beweismaterial für diese Fälle sicherzustellen, aber mit 
unseren Mitteln ist das fast nicht möglich. Ich kann Ihnen nicht die 
genau Anzahl dieser Rückführaktionen nennen. Es gibt aber fünf bis zehn 
Fälle jedes Jahr, in denen wir beschuldigt werden, diese Push-Backs 
durchgeführt zu haben.“
Günter Burkhardt, Pro Asyl: „Frontext 
ist keine Seenot-Rettungsorganisation, wie es eben dargestellt wird. 
Sondern sie haben den knallharten Auftrag, Europas Grenzen abzuschotten,
 man muss fast sagen, koste es was es wolle.“
 Illegale Abschiebungen, rechtswidrige Verordnungen: Mit Frontex hat die EU das gesamte Mittelmeer zu einem Kampfgebiet erklärt.
Georg Restle: „Für Juristen gibt es eine feine Linie, die die Grenze zieht zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz. Danach gilt: Wer den Tod Tausender aus niedrigen Beweggründen billigend in Kauf nimmt, obwohl er zum Schutz dieser Menschen verpflichtet ist, ist de jure ein Massenmörder. Nur, dass es hier keinen Ankläger und kein Gericht gibt, das darüber ein Urteil fällt.“
