Derzeit befindet sich Aktivist_innen aus Hamburg mit einer Delegation in Nordkurdistan um das kurdische Widerstandsfest Newroz zu besuchen und um sich einen aktuellen Eindruck der Situation vor Ort zu verschaffen. Nachdem sich die Delegation am 17.03. auf den Weg in Richtung Südost-Kurdistan, nach Hakkari/Colemerg gemacht hatte besuchten sie am 18.03. das große Newrozfest in Hakkari/Colemerg, und am 19.03. auf dem Rückweg nach Diyabkir/Amed die Stadt Cizre, wo es zu Kontakt mit den türkischen Sicherheitskräften kam...
An dem heutigen Tag nehmen wir an dem Newroz-Fest in Colemêrg/Hakkari teil. Bereits früh am morgen beginnt die Bevölkerung damit in den Straßen zu feiern. Wir gehen zunächst zu einer feiernden Menge, die sich aus den Bewohner_innen des Stadtteils in dem wir geschlafen hatten zusammensetzt. Immer mehr Menschen stoßen aus allen Ecken dazu, es werden Lieder gesungen und getanzt. Schließlich formiert sich die Menge zu einer großen und kraftvollen Demonstration, die sich auf dem Weg zum zentralen Platz für Newroz macht und in die wir uns einreihen. Die Energie und Entschlossenheit der Demo ist überwältigend und wenig zu vergleichen mit Demonstrationen in Deutschland. Das Ganze findet vor der unbeschreiblich beeindruckenden Kulisse von riesigen verschneiten Bergen im Hintergrund statt.
Bereits an der ersten Kreuzung geht es vorbei an von Militär und Spezialeinheiten gesicherten Wohn- und Militäranlagen der türkischen Soldaten und ihrer Familien. Während unten die schwer bewaffneten Soldaten stehen, steht in einem der Häuser weiter oben auf einem Balkon eine Frau, die türkische Fahne schwenkend und das Zeichen der türkischen Faschist_innen zeigend. Doch die kurdischen Genoss_innen lassen sich von dieser eindeutig bewussten Provokation nicht beeindrucken und ziehen lautstark und unter Feuerwerk weiter.
Auf dem Weg der Demonstration kommen wir noch an weiteren bewaffnet geschützten Stützpunkten der Polizei und des Militärs vorbei. Diese halten sich jedoch zurück, die Demonstration anzugreifen, was der Einschätzung der Genoss_innen vor Ort entsprach. Im Gegenteil zum letzten Jahr wurden die Newrozfeste nicht verboten und obwohl es zu den unerwarteten Angriffen auf das Fest in Erzurum und ein Stadteilfest in Batman kam, ist die Lage im Verhältnis zum letzten Jahr, als es auf fast allen Newrozfesten zu massiven Straßenschlachten kam, entspannt.
Auf dem Platz selber erwartet uns dann eine beeindruckende Szenerie. Über dem Platz hängen lange grün-gelb-rote Girlanden aus Luftballons, tausende Menschen darunter feiern und demonstrieren und auf gegenüberliegenden Seite befindet sich eine große Bühne ausgestattet mit zahlreichen Transparenten, unter anderem mit Symbolen der PKK, von Öcalan und eines mit Öcalan und Sakine Cansiz.
Erneut werden wir herzlich empfangen. Wir werden zum tanzen eingeladen und mitgerissen von der euphorischen Stimmung. Von der Bühne erklingt laute Musik und zwischendurch werden Reden von Genoss_innen der Bewegung, unter anderem Gülten Kışanak gehalten. Gülten Kışanak ist, wie wir im letzten Bericht bereits erwähnt hatten, die Co-Vorsitzende der BDP und beteiligte sich z.B. vor kurzem an einer Delegation von BDP-Abgeordneten in die Kandil-Berge. Kandil – das ist die befreite Region der Volksverteidigungskräfte (HPG) in Südkurdistan/Nordirak und wird auch Medya-Verteidigungsgebiete genannt. Diese Delegation hatte einen Brief von Öcalan im Rahmen der entstehenden Friedensgespräche an das KCK- Exekutivkomitee überbracht. Gülten Kışanak hatte sich auch an einem internationalen Kongress zur Ideologie des „Demokratischen Konföderalismus“ im Frühjahr 2012 in Hamburg beteiligt. Sie ist für viele Kurd_innen eine wichtige Symbolfigur.
Das Wetter scheint dann doch nicht richtig mitspielen zu wollen. Kurz nach unserer Ankunft auf dem Platz, während der Rede von Kışanak, fängt es an extrem zu schneien. Doch die Leute lassen sich davon nicht beeinflussen und singen und tanzen weiter und rufen Parolen.
Kurze Zeit später hält dann die Delegation aus Deutschland des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan (YXK) eine Rede und auch wir bekommen die Gelegenheit ein Grußwort an die kurdischen Genoss_innen vorzutragen. Aufgrund des vollen Programms müssen wir unsere vorbereitete Rede leider stark kürzen. Nichtsdestotrotz gehen wir extrem aufgeregt auf die Bühne und stehen auf einmal der Menge von mehr als 10.000 Menschen gegenüber. In unserer kurzen Grußbotschaft erklären wir unsere Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung, das wir fest entschlossen an ihrer Seite stehen und nach unseren Möglichkeiten versuchen werden in Europa den Freiheitskampf zu unterstützen. Wir erklären unsere Begeisterung für das Konzept des Demokratischen Konföderalismus und verurteilen die aktive Beteiligung Deutschlands an der Besatzung Kurdistans und dem Krieg. Am Ende heißt es: „Hoch die internationale Solidarität! Newroz pîroz be – Berxwedan jiyan e!“ Wir alle sind sehr bewegt, als wir unsere Fäuste heben und tausende Genoss_innen es uns gleich tun.
Nach dem Fest gehen wir in den örtlichen Kulturverein der Bewegung. Hier versuchen sie die kurdische Identität und Kultur wieder aufleben zu lassen und vor allem den Jugendlichen näher zu bringen und ihnen somit auch eine Beschäftigung, jenseits von der Straße zu geben. Wir führen ein langes Gespräch mit den Freund_innen aus dem Verein, einem BDP-Politiker aus der Stadtverwaltung und weiteren Genoss_innen.
In den Räumen des Vereins finden regelmäßig Veranstaltungen statt, es werden verschiedenste Kurse angeboten. So gibt es Theater-, Folklore-, Zeichnen- und Saz (kurdisches Saiteninstrument)- Kurse. Musikalisch lehren sie die „Dengbeş“-Musik. Diese ist ein kulturelles Gut der kurdischen Bevölkerung. In ihrer Kultur wurden Ereignisse früher nicht schriftlich überliefert, sondern mittels der Musik weitergegeben.
Der Verein existiert seit etwa zwei Jahren und während es zu Anfang schwer war die Menschen zu begeistern, ist die Nachfrage mittlerweile sehr gestiegen. Teilweise werden Kurse von über einhundert Leuten, bei denen das Alter zwischen 10 und 60 variiert, besucht. Auch der türkische Staat versuchte eigene Kulturarbeit nach seinen Vorstellungen zu machen, doch diese wurde von der Bevölkerung geschlossen gemieden.
Colemêrg ist eine Stadt, in der der Krieg aufgrund der örtlichen Lage seit Jahrzehnten besonders präsent ist. Nach der Aussage des Genossen von der BDP hätte die Stadt bei normaler Entwicklung heute um die 26.000 Einwohner_innen. Doch aufgrund des Krieges und des gezielten Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus ihren Dörfern leben hier mehr als 60.000 Menschen. Dies hat für extreme strukturelle Probleme gesorgt, um die sich seitens des türkischen Staates nie gekümmert wurde. Dazu kommt die finanzielle Benachteiligung, die einem wirtschaftlichen Embargo gleichkommt, gegenüber den von der BDP regierten kurdischen Gebieten und dass die wirtschaftliche Entwicklung in den kurdischen Regionen seit der Gründung der Türkei von den verschiedenen Regierungen bewusst auf einem niedrigen Niveau gehalten wurde. Colemêrg ist auch die einzige größere Stadt in der Türkei in der es keine Fabriken gibt. 75% der hier lebenden Menschen sind arbeitslos.
Die BDP hat bereits einige Projekte zur Verbesserung der Situation und Lösung der strukturellen Probleme entwickelt, doch ohne die finanziellen Mittel und konfrontiert mit ständiger staatlicher Repression gegenüber den Selbstverwaltungsstrukturen ist die herrschende Situation nicht einfach zu überwinden.
Später redeten wir mit einem anderen Genossen auch noch über die Umsetzung der „demokratischen Autonomie“ in Colemêrg, die alltägliche Repression und die allgemeine Situation, wie den angeblichen Friedensgesprächen, sowie die Stimmung innerhalb der Bevölkerung und Bewegung.
Eine ausführlichere Darstellung der Ergebnisse aus den Gesprächen wird demnächst folgen und natürlich auch Thema bei unseren Veranstaltungen sein. Unsere erste Informationsveranstaltung ist am 10.04. um 18:30Uhr im Centro Sociale in Hamburg.
Später wurden wir dann von einigen Familien eingeladen, wo wir erneut interessante, bewegende und lange Gespräche führten. Motiviert und mit großer Vorfreude auf den nächsten Tag ging es dann ins Bett.
Tagesbericht 19.03.2013
Am 19.03. sollte uns unser Weg aus dem wunderschönen Colemêrg/Hakkari durch märchenhafte Winterlandschaften zum Newroz-Fest nach Sirnak und später dann noch nach Cizre führen. Die mit Schnee bedeckten Berge brachten uns nicht nur in die Versuchung unzählige Fotos zu schießen, sondern auch dazu unseren Fahrer zu ermutigen am Wegrand zu halten und den letzten Schnee der Berge für eine Schneeballschlacht zu nutzen.
Nach unserer Ankunft in Sirnak bot sich uns ein ähnliches Bild wie in Colemêrg/Hakkari. Viele Menschen versammelten sich auf einem zentralen Platz um sich mit traditionellen Kleidern, Guerillaanzügen und vor allen mit den Farben der kurdischen Befreiungsbewegung zu schmücken. Mit großer Begeisterung wurde den Reden gelauscht und applaudiert und zum Takt der Musik traditionelle Tänze aufgeführt. Wie auch in Colemêrg/Hakkari wurden Fahnen mit dem Portraits Abdullah Öcalans geschwenkt. Im Laufe der Festes kamen so viele Menschen auf das umzäunte Gelände, so dass ein Durchkommen beinah unmöglich wurde.
Schnell machten wir uns wieder auf den Weg, in der Hoffnung noch ein paar Eindrücke von dem Newroz-Fest aus Cizre einzufangen. Auf der Fahrt von Sirnak nach Cizre mussten wir noch mehrere Militärkontrollen passieren, wobei jedoch lediglich ein Blick auf unser Gepäck und unsere Ausweise geworfen wurde. In Cizre sollten wir dann allerdings noch einmal ein anderes Bild von der Agitation des Militärs erhalten.
An unserem vorläufigen Reiseziel angekommen, musste sich unser Fahrer mehrmals nach dem Weg zu den Newroz-Feierlichkeiten erkundigen. So auch als wir am Straßenrand eine Gruppe Kinder antrafen um sie nach dem Weg zu fragen. Offensichtlich von unserem spontanen Anhalten erschrocken, liefen sie vor uns davon und wie wir dann aus der Nähe sehen konnten, mit einem Molotowcocktail bewaffnet. Im selben Moment entdecken wir nun auch einen Zivilpolizisten auf der gegenüber liegenden Straßenseite, der mit gezogener Waffe in Richtung der Kinder und damit auch zu uns unterwegs war. Nachdem unser Busfahrer ein paar Meter weiter endgültig anhielt, eilte unsere Delegation zu der Stelle an der wir auf die Gruppe der Kinder trafen, um sich zu vergewissern, dass der Polizist seiner Drohgebärde keine Taten folgen ließ. Damit hatten wir allerdings die Aufmerksamkeit der Polizei und des Militärs auf uns gezogen, die damit begannen die ihr zu Verfügung stehenden Männer und Fahrzeuge vor uns aufzufahren. Nach einem anfänglichen, und uns allmählichen bekannten, Geplänkel über uns Ziel und unsere Anliegen und der Ausweiskontrolle und während diverse Zivilpolizisten uns nur all zu offensichtlich versuchten uns mit ihren mitgeführten Waffen zu imponieren, die von Tränegaskatuschen über Maschinengewehre reichten, wurde unser Kleinbus akribisch in Betracht genommen. (Offensichtlich ist noch nicht in allen Institutionen des türkischen Staates angekommen, dass mensch auch mit einem Personalausweis der Bundesrepublik in die Türkei einreisen kann. Diese Aufklärungsarbeit leisteten wir dann allerdings gerne.) Und tatsächlich stellten die Polizisten fest, dass mit verdunkelten Rückscheiben zu fahren ein Verstoß ist, der mit 80 € geahndet werden kann. Eine reine Schikane, da gefühlte 50 % aller Fahrzeuge mit verdunkelten Scheiben unterwegs sind. Auch auf die Frage seit wann sich denn Zivilpolizisten und das Militär in die Angelegenheit der Verkehrspolizei einmischen würden, wurde uns erklärt, dass ein Verkehrspolizist bereits unterwegs sei. Dieser erschien dann auch prompt – allerdings auch in zivil und ohne die Bereitschaft uns seine Tätigkeiten bei der Verkehrspolizei ausweisen zu können. Vor diesem Hintergrund wirkten die Beteuerungen der Polizisten und der Militärs, die Türkei sei ein noch freieres Land als Deutschland mehr als skurril. Nach der Ausstellung des Strafzettels, für den mehrere gepanzerte Fahrzeuge, diverse Polizeiwagen und mehrere Beamte in Zivil notwendig zu sein schienen, konnten wir unsere Weiterfahrt aufnehmen, allerdings um im Stadtzentrum festzustellen, dass das Newroz-Fest bereits beendet worden war. Also machten wir uns auf die Weiterfahrt nach Amed/Diyarbakir. Beim verlassen der Stadt konnten wir aus unserem Kleinbus sehen, dass verschiedene Gruppen von Kindern und Jugendlichen auf den Straßen unterwegs waren, gegen die die Polizei bereits Tränengas eingesetzt hatte. Die zum Teil vermummten Kinder und Jugendlichen lieferten sich offensichtlich Straßenschlacht mit dem Militär und der Polizei. Ein Bild, welches nach Angaben eines Mannes aus Cizre, keine besondere Situation in dieser Stadt zu sein scheint