Als die Politologin und Publizistin Marion Kraske im Auftrag der
Amadeu Antonio Stiftung mit ihrer Untersuchung von
rechtsextremistischen Übergriffen und Zwischenfällen in Westdeutschland
begann, erntete sie bei Kollegen Unverständnis und Verwunderung.
Marion Kraske: Man
hat eigentlich nicht gesehen, wie stark sich der Rechtsextremismus auch
im Westen tagtäglich Bahn bricht und auch hier Opfer produziert mit
fatalen Konsequenzen. Das Problem wird von den maßgeblichen Stellen in
den Behörden nicht richtig erkannt oder nicht richtig benannt. Es ist
ein schludriger bis nachsichtiger mit rechtsextremen Taten und
rechtsextremen Tätern zu konstatieren.
Anhand ausgesuchter
Fälle aus den alten Bundesländern dokumentiert Marion Kraske in ihrem
Report, wie sich das fehlende Problembewusstsein staatlicher Akteure für
den Rechtsextremismus im Alltag westdeutscher Kommunen auswirkt:
Staatsanwaltschaften spielen bei Anzeigen den rechtsextremistischen
Hintergrund von Straftaten herunter, Gerichte mildern in zweiter Instanz
Urteile gegen Neonazis ab, Polizeibeamte behandeln die Opfer rechter
Gewalt wie Straftäter, und zivilgesellschaftliche Initiativen gegen
Rechts werden von den Behörden als linksextremistisch oder als
Nestbeschmutzer diffamiert.
Marion Kraske: Der
Spielraum des Rechtsstaates wird nicht ausgeschöpft. Das zieht sich wie
ein Muster durch alle unsere Beispiele. Die Botschaft in die
rechtsextreme Szene ist verheerend: Ihr könnt hier machen, was ihr
wollt.
Ein
Beispiel für mangelndes staatliche Engagement aus Wuppertal. Dort will
im November 2010 ein Jugendmedien-Projekt in einem öffentlichen Kino
einen Aufklärungsfilm über Neonazis zeigen. Plötzlich stürmt eine
Gruppe vermummter Neonazis den Saal, singt das NS-Propaganda-Lied "Ein
junges Volk steht auf", bedroht die Zuschauer mit Schlagwaffen und
Messern und wirft mit Steinen. "Den Kinobesuchern gelingt es, die
Neonazis aus dem Saal zu drängen", berichtet Augenzeuge Norbert
Weinrowsky. Der Wupperthaler Medienpädagoge war damals sicher, dass es
gegen die Neonazis zu einem Verfahren wegen Landfriedensbruchs kommen
würde. Statt dessen muss er sich über die Einschätzung des
Innenministeriums im Verfassungsschutzbericht des Landes wundern :
Norbert Weinrowsky: Und
da wurde dieser Fall als versuchte Störung beschrieben, dass es da um
eine Auseinandersetzung zwischen Linken und Rechten Szene gegeben hätte.
Es war zum großen Teil aus Sicht der Neonazis beschrieben tatsächlich.
Erst
als das ZDF über den Vorfall berichtet, nimmt die Staatsanwalt die
Ermittlungen wieder auf. Und Wuppertals Oberbürgermeister ist empört.
Allerdings nicht über die Neonazis, sondern über das ZDF.
Norbert Weinrowsky: Das
Problem sind nicht die Neonazis, das Problem ist nicht die Polizei, das
Problem ist nicht die Staatsanwaltschaft, das Problem ist nicht das
Gericht, das Problem ist der Redakteur eines öffentlich-rechtlichen
Mediums. Und wenn ein Oberbürgermeister einer mittelgroßen deutschen
Stadt das verbreitet, verbreiten lässt, und das wörtlich sagt, da sehe
ich eine Gefährdung der Demokratie.
Wuppertal sei kein
Einzelfall, resümiert die Amadeu Antonio Stiftung. Im bayrischen Amberg
, wo häufig Neonazi-Konzerte stattfinden, werden Gegendemonstranten
als Provokateure diffamiert; im Schleswig-Holsteinischen Tostedt wird
ein Bekleidungsgeschäft, das Neo-Nazi-Artikel verkauft erst nach
jahrelangen Protesten geschlossen, im rheinlandpfälzischen Betzdorf
verhaftet die Polizei nach einem Überfall auf das Wohnhaus einer
Migrantenfamilie die Bewohner und nicht die Täter usw. Das Fazit des
Reports: Alltagsrassismus ist nicht nur bei den sogenannten
Normalbürgern verbreitet, sondern auch in den staatlichen Behörden. Und
zwar in Ost und West. All diese Recherchen lassen nach Auffassung der
Amadeu Antonio Stiftung den Schluss zu: Die Zwickauer Terrorzelle konnte
sich auf die fehlende Aufmerksamkeit gegenüber dem Rechtsextremismus in
Westdeutschland verlassen: 9 von 10 NSU-Morden fanden in den alten
Bundesländern statt.
Dieser Beitrag wurde am 10. April 2013 in der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur um 17:20 Uhr gesendet.