Einige Überlegungen über Insurrektion und Revolution anlässlich von Eindrücken aus Ägypten 
Dieser
 Text beabsichtigt nicht, vollständig zu sein, und noch weniger ist er 
eine breite Auflistung aller aufeinanderfolgenden Ereignisse, die man 
auf den Bildschirmen zurückfinden könnte oder auch nicht. Er ist ein 
Versuch, tiefer zu graben und einem Haufen erlangter Eindrücke eine 
Bedeutung zu geben. Er ist ein Versuch, zeitgenössische Fragen über 
Insurrektion und Revolution zu stellen, ein Beitrag zur notwendigen 
Diskussion über diese Themen. 
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Man 
sollte sich beim Lesen des Textes bewusst halten, dass er noch vor der 
Machtergreifung der Armee vom 30. Juni 2013 verfasst wurde, welche die 
Situation heute noch einmal beträchtlich verändert. Er wurde anlässlich 
von persönlichen Eindrücken aus Ägypten für die 3. Ausgabe der 
belgischen anarchistischen Revue „Salto“ geschrieben.] 
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Zusammenfassend... für diejenigen, die nicht ganz auf dem Laufenden waren... 
Als
 im Januar 2011 die Strassen ganz Ägyptens mit Menschen überströmten, 
die dem, was sie davon abhielt, zu leben, ein Ende setzen wollten (der 
30-jährigen Diktatur von Mubarak, der folternden Polizei, der 
ökonomischen Ausbeutung und dem Hunger, neben exorbitanten Profiten und 
einem gewissen Überfluss, ebenso wie der patriarchalen Erstickung des 
Individuums – egal ob Mann oder Frau, jung oder alt [1]), gab es nichts 
mehr, was diese Flutwelle aufhalten konnte. Man warf die Angst von sich,
 Menschen stürzten sich buchstäblich ins Gefecht. Der Tod eines jeden 
Märtyrers war für noch mehr Menschen ein Grund, sich den Kämpfen 
anzuschliessen und nicht nachzulassen. 
Man ging auf die Strasse für 
Brot, für das Ende der Armut und den Rücktritt des reichen Präsidenten 
mit seinen Wut erweckenden Palästen. Aber auch für Freiheit, für ein 
Leben ohne tausend Schranken (wovon Geld eine, aber nicht die einzige 
ist), und für das Verschwinden der Diktatur. Schliesslich für die 
soziale Gerechtigkeit, für das Ende der Ausbeutung und die Abschaffung 
der Privilegien [2]. Was angegriffen und zerstört wurde, beweist 
teilweise den Charakter der Auflehnung: 90% der Polizeiposten wurden 
angegriffen oder niedergebrannt, Parteibüros wurden in Brand gesteckt, 
Läden wurden geplündert und kapitalistische Symbole brannten aus. 
Nach
 18 Tagen überträgt Mubarak die Macht an den Feldmarschall Tantawi des 
Supreme Council of Armed Forces (SCAF), der in Ägypten eine Art 
parallele Machtstruktur zum Staat bildet. 40% der ägyptischen Wirtschaft
 befindet sich in den Händen dieser Mafia (darunter die Produktion 
zahlreicher Ausgangsprodukte für den Innenmarkt), ebenso steht das 
Landgebiet des Sinaï unter militärischer Kontrolle. Überall im Land 
besitzt und beansprucht die Armee Gebiete und ganze Zonen (was oft 
Anlass zur militärischen Räumung von sehr armen Schichten der 
Bevölkerung gibt). Ausserdem ist der Militärdienst obligatorisch, 
während man der Armee für 15 Jahre zur Verfügung steht. 
Die Polizei,
 die während der 18 Tage der Auflehnung in der Unterhose davonflüchten 
musste (ihre Uniform war ein Freipass, um unter allgemeiner Zustimmung 
gelyncht zu werden), verschwand aus dem Strassenbild. Ihre Anwesenheit 
wurde nicht mehr toleriert. Doch nun war es die Armee, welche Menschen 
niederprügelte und verhaftete, einschloss, verurteilte (durch 
Militärgerichte), mit Tränengasgranaten und scharfer Munition auf die 
Demonstrationen und Aufruhre schoss. Unter dem mehr als einem Jahr 
dauernden Regime des SCAF wurden hunderte Personen getötet, tausende 
durch Militärgerichte verurteilt und eingesperrt und zahlreiche andere 
gefoltert und sexuell misshandelt. Die Armee, die während der 18 Tage 
von vielen noch als „Hand in Hand mit dem Volk“ gehend gefeiert wurde, 
entpuppte sich als das, was sie ist: Hand in Hand mit der Macht. Ihr 
Image hat sich dadurch auf nicht wieder gut machbare Weise befleckt. 
Unter
 dem SCAF-Regime ging alles weiter wie zuvor: der Hunger, die 
Ausbeutung, die Lügen, die Ketten. Und auch heute noch. Heute sind wir 
zwei Jahre weiter, und die Hoffnung und Euphorie der gewonnenen Schlacht
 gegen den Diktator zeigen heute oft Zeichen von Depression und 
Bitterkeit, denn nichts hat sich verändert und das neue Leben, das man 
während der 18 Tage kostete, scheint weit entfernt. Die Freedom and 
Justice Party (die hauptsächlich, aber nicht nur, aus Moslembrüdern 
bestehende politische Partei) ist unterdessen an die Macht gelangt und 
Mohammed Morsi ist zum Präsidenten geworden, doch sie werden 
verabscheut. Wenn die Moslembrüder vor der Auflehnung auf eine 
beträchtliche Unterstützung aus dem Volk zählen konnten, so war das, 
weil sie oft dort mit Fürsorge anwesend waren, wo der Staat abwesend 
war, namentlich in den Armenvierteln und den Slums. Jetzt, da sie sich 
im Staat einnisten und die kapitalitische Politik vorantreiben, sind 
zahlreiche Personen offensichtlich angewidert bei der Feststellung, dass
 die Strassen, in denen sie leben, noch immer in miesem Zustand sind, 
der Hunger noch immer präsent ist... Und somit... geht es weiter. 
Unzählige Parteibüros der Moslembrüder wurden in Brand gesteckt und es 
kam zu zahlreichen Konfrontationen zwischen einerseits den Moslembrüdern
 und den mit ihnen alliierten religiösen Fraktionen (wie den Salafisten)
 und andererseits Revolutionären und anderen Wütenden. Diese 
Strassenkämpfe (wobei es auf beiden Seiten zu Toten kam, und wobei auf 
beiden Seiten vereinzelt von Schusswaffen Gebrauch gemacht wurde) können
 also nicht nur als Kämpfe gegen die Moslembrüder und die Freedom and 
Justice Party gelesen werden, es sind ebenso sehr Kämpfe für die 
Fortsetzung der Auflehnung, gegen eine neue Macht, die das Leben der 
Menschen unmöglich macht. 
Der Charakter der Auflehnung 
Der
 25. Januar war eine soziale Explosion, ein Zusammenlaufen verschiedener
 brodelnder Konfliktherde, die das Ganze hochgehen liessen. Sie war 
unvorhersehbar und unvorstellbar, doch sie kam auch nicht vom Himmel 
gefallen. 
Es ist an vielen Ohren vorbeigegangen, aber Protest gegen 
Mubarak gibt es schon lange, wie zum Beispiel im Jahr 2003, zu Beginn 
der Invasion im Irak. Wie überall auf der Welt bildete dies auch in 
Ägypten Anlass zu Protesten. Da Mubarak entschied, den Suezkanal für 
Waffentransporte der Vereinigten Staaten zu öffnen, wurden während 
Versammlungen spezifische Parolen gegen den Diktator gerufen. 2008 fand 
in Malhalla, einem der wichtigsten Industriezentren, ein Generalstreik 
statt, der von massiven Protesten, Aufruhren und Konfrontationen, 
Demonstrationen gegen Mubarak, gegen Korruption und Preiserhöhungen 
begleitet wurde. Um diese beginnende Auflehnung niederzuschlagen, 
stürmten am 6. Februar tausende Bullen die Stadt, kam es zu massenhaften
 Verhaftungen, wurde die Elektrizität während zwei Nächten infolge 
ausgeschalten und fanden in vielen Häuser im Nildelta Hausdurchsuchungen
 statt. Im Sommer 2010 wurde der junge Khaled Saïd in Alexandria auf der
 Strasse von Polizisten zu Tode geprügelt, was unter anderem eine 
Bewegung gegen Polizeifolter ins Leben rief. Abgesehen von diesen 
politisierten Bewegungen gab es auch eine soziale Konfliktualität auf 
der Strasse, die sich immer häufiger ausdrückte. Ein anderer Polizeimord
 beispielsweise wurde mit der Brandstiftung des betreffenden 
Polizeipostens beantwortet. 
Die soziale Bewegung, die Mubarak 2011 
nach 18 Tagen gewaltsamer Konfrontationen in die Flucht trieb, kennt 
also eine Vorgeschichte, aus der wir hier bloss einige Beispiele 
zitierten. Auch der Tag selbst, der 25. Januar, war kein Zufall. Die 
Auflehnung erhielt etwas Anstoss von Aktivisten, die bereits seit 
einiger Zeit jeden 25. Januar (dem nationalen Tag der Polizei) Proteste 
organisierten, sowie von einer Welle von Streiks, von wütenden Revolten 
aufgrund von Wahlfälschungen, Polizeifolter und Armut, sowie auch von 
dem enormen revolutionären Elan, der durch duch die jüngsten Ereignisse 
in Tunesien entfacht wurde. All dies sorgte dafür, dass die 
Menschenmassen, womit die Strassen überströmten, jeglichen Erwartungen 
und jeglicher Kontrolle entgingen. Dies löste sogar unter jenen Angst 
aus, die es gewohnt waren, in einem genau definierten Rahmen zu 
protestieren. Der 25. Januar war der erste Tag einer Volksauflehnung. 
Diese
 Auflehnung zieht aufgrund ihres wilden und horizontalen Charakters, der
 Abwesenheit eines politischen Stempels und einer vermittelten Botschaft
 [3] unsere anarchistische Aufmerksamkeit auf sich. Doch so etwas wie 
eine „reine“ Auflehnung gibt es nicht. Die betenden Menschen auf dem 
Tahrirplatz zeigen zum Beispiel eher die Fortsetzung der Herrschaft auf 
als den Bruch damit, doch das will nicht heissen, dass es sich hier um 
eine religiöse Auflehnung handelt (mit als Endresultat einem 
Moslembruder als Präsidenten und einer neuen, von der Scharia 
inspirierten Verfassung). Durch die bewegten Gewässer der letzten Jahre 
hat diese Revolte zahlreiche Aspekte berührt. Es geht um eine Revolte, 
die von Leuten ausgetragen und vertieft wird, die von dem ausgehen, was 
sie sind, und nicht vom Idealbild irgendeines Revolutionärs. Die 
Vertiefung geht weiter und scheint heute immer mehr die Möglichkeit zu 
bieten, um auch Religion als solche in Frage zu stellen. 
Brot und Rosen 
Eine
 häufig wiederkehrende Frage in Diskussionen über Insurrektion ist die 
Frage, ob es die Lebensbedingungen oder eher der Traum sind, die 
Menschen dazu bringen, in Aufstand zu treten. Es ist klar, würden die 
Menschen mit den unterdrückenden Bedingungen, unter denen sie leben, 
zufrieden sein (und zu diesen Bedingungen gehören sowohl jene, die vom 
Kapitalismus produziert werden, wie jene, die vom Patriarchat 
aufrechterhalten werden) [4], dann hätten sie sich niemals aufgelehnt. 
Der 25. Januar war eine Wutexplosion, eine Revolte, doch angesichts 
dessen, dass Wut schnell wieder verpufft, kann sie nicht die einzige 
Treibkraft sein. 
Die hartnäckige Entschlossenheit, der Unterdrückung
 ein Ende zu setzen, erhielt ihren Antrieb auch von einem revolutionären
 Elan, der den Traum eines anderen Lebens aufflackern liess, und dieser 
Traum wurde durch die Erfahrungen der 18 wunderbaren Tage der Auflehnung
 genährt. Es ist unter anderem dieser Elan, der dafür sorgt, dass wir 
immer wieder überrascht werden, wenn wir Neuigkeiten aus dem brodelnden 
Ägypten erfahren. Er ist ein Bestandteil des erforderlichen Sauerstoffs,
 der die Flamme bis heute am Leben erhält. Falls der Realismus hier die 
Oberhand gewinnen würde, wäre keine Repression mehr nötig, dann würde 
man das eigene Feuer im Voraus ersticken. 
Es ist nicht das Ziel, 
diesen Elan hier als die grosse Lösung für alles zu verherrlichen. Wir 
brauchen etwas, das uns belebt, um in Aktion zu treten, daran gibt es 
keinen Zweifel, etwas, das dafür sorgt, dass wir die Entscheidung 
treffen, unsere Ängste über Bord zu werfen. Doch das löst nicht die 
revolutionäre Frage. Denn nach dem Erwachen aus dem Rausch dieser 
intensiven Erfahrungen, könnte der Kater zu beschwerlich sein, um noch 
durchzuhalten, wenn sich der weniger amüsante Teil des Kampfes 
ankündigt. Man könnte also leicht allzu sehr in Verwirrung geraten durch
 die Konfrontation zwischen dem Traum und der hässlichen Welt, die uns 
umgibt, so enttäuscht, deprimiert und ratlos, dass man gar nicht mehr 
weiss wohin und was tun. Ein scharfsinniger Blick auf die Dinge bleibt 
also genauso notwendig, eine Scharfsinnigkeit, um die richtigen Fragen 
stellen zu können, die zu einem guten Verständnis davon führen können, 
wie man handeln will. 
Der Zar ist tot 
In Russland 
musste, um den Weg für die soziale Revolution zu ebnen, die Legende des 
Zaren beseitigt werden. Diese Legende verband die niederen Schichten der
 Bevölkerung durch Faszination, Hoffnung und Verehrung mit den 
Führungsschichten der Autokratie. Während dutzender Jahre machten 
Revolutionäre einen Versuch nach dem anderen, den Zaren zu töten, in der
 Hoffnung, damit dieser ergebenen Verehrung ein Ende zu setzen. Als dies
 der revolutionären Gruppe Narodnaïa Volia 1881 endlich gelang, schien 
selbst der Tod des Tyrannen nicht auszureichen, um seine Aura, den 
Glauben an eine helfende Kraft von oben, endgültig zu brechen. Der Weg 
schien lange und war ein Mosaik aus individuellen Attentaten, Revolten, 
Ernüchterungen, blutiger Repression. Dieser Weg endete erst 1905, als 
der neue Zar Nicolas II seinen Truppen den Befehl erteilte, das Feuer 
auf die Massen zu eröffnen, die zum Winterpalast gekommen waren, um ihn 
um Zugeständnisse zu bitten. Dieses Blutbad hat diese Aura, das Image, 
das gottähnliche Bild des Zaren endgültig in Stücke gerissen. Die 
Zerstörung des Glaubens an die Macht, vom Zaren personifiziert, war eine
 der wichtigsten Aufgaben auf dem Weg zur russischen Revolution. 
Die
 ägyptische Geschichte der letzten zwei Jahre hat die Aura der 
politischen Führer zerstört. Darin liegt die wirkliche Bedeutung der 
Vertreibung des Diktators. Gemeinsam mit ihm fiel die heilige und 
unantastbare Aura des Präsidenten von ihrem Sockel. Und diese 
zerstörende Bewegung beliess es nicht dabei. Nach dem Schlag, den das 
Image der Armee erhielt, macht die Bewegung bei Morsi weiter. Trotz dem 
Gewicht, das er und seine Partei über Ägypten ausüben, kann man 
schwerlich sagen, dass dieser Mann und seine Partei gefürchtet oder 
beliebt sind. Die zahlreichen Karikaturbilder, die man von allen Arten 
von Führern und Chefs auf den Mauern der Städte finden kann, bilden ein 
lebendiges Bezeugnis der spöttischen Haltung gegenüber der Macht. Die 
Angst, die Unantastbarkeit und der Respekt, die von den Fernsehreden von
 Mubarak auferlegt wurden, haben dem schallenden Lachen beim Vernehmen 
des Schwachsinns von Morsi Platz gemacht. 
Die Auflehnung zeigte auf,
 dass die Zeit der Diktatur vorbei war, und so machten sich die 
Mächtigen auf die Suche nach Wegen, um ein neues politisches Model 
akzeptieren zu machen. Der Unterschied zwischen der Demokratie hier und 
der Demokratie dort unten ist, dass man sie dort unten einrichten will 
und dass die Aufständischen dort nicht darauf warteten, dass ein neues 
Arschloch kommt, um sie zu regieren, sondern weiter kämpfen wollten. Die
 extrem schwache Wahlbeteiligung in einem derart bewegten Land weist 
also nicht auf dieselbe apathische Haltung hin, wie wir sie hier in 
Europa wahrnehmen. Die Nicht-Beteiligung trägt die Weigerung der 
Gesamtheit in sich. Die Wahlen sind ein Bestandteil der Legitimierung 
einer neuen Macht. Die Fokusierung auf Wahlen (sowie auf andere 
politische Spektakel, wie den Prozess von Mubarak) wird als ein 
Ablenkungsmanöver betrachtet, als ein Versuch der Macht, die 
Aufmerksamkeit der revolutionären Bewegung auf sich zu ziehen, ein neuer
 Versuch, um die Gedanken der Menschen ins Innere des vom System 
auferlegten Rahmen zurückzuführen. 
Die ägyptische Gesellschaft 
befindet sich in einer politischen Sackgasse: die Politik ist schuldig, 
und unerwünscht. Politik und Wahlen sind immer wieder ein Vorwand für 
Proteste, Aufruhre, Demonstrationen, physische Konfrontationen und 
Angriffe. Es gibt keine politische Fraktion, die über eine seriöse Basis
 verfügt. Die Freedom and Justice Party ist an die Macht gelangt, weil 
sie die Partei war, welche auf die meiste Unterstützung zählen konnte. 
Diese Unterstützung ist inzwischen grossenteils am zerbröckeln. Doch die
 schlussendliche und fundamentalere Frage ist nicht so sehr: „Wieviel 
Prozent der Bevölkerung geht wählen oder wieviele Proteste wurde durch 
eine Verfassung ausgelöst?“, sondern vielmehr: „Wer ist imstande, sich 
vorzustellen, dass die Lösungen auf die Probleme nicht von denjenigen 
kommen dürfen, die sie verursacht haben (von der Macht), sondern dass es
 darum geht, jegliche Macht endgültig davonzujagen? Wer ist imstande, 
sich Autonomie vorzustellen; autonom nicht im Sinne von Selbstversorgend
 inmitten eines massakrierenden Systems, sondern autonom im Sinne von 
„frei von jeglicher Führerschaft“? Wie sehr auch die Macht entheiligt 
wurde, wenn diese Autonomie nicht aufkommt, wird man dennoch stets in 
Erwartung bleiben; auf einen guten Führer, auf eine Lösung, die vom 
Himmel fällt, auf Gott, auf die Anderen, auf... Dass die Mächtigen die 
Verantwortlichen von allem sind, ist teilweise wahr, aber es ist ebenso 
sehr das soziale Gefüge, diese Verflechtung von Beziehungen, welche die 
Gesellschaft der Macht formt, die die Situation, in der man lebt, 
aufrecht erhält. In einer folgenden Bewegung liegt es an diesem sozialen
 Gefüge, sich selbst zu zerstören. 
Zeichen von sozialer Revolution 
Es
 ist nicht einfach, eine zeitgenössische Interpretation davon zu geben, 
was denn die soziale Revolution wäre. Gewisse Fragen sind im Laufe der 
Zeit nicht einfacher geworden. So ist das Verjagen des 
Grossgrundbesitzers und das Niederbrennen seines Schlosses eine 
notwendige, aber nicht ausreichende Perspektive, um den Kapitalismus zu 
zerstören. Sowie wir nach der Beseitigung der Fabrikeigentümer noch 
immer mit einem vergifteten Erbe zurückbleiben, womit wir nichts 
anfangen können. Der Begriff von sozialer Revolution wird in diesem 
Artikel gebraucht, um vom revolutionären Prozess zu sprechen, der die 
Wurzeln der Gesellschaft berührt, das heisst, das Geflecht der sozialen 
Verhältnisse, die die Herrschaft aufrechterhalten. 
Wer einen 
oberflächlichen Blick auf Ägypten wirft, wird sagen, dass es nun eine 
neue Macht gibt, und die revolutionäre Möglichkeit somit ins Abseits 
gestellt wurde, und dass einmal mehr alles für nichts gewesen war. Denn 
letztenendes wollten die Leute scheinbar einen religiösen Staat. Aber 
dies ist ein grosser Fehler und das Produkt einer Lesart der Geschichte 
durch die Brille, die uns die Macht aufgesetzt hat. Lasst uns deutlich 
sein: eine Revolution ist kein Machtwechsel, noch bedeutet ein 
Machtwechsel das Ende der Revolution. Die Macht muss sich auch noch in 
den Köpfen der Leute einrichten, und dies dadurch, dass sie mit ihrem 
neuen Mantra den Sauerstoff in den Geistern erstickt, die sich durch die
 Revolution geöffnet haben. In den Geschichtslektionen wird dann 
erzählt, als seien diese neuen Ideen Verdienste, während sie im Grunde 
nichts anderes sind als neue Legitimierungen und Stützpfeiler für eine 
neue Ordnung, und somit der Todesstoss für den sozialen Charakter der 
Revolution. Diese „reformerischen Ideen“ waren noch nie die Hände, die 
der Revolution Leben gaben, wohl aber jene, die sie erwürgten. 
Gelegentlich
 fällt es den Medien etwas schwerer, zu verbergen, dass die Stille noch 
nicht im Geringsten zurückgekehrt ist in Ägypten: Demonstrationen und 
Angriffe gegen die Büros der Moslembrüder und den Präsidentenpalast, 
Konfrontationen zwischen einerseits den Moslembrüdern und ihren Vasallen
 und andererseits Revolutionären und anderen Wütenden, Blockaden von 
Strassen, Eisenbahnlinien, Trams... wenn ein revolutionärer Prozess 
endet, wenn in der Gesellschaft eine neue Ordnung herrscht, so kann man 
dies mit beispielsweise 9427 Protesten seit Morsi Präsident ist in 
Ägypten schwerlich behaupten [5]. Diese äusseren Zeichen der Revolte 
sind mit etwas Anstrengung leicht wahrzunehmen. 
Doch was spielt sich
 unter der Oberfläche ab? Was macht, dass die Mächtigen über Ägypten 
sprechen, als würde es sich in einer Übergangsphase befinden, ganz 
normal für ein Land nach einer Revolution? Was ist damit gemeint, wenn 
nicht, dass die neue Macht noch nicht akzeptiert wurde, dass die Köpfe 
der Leute noch nicht nach ihrem Abbild geknetet wurden? In anderen 
Worten: wenn der revolutionäre Prozess erst endet, wenn man die 
Situation in den Griff bekommen hat, wenn man aufgehört hat, 
nachzudenken, wenn man sich mit dem Zustand der Dinge abgefunden hat, 
wenn man eine neue Ideologie akzeptiert und sich ihr untergeordnet hat, 
wenn der alles-verschlingende revolutionäre Elan verschwunden ist, wenn 
die wankenden sozialen Verhältnisse durch die in Gang Setzung ihrer 
ideologischen Rechtfertigung (zum Beispiel das erneute Akzeptieren des 
Unterdrücker-Unterdrückter Verhältnisses durch die Ideologie der 
Demokratie) erneut betoniert worden ist, wieso wird dann hier behauptet,
 dass dies noch nicht an der Tagesordnung ist? Was lässt uns hier 
behaupten, dass das revolutionäre Potenzial noch immer präsent ist, dass
 es einen Horizont gibt, sowohl in den Köpfen der Menschen wie im Bezug 
auf die Zukunft der Gesellschaft? 
Der revolutionäre Prozess, der in 
Ägypten seit mehr als zwei Jahren, mit Höhen und Tiefen, aber dennoch 
intensiv im Gange ist, hat eine Art permanenten konfliktmässigen Bruch 
geöffnet, worin es möglich wird, Schritte in Richtung einer andere Art 
zu machen, im Leben und in den Beziehungen zueinander zu stehen, eine 
andere als diejenige, welche die Traditionen ein Leben lang 
vorgeschrieben haben. Die Macht des Staates, der Armee, des Kapitals 
bilden gemeinsam mit der Macht der Familie, den Traditionen, der 
Religion und der sozialen Kontrolle eine Verknüpfung, die sich 
gegenseitig im Gleichgewicht hält. Der Kampf gegen den Staat und die 
Armee haben eine Infagestellung provoziert, die auch das soziale Netz 
berührt. Die Tatsache beispielsweise, nicht mehr oder nicht an Gott zu 
glauben, bleibt in einer solch konservativen Gesellschaft zwar 
problematisch, aber der Zweifel an der Religion weitet sich aus (auch 
dank der Politik der Moslembrüder). Diejenigen, die nicht mehr an Gott 
glauben, werden zu einer realen Gruppe von Personen (die sich auf 
zahlreichen Ebenen ausserhalb der Gesellschaft befinden, in der es 
durchaus akzeptiert ist, Christ, Moslem oder Jude zu sein, nicht aber, 
Atheist zu sein; und man findet auch Menschen, die zwar an Gott glauben,
 aber von Religion nichts wissen wollen). Die Weigerung, strikt nach den
 religiösen Sittenregeln zu leben (wie das Verbot für Frauen, auf der 
Strasse zu rauchen, wie das Verbot von Liebesbeziehungen ausserhalb der 
Ehe, wie das Kopftuch...) bahnt sich im öffentlichen Leben ihren Weg, 
ebenso wie die individuelle Revolte gegen das Gesetz der Familie (das 
während der 18 Tage der Auflehnung massiv durchbrochen wurde). Die 
Rebellion gegen die totale Unterordnung des Individuums gegenüber der 
Familie und den sozialen Regeln drückt sich im Alltag aus. Die Angst vor
 dem Vater scheint tiefer verwurzelt als die Angst vor dem Staat, aber 
der Kampf ist präsent. Diese Zeichen einer sozialen Revolution beweisen 
genau das Gegenteil von dem, was über Ägypten verbreitet wird, nämlich, 
dass man eine neue Verfassung akzeptiert hat, worin die Familie als 
Fundament des zu respektierenden traditionellen Charakters der 
ägyptischen Gesellschaft definiert wird. 
Die sozialen Spannungen 
durchziehen die Gesellschaft und somit auch die Familie. In jeder 
Familie lassen sich beispielsweise bestimmt irgendwo Soldaten finden, 
und gleichzeitig wird das Herz der Familie von der Revolte gegen die 
Religionen (Christentum und Islam) berührt. Dasselbe gilt für die 
Moslembrüder (und ihre Vasallen), die keine verschwommene Organisation 
sind, die sich irgendwo ausserhalb der Gesellschaft befindet, sondern 
aus Leuten aus allen Schichten der Bevölkerung besteht. Die zahlreichen 
Konflikte spielen sich also nicht nur während Protesten ab, sondern auch
 auf der Strasse des alltäglichen Lebens, in Familien,... Obwohl viele 
aus Angst ihre revolutionäre Einstellung (oder beispielsweise ihre 
religiöse Abtrünnigkeit, was zum sozialen Ausschluss, oder sogar zum Tod
 führen kann) vor den richtigen Leuten verborgen halten, kann dies nicht
 ewig verhüllt bleiben und wird es zu einem gewissen Zeitpunkt nicht 
anders können, als familiäre und soziale Brüche und Explosionen 
auszulösen, die unvorhersehbare Wirbel zur Folge haben. 
Dies sind 
Zeichen dafür, dass sich etwas am zusammenbrauen ist im Bauch der 
Sphinx, und der Hunger danach, das familiäre Gerüst und die soziale 
Kontrolle abzubalgen, ist eine absolute Notwendigkeit, um den Rest 
verschlingen zu können. Um der Rolle des Soldaten ein Ende zu setzen, 
der wie eine programmierte Maschine auf die Leute schiesst. Um der Rolle
 des Arbeiters ein Ende zu setzen, der für einen miesen Hungerlohn 
seinen Körper, denjenigen der anderen und die Natur vergiftet. Um der 
Rolle des Mannes ein Ende zu setzen, der die Frau auf tausend Weisen 
kontrolliert, oder die der Frau, die sich auf tausend Weisen dem Mann 
unterwirft, etc. 
Konterrevolution 
Die verschiedenen 
Mächte, die danach trachten, die ägyptische Gesellschaft zurück zur 
Ordnung zu führen, verfügen über zahlreiche Möglichkeiten. Das rohe 
Einhacken auf die Bewegung hat bis jetzt stets den gegenteiligen Effekt 
gehabt. Das Feuer verbreitet sich in Ägypten sehr schnell, auch über die
 Grenzen der Städte hinaus, und die wütende Revolte ist allzu präsent, 
um damit zu spielen. Vielmehr als ein Grund, um ängstlich zu sein, sind 
die Morde jedes Mal ein neuer Grund gewesen, um mutig zu sein und alles 
auf den Kopf zu stellen. Die zahlreichen Portraits von Märtyrern, denen 
man auf den Mauern der Städte begegnet, zeugen von der intensiven 
Verbindung zwischen jenen, die tod sind, und jenen, die weiterkämpfen. 
Die
 physischen Waffen wie Steine, Schlagstöcke, ein besonders aggressives 
Tränengas und scharfe Munition wurden bei Protesten und Aufruhren 
eingesetzt. Die Fahrzeuge der Ordnungshüter sind inzwischen durch ein 
neues Modell ersetzt worden, das feuerresistent ist, mit Löchern, um zu 
schiessen, und bedeckt mit eisernen Gittern, die elektrisch geladen sind
 (um die Leute davon abzuhalten, auf sie hinauf zu klettern). Doch es 
wurden auch andere Mittel eingesetzt. Neue Gesetze wurden durchgesetzt, 
Leute wurden nach Demonstrationen verhaftet, auch an Stellen, die weit 
von den Protesten entfernt waren. Die Verhaftungsbefehle und Anklagen 
der Staatsanwälte regneten... Im April 2013 kam es zu einem neuen 
Präzedenzfall, als streikende Eisenbahnarbeiter von der Armee aufgeboten
 und in ihrem Dienste wieder an die Arbeit gesetzt wurden [6]. 
Auf 
ideologischer Ebene versucht die Macht, demokratische befriedigende 
Ideen durchzusetzen, wie zum Beispiel die Idee, „friedlich zu 
demonstrieren“, die man den Menschen in die Köpfe zu setzen versucht, 
kombiniert mit der Angst vor einem permanenten Chaos, die man ihnen 
einflöst. Sie setzt auf das Verlangen nach Ordnung, das man stets bei 
einen Teil der Bevölkerung verspüren wird. Es gibt solche, die sich 
darüber beklagen, dass man früher zumindest Respekt vor den Politikern 
hatte, solche, die sagen, dass es unter Mubarak besser war (da 
stabiler), ebenso wie es Menschen gibt, die zurück zur Zeit von Nasser 
wollen, oder nochmal andere, die zur Rückkehr der Armee an die Macht 
aufrufen. Abgesehen von der Idee des friedlichen Protestes, versucht die
 Macht auch, die Idee der Wahlen durchzusetzen. Nach einer Auflehnung zu
 Wahlen aufzurufen oder sie zu akzeptieren, dient stets allein dazu, sie
 zu begraben: egal wer die Erde oben drauf schaufelt. Der konservative 
und gläubige Teil der Bevölkerung, gemeinsam mit jenem Teil, der 
schlicht eine politische Veränderung will, ging in Ägypten an die Urnen,
 und Morsi wurde zum Präsidenten. Über die Auflehnung sagen uns die 
Wahlergebnisse also nichts mehr, als dass es auch Leute gibt, die 
wollen, dass der revolutionäre Prozess beendet wird. Es ist eine moderne
 Technik, um wieder zur Ordnung zu gelangen. 
Abgesehen von den 
kontinuierlichen Versuchen, ein neues politisches System akzeptieren zu 
machen, wird selbstverständlich auch auf die Stützpfeiler der Macht 
gesetzt, die bereits präsent sind, wie der Nationalismus. Im Fernsehen 
kann man Spots sehen, die die ägyptische Auflehnung gegen Mubarak (jene 
18 Tage) auf eine besonders nationalistische Weise verherrlichen, mit 
einer Fahnenflut und der folgenden Mitteilung: alle vereint für die 
Zukunft von Ägypten. Andere Stützpfeiler sind die Leidenschaft für 
Fussball [7] und der Sexismus. Die Gruppenvergewaltigungen, die während 
des zweiten Jahrestags der Auflehnung einen Schatten über den 
Tahrirplatz warfen, wurden von Vasallen der Macht angezettelt, doch 
aufgrund der bestehenden sexistischen Verhältnisse in der Gesellschaft 
haben diese Vasallen Komplizen unter den Anwesenden gefunden. Was man 
sich dennoch bezüglich dieser Vergewaltigungen präsent halten muss, ist,
 dass dies bereits vor 2011 passierte, und somit sicherlich keine Folge 
der revolutionären Situation ist, wie manche behaupten. Diese 
angstvollen Gedanken nützen einzig dem Lager des Staates, der einerseits
 darauf aus ist, die Frauen aus dem Kampf zurückzuhalten, und 
andererseits begierig auf jegliche Art von Aufrufen wartet, um die 
Polizei wieder auf den Strassen präsent zu machen. Wie überall und immer
 wird das Problem des Sexismus instrumentalisiert, einerseits als 
Legitimierung dafür, dass Frauen besser zuhause bleiben, und 
andererseits als Legitimierung der Notwendigkeit des paternalistischen 
Staates und seiner Ordnungskräfte, um „die Schwachen“ zu beschützen. 
Schliesslich wird auch die Religion instrumentalisiert. So giessen der 
Staat und seine Anhänger (aber nicht nur, selbstverständlich) 
systematisch Öl ins Feuer von sektenhaften Konflikten und bedienen sich 
Imams der Predigt, um ihre Gläubigen beispielsweise dazu aufzurufen, 
wählen zu gehen, und um ihnen zu sagen, für wen sie wählen sollen. 
Um
 abzuschliessen, muss man sich auch die ökonomische Repression bewusst 
halten. Die Folgen von Morsi's Fortsetzung der neoliberalen Politik von 
Mubarak (der Ausverkauf von Ägypten an allerlei Unternehmen, um eine 
grösst mögliche Ausbeutung der Arbeiter sicherzustellen) und die 
Darlehnen des IWF und der EU sind schwer und werden es noch mehr sein. 
Der ökonomische Terror sorgt nämlich dafür, dass die Menschen an die 
sozialen Verhältnisse gebunden bleiben, die sie unterdrücken: die 
Verhältnisse zwischen Boss-Arbeiter, die familiären Verhältnisse, die 
Konkurrenz- und Wettkampfverhältnisse zwischen den Menschen,... Im 
Wissen, dass wir uns in einer globalisierten Wirtschaft befinden, 
erschwert es dies einerseits, sich einen Ausweg vorzustellen, und 
gleichzeitig ist die Lösung klar wie Quellwasser: eine 
Internationalisierung der Revolution. 
Sind wir sicher, keine Angst vor Ruinen zu haben? 
Welche
 Fragen drängen sich in dieser revolutionären Situation in der modernen 
Welt auf? Was könnte eine revolutionäre Perspektive sein? Was kann eine 
anarchistische Minderheit in dieser Situation ohne deutlichen Ausweg 
bedeuten? Wir beabsichtigen nicht, hier Antworten auf Fragen zu geben, 
die dort unten gestellt wurden, sondern einige Fragen zu stellen, die 
für jeden revolutionären Anarchisten von Wichtigkeit sind, egal wo er 
sich befindet. 
In der ägyptischen Situation ist es deutlich, dass 
ein gigantischer revolutionärer Elan einen tiefen Bruch in der 
Gesellschaft verursacht hat. Doch dieser Raum, der durch den Konflikt 
mit Gewalt geöffnet wurde, und worin man bereits jetzt etwas besser 
atmen kann, dieser Raum, woraus der Staat zurückgedrängt wurde und worin
 man beginnen könnte, an eine aufbauende Arbeit zu denken, kann der 
Staat diesen Raum nicht erneut zurückerobern, sobald die Zeit dafür reif
 ist? In anderen Worten: genügt es, den Staat anzugreifen und zu 
vertreiben, oder muss er zerstört werden, damit er nie wider 
zurückkehren kann [8]? 
Demnach ist es wichtig, uns die Frage zu 
stellen, ob der revolutionäre Elan, der für die Revolution ein 
unentbehrlicher Motor ist, ein ausreichender Motor ist. Dieser Elan, der
 eine enorme Hoffnung entstehen lässt, eine Art freudiger kollektiver 
Rausch, kann auch für einen entsprechenden Kater sorgen: denn eine 
Revolution wird nicht in einem Tag gemacht, sie ist ein Werk, das 
Beharrlichkeit und Diskussion fordert, das richtige Fragen benötigt. Die
 Probleme, die es vor der Revolution gab, werden nicht so schnell 
verschwinden, wie es uns der Rausch glauben machen mag. In Ägypten 
könnte man sagen, dass dieser Elan noch immer präsent ist und dafür 
sorgt, dass Menschen weiterkämpfen, aber die Realität fordert mehr als 
das. Es ist die schwierigste Frage von allen: was nun? 
Eine neue 
Gesellschaft kann nur auf neuen Verhältnissen zwischen Menschen 
aufgebaut werden, und wenn die alten Verhältnisse noch aufrecht stehen, 
bedeutet dann der Aufbau von etwas „neuem“ nicht zwangsläufig die 
Reproduktion des „alten“, wenn auch in anderer Form? Doch wenn wir uns 
dies bewusst halten, dann kommen wir, innerhalb einer revolutionären 
Situation, doch nicht um die Frage der Selbstorganisation des Leben in 
all seinen Aspekten herum, einschliesslich der „ökonomischen“ Aspekte. 
Vielleicht können wir die Frage umdrehen und darüber nachdenken, welche 
Perspektiven oder Experimente keine Rückkehr zu kapitalistischen 
Verhältnissen bedeuten würden. In einem Land wie Ägypten, in dem eine 
nicht-kapitalistische Form der Landwirtschaft (föderalistisch, basierend
 auf Kollektiven oder Affinitäten, nach Selbstversorgung und Autonomie 
strebend) möglicherweise noch vorstellbar ist, könnte die Enteignung des
 Bodens und die Vertreibung der Grundbesitzer (hauptsächlich die Armee 
oder Unternehmen) mit dem Auftauchen von neuen, libertären Formen 
einhergehen. 
Es ist klar, dass wir, als Anarchist, sicher nicht in 
die Falle der Reproduktion von Abhängigkeitsverhältnissen treten dürfen.
 Menschen werden stets Wege finden, um sich selbst für die Sicherung 
ihres Überlebens zu organisieren, wir brauchen uns nicht wie Fürsorger, 
die Menschen an sich binden, unter die Leute und ihre Leben zu begeben. 
Doch wie kann dann die Zerstörung der Macht in ihrem geistigen Aspekt 
(das Brechen mit dem Abhängigkeitsverhältnis von dem, was uns an die 
Unterdrückung und die Macht gebunden hält) vorangetragen werden? Wie 
kann man zu einer Verwerfung der Technologie gelangen, die uns, selbst 
für etwas so elementares wie Kommunikation, von der Macht abhängig 
macht? 
Nun aber, dies gibt uns noch immer keine Antwort. Denn in 
einem Klima, worin für eine andere Welt gekämpft wird, und dies ohne 
deutliche Antworten, drängt sich der Beginn von dem, was denn diese neue
 Welt sein könnte, auf. Haben wir die Vorstellung von etwas neuem nötig,
 um zu kämpfen, oder können wir fähig sein, einzig für die Zerstörung 
des Bestehenden zu kämpfen, die Zerstörung der Unterdrückung und all 
dessen, was sie möglich macht? Sind wir fähig, uns vorzustellen, was 
eine freie Gesellschaft sein kann, mehr als nur zu sagen, was wir nicht 
wollen? Sind wir fähig, uns vorzustellen, was Freiheit ist, was freie 
Beziehungen sind, wenn wir noch immer von Zügeln zurückgehalten werden? 
Und noch immer sind dies keine Antworten auf die Anfangsfrage, „was 
nun?“ 
Vielleicht läuft es auf die alte Frage hinaus: sind wir 
imstande, dem wirklichen Werk der Zerstörung freien Lauf zu lassen, oder
 haben wir, letztenendes, Angst vor der Freiheit? Um ein provozierendes 
Beispiel zu machen: was will man mit dem Aswan-Damm tun, der die 
ägyptische Landwirtschaft von Düngmitteln und anderem chemischen Müll 
abhängig gemacht hat, der aber ebenso dafür sorgt, dass der äusserst 
fruchtbare Nil nicht alle soundso viele Monate über seine Ufer tritt? 
Sowie dieser Damm für das Fortbestehen des kapitalistischen Modells (das
 sich nicht auf den Rhythmus der Gezeiten stützen kann) notwendig ist, 
so scheint der Abbruch dieses Damms eine Notwendigkeit, um mit 
libertären Formen experimentieren zu können. Aber sind wir fähig, die 
Notwendigkeit von Ruinen zu akzeptieren? 
Oder: Was fangen wir mit 
einer Gesellschaft an, die nach dem Abbild gewisser Denkmuster 
modelliert ist, und von der somit nichts mehr übrig bleibt nach der 
Zerstörung dieser Denkmuster? Sind wir bereit dafür, die Denkmuster 
loszulassen, die seit unserer Geburt unsere sozialen Beziehungen geformt
 haben? Diese Denkmuster, die uns unser Selbstwertgefühl geben, die 
Identitäten, an denen wir uns festklammern können, und auf die wir in 
Zeiten der Krise zurückgreifen können. Sind wir bereit dafür, unabhängig
 zu sein, in unserem Denken und in unserem Handeln? 
Die Frage ist, 
was Menschen letztendlich zurückhält: die bewaffnete Macht oder das 
Verlangen nach Ordnung, vielleicht nach einer neuen Ordnung, aber 
dennoch: nach einer Ordnung. Die Revolutionäre werden sich unvermeidlich
 mit diesen Fragen konfrontiert sehen, und dann drängt sich eine letzte 
Frage auf: sind wir sicher, keine Angst vor Ruinen zu haben? 
Und 
wenn wir wirklich keine Angst haben, dann müssen wir die Zerstörung von 
allen Illusionen, sowie der Häuser, worin sie entstehen, wie gewaltsam 
dies auch sein mag, fortsetzen. 
Die Internationalisierung der Revolution 
Eine
 mindestens ebenso wichtige Frage drängt sich auf, einem jeden, von egal
 welchem Kontext. Es ist die mühsame Frage des Internationalismus, die 
uns nackt dastehen lässt. Dennoch sind unsere internationalistischen 
Aufgaben einfach. 
Wir müssen darüber nachdenken, wie eine 
anarchistische revolutionäre Perspektive in einer modernen Welt aussehen
 kann. Solange dies keine geteilte Sorge ist, wird daraus nichts werden.
 
Wir müssen die revolutionäre Flamme dort schüren, wo wir wohnen und
 agieren, und die Korrosion der Macht unter all ihren Formen 
propagieren. 
Schliesslich müssen wir über Wege nachdenken, um unsere
 Solidarität mit anarchistischen Revolutionären von anderswo zu 
vertiefen. Dies ist entscheidend und notwendig. Nicht nur, um Dinge über
 Insurrektion und Revolution zu lernen, sondern, um durch die Diskussion
 zu einem eigenen Begriff davon zu gelangen, was wir tun können. 
Dieser
 Internationalismus ist kein politisches Spiel. Es geht nicht um 
Koalitionen, die sich miteinander konfrontieren, es geht nicht um die 
Bestimmung eines Programms und die Suche nach Anhängern. Es geht um 
nichts mehr als das Verständnis, dass die Revolte, die sich anderswo 
abspielt, Sauerstoff benötigt, dass die Insurrektion internationalisiert
 werden muss. 
Anmerkungen: 
[1] Es geht 
hier um die patriarchale Unterdrückung im ursprünglichen Sinne des 
Wortes, das heisst, um ein unterdrückendes Gesellschaftsmodell, das auf 
dem Gesetz der Familie basiert. Ohne zu behaupten, dass dieses Gesetz 
keine Unterschiede bedeutet für Männer und Frauen, für Junge und Alte, 
scheint es uns wichtig, in den Vordergrund zu stellen, dass es sich 
hierbei um ein familiäres Gerüst handelt. Wenn dies nicht berücksichtigt
 wird, missversteht man die wirkliche Bedeutung von diesem spezifischen 
Unterdrückungsmodell. Vielmehr als ein System, ist der Sexismus, der 
selbstverständlich massiv präsent ist wie überall, aus einer Reihe von 
Denkmustern und damit einhergehenden Praktiken, die das System 
aufrechterhalten. Aber nicht nur. Auch die ökonomische Notwendigkeit 
macht, dass Leute an ihre Familie gekettet bleiben und gehorsam sind, 
ebenso wie die Religion und die soziale Kontrolle. Wenn man gegen einen 
dieser Aspekte rebelliert, wird man mit einer Repression auf allen 
Ebenen konfrontiert. 
[2] Die Forderungen der ägyptischen Auflehnung sind „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit!“. 
[3]
 Natürlich mangelte es nicht an Leuten, die den Kameras des CNN ihre 
Botschaft verkünden wollten, doch die Auflehnung hatte keine Programme, 
keine politische Vision. 
[4] Unter „Bedingungen“, worunter 
Menschen gezwungen sind, zu überleben, wird nicht nur die Armut 
verstanden, sondern auch beispielsweise die Herrschaft einer Ideologie, 
der es zu gehorsamen gilt (wie beispielsweise die Religion). Sowie das 
Gesetz der Familie ebenso zu den unterdrückenden Bedingungen gehört, 
worunter so viele gefangen sind. Die Vernichtung des Individuums und die
 Unmöglichkeit des Individuums, frei zu leben, sind eine der Triebkräfte
 hinter der Auflehnung. 
[5] Offizielle Zahlen sprechen unter 
anderem von 2387 Demonstrationen, 1013 Streiks, 811 Sit-ins, 503 
Umzügen, 482 Versammlungen, 1555 Strassenblockaden, 28 Angriffen gegen 
offizielle Konvois, 18 physische Angriffe gegen Staatsinstitutionen und 
16 ausgebrannte Staatsinstitutionen (dies betrifft nur die 
Staatsinstitutionen im strikten Sinne wie Gerichte oder Ministerien). 
[6] Wie bereits gesagt, bleibt man nach dem Militärdienst noch für 15 Jahren der Armee zur Verfügung. 
[7]
 Siehe diesbezüglich die ganzen Ereignisse rund um Port Saïd, die 
instrumentalisiert wurden, um die Konkurrenzgefühle zwischen Kairo und 
Port Saïd zu schüren, so dass sie bis zu Hass wurden. 
[8] Durch 
die Geschichte hindurch sind die Beispiele von Situationen, wobei 
Revolutionäre den Eindruck hatten, den Staat in die Knie gezwungen zu 
haben, während sich dieser in Wirklichkeit nur für einen Moment 
zurückzog, um sich neu zu organisieren, tragisch zahlreich. In diesem 
Sinne können wir einen Unterschied machen zwischen dem Zurückdrängen des
 Staates, was einen gewissen Spielraum für freies Experimentierung 
gestattet; und der Zerstörung des Staates, die es praktisch 
verunmöglicht, dass er, auf eine derartige Weise, die Dinge wieder in 
die Hand nehmen wird. Diese Zerstörung ist sowohl ein materieller wie 
geistiger Akt: das Ende des Vertrauens in die Autorität und die 
Hierarchie geht einher mit der energischen Zerstörung von dem, was den 
Straat ermöglicht, wie das Gewaltmonopol (indem man alle bewaffnet), das
 Finanzwesen (indem man die Goldreserven oder Eigentumsregister zum 
Verschwinden bringt), die Verwaltung (indem man die Identitätsdaten 
verbrennt), die Führer (indem man sie unschädlich macht, möglichst bevor
 sie beginnen, tatsächlich ein Problem darzustellen), die 
Repressionskapazität (indem man die Gefängnisse und Gerichte 
sprengt),... 

