Der NSU lebt

Erstveröffentlicht: 
06.02.2013

Manchmal ist ein Verbrechen so groß, dass man es nicht sieht. Man ist mittendrin. Der NSU, der sogenannte nationalsozialistische Untergrund, war weder allein, noch ist er tot. Anders ist nicht zu erklären, was um den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages herum geschieht, der die zehnfache Mordserie aufklären soll. Zum Beispiel Aktenmanipulationen im Jahr 2012, wie man ganz aktuell erfährt.

 

von Thomas Moser/Kontext

 

Es geht bei der Aufarbeitung also nicht mehr nur um die Zeit von 1998 bis 2011, als das mutmaßliche Mordtrio im Untergrund lebte, sondern auch um die Zeit seit November 2011, nachdem die Existenz der Gruppe bekannt wurde. Der Untergrund lebt. Auf seiner jüngsten Sitzung am 31. Januar stieß der NSU-Ausschuss in Berlin auf frische Spuren.

Die Wurzeln der drei NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe liegen im thüringischen Jena. Wenn man danach gräbt, wie es der Ausschuss in Berlin tut, stößt man nicht etwa auf eine kleine, dreiteilige Zelle, sondern auf ein verzweigtes, großflächiges Wucherwerk mit Verwachsungen in die Sicherheitsorgane hinein. Immer klarer wird: Die Terrorgruppe ist ohne die Geheimdienste nicht zu verstehen, vor allem nicht ohne das Landesamt für Verfassungsschutz. War sie ohne es überhaupt überlebensfähig?

Am 26. Januar 1998 tauchten die drei während einer Durchsuchungsaktion unter. Die Polizei fand in einer Garage, die Beate Zschäpe angemietet hatte, Sprengstoff. Das weiß die Öffentlichkeit inzwischen. Was sie lange nicht wusste: Eigentümer der Garage war ein Polizeibeamter. Und was sie bis vor wenigen Wochen nicht wusste: In der Garage wurde eine Telefonliste von Uwe Mundlos gefunden. Darauf Telefonnummern in Chemnitz, Jena, Halle, Rostock, Nürnberg, Straubing, Regensburg – und auch vier Nummern von drei Personen in Ludwigsburg. Eine Liste, so Ausschussmitglied Clemens Binninger, "wie eine Landkarte der späteren Tat- und Fluchtorte". Doch was die Öffentlichkeit jetzt erst erfährt, in der Ausschusssitzung am 31. Januar: Selbst die Zielfahnder des LKA Thüringen haben diese Liste offensichtlich nicht gekannt.

 

Einer der Thüringer Zielfahnder damals war Sven Wunderlich, Kriminalhauptkommissar, 48 Jahre alt. Er habe die Telefonliste vor zwei Tagen zum ersten Mal gesehen, berichtet er dem Ausschuss. Also am 29. Januar 2013. Da nahm er im LKA Einsicht in alte Fahndungsakten, um sich auf seinen Zeugenauftritt vorzubereiten. In der Zielfahndung war er von 1994 bis Ende 2001 eingesetzt. Als er die Akten im August 2001 an seinen Nachfolger übergab, wusste er nichts von der Telefonliste, also konnte sie auch nicht in den Akten sein. Wie sie dort hineinkam, sei ihm nicht nachvollziehbar. Er habe aber noch mehr Veränderungen in und an den Akten festgestellt: Blätter waren falsch eingeheftet, zum Teil auf dem Kopf, die Ordnung stimmte nicht.

Weiß man, wer die Akten in der Hand hatte und wohin sie unterwegs waren, will der Ausschuss wissen. Nein, erklärt der Zeuge. Und zwar vor allem, weil sie verschwunden waren. Erst im November 2011, einige Tage nachdem das Trio aufflog, seien sie durch Zufall wieder gefunden worden. Er wurde damals ins LKA gerufen, um die Akten zu sichten. An eine Telefonliste kann er sich aber nicht erinnern.

 

Auch die Schäfer-Kommission, die von Ende November 2011 bis Mai 2012 das Handeln der Sicherheitsbehörden in Thüringen untersuchte, kannte die Telefonliste allem Anschein nach nicht. Wenn der Kriminalbeamte Wunderlich die Liste am 29. Januar zum ersten Mal sah, muss sie zwischen Mai 2012 und Januar 2013 in die Akten geschmuggelt worden sein. Wann genau, von wem und warum? Vielleicht, weil klar wurde, dass der Ausschuss diese Liste in seine Hände bekommt.

 

Offenbar wurden die Akten frisiert


Der Ausschuss weiß von der Liste aus Ermittlungsakten des Bundeskriminalamts. Bei der Garagendurchsuchung in Jena im Januar 1998 waren zwei BKA-Beamte dabei. Sie werteten die Liste anschließend aus und erklärten sie für "bedeutungslos". Die Fahndungsgruppe um Wunderlich erfuhr nie davon.

Eine Aktenmanipulation während der laufenden Arbeit eines Bundestagsausschusses – alle wissen, was das bedeuten würde. Es kommt zu einem der wenigen Momente, in denen die Bewertungen der Abgeordneten, die sonst über alle Parteigrenzen hinweg an einem Strang ziehen, auseinandergehen. Für Jens Petermann, Linksfraktion, steht fest, dass die Akte "designt" ist. Wolfgang Wieland, Bündnisgrüne, äußert den Verdacht, es sollte "vertuscht" werden, dass die Telefonliste den Fahndern vorenthalten worden war. Eva Högl, SPD, wählt die Frageform: "Wurden Fahndungsakten nachträglich frisiert?" Clemens Binninger, CDU, aber verneint das. Vielleicht sei mit den Akten im LKA nur weiter gearbeitet worden. Kein gutes Argument.

 

Die Liste ist explosiv. Sie enthält unter anderem den Namen des Neonazis Thomas Richter aus Halle, der von 1997 bis 2007 als V-Mann Corelli für das Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet hat. Das BfV in Kontakt zum NSU-Mordtrio? Der Fall Corelli war am Wochenende überall in den Nachrichten, weil das Bundesinnenministerium dem Ausschuss den Namen des V-Mann-Führers verweigert. Die Fernsehanstalten wissen von dem Konflikt schon seit dem 31. Januar. Der Ausschussvorsitzende Edathy hatte die Presse vor Beginn der Sitzung darüber informiert. In der "Tagesschau" und den "Tagesthemen" zum Beispiel war das am 31. Januar aber keine Meldung.

Sebastian Edathy, SPD: "Wir haben einen Konflikt mit dem Bundesinnenministerium. Der Ausschuss hat beantragt, den Klarnamen eines V-Mann-Führers zu erhalten. Das Innenministerium möchte sich dazu nicht äußern. Das ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg auf Unverständnis gestoßen. Wir erwarten Kooperation und Entgegenkommen seitens der Exekutive."

 

Zurück zum Jahr 1998. Zielfahnder Sven Wunderlich war nie so erfolglos wie bei der Suche nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Er berichtet von zahlreichen Merkwürdigkeiten. Im Januar 1998 waren die drei geflohen. Im März 1998 teilten Nachbarn mit, dass sich in der Wohnung von Zschäpe jemand aufhalten müsse. Die Beamten fanden tatsächlich Spuren dafür, frische Lebensmittel. Die Polizei tauschte das Türschloss aus – und signalisierte damit, dass sie die Wohnung beobachtet. Der oder die Besucher kamen nicht wieder.

Die Eltern von Uwe Mundlos äußerten den Verdacht, dass Beate Zschäpe für den Verfassungsschutz arbeitet. In ihrem Briefkasten fanden sie seltsame Briefe. Fahnder Wunderlich hielt das für glaubwürdig. Das LfV aber verneinte es. Heute weiß man, dass das Amt auch einen eigenen Kontakt zu den Eltern Mundlos pflegte. Unter anderem hielt es sie an, Telefongespräche von einer öffentlichen Zelle aus zu führen. Damit wurde die Telefonüberwachung der Polizei unterlaufen.

 

Die Verfassungsschützer sagten den Kripo-Fahndern kaum etwas


Oder: Die Verfassungsschützer sagten den Kripo-Fahndern, sie sollten Ermittlungen gegenüber Neonazis, wie dem Cousin von Zschäpe, unterlassen, um im rechtsradikalen Milieu nicht für Unruhe zu sorgen. Und die Ermittler hielten sich daran.

Man erfährt, dass das LfV die Information, dass das Trio mit Waffen versorgt wurde, nicht an die Fahnder weitergab. Damit wurde das Leben der suchenden Beamten aufs Spiel gesetzt. Sven Wunderlich: "Das hätte für einen unserer Kollegen tödlich ausgehen können."

Im April 1998 erfuhren die Zielfahnder durch ein abgehörtes Telefonat, dass sich die drei Gesuchten in der Schweiz aufhalten. In das Land fahren und ermitteln durften die Fahnder aus Erfurt aber nicht: "Keine Dienstreiseerlaubnis." Stattdessen fuhr das BKA in die Schweiz.

 

Das Thüringer Zielfahndungskommando wurde systematisch ins Leere laufen gelassen. "Das hatte mit Zielfahndung nichts zu tun", befindet der gelernte Kriminalbeamte Clemens Binninger. Eva Högl wird noch deutlicher: "Ich habe den Eindruck, dass Sie gezielt von wichtigen Informationen ferngehalten wurden. Sowohl vom LKA als auch vom Verfassungsschutz." Und Hans-Christian Ströbele, Bündnisgrüne: "Nicht die Staatsanwaltschaft hat die Leitung der Ermittlungen in Thüringen gehabt, sondern ganz offensichtlich der Geheimdienst. Das LfV hat der Zielfahndung vorgeschrieben, welche Zeugen, die sie möglicherweise auf die Spur des Trios geführt hätten, gefragt werden sollen und welche nicht. Unter anderem daran ist die Fahndung gescheitert."

 

Zielfahnder Wunderlich soll nicht fotografiert werden. An Presse und Zuschauern vorbei ist er in den Sitzungssaal geschleust worden und genauso unbemerkt wieder hinaus. Sein damaliger Chef, der LKA-Präsident Egon Luthard, ein massiger Mann, versucht jetzt, sich kleinzumachen. Seine Polizeikarriere begann der Sechzigjährige in der DDR. Deshalb habe er es eigentlich nicht für richtig befunden, einen solchen Posten zu bekleiden. Luthard gibt sich karrierescheu und signalisiert vor allem: Geht schonungsvoll mit mir um! Er weiß, warum. LKA-Präsident war er von Mai 1997 bis Juni 2000. Er räumt ein, dass das LKA damals Fehler gemacht habe. Das polizeitaktische Vorgehen sei aber sachgerecht gewesen. Das Papier, auf dem er die Zielfahndung angeordnet haben will, findet sich allerdings nicht in den Akten.

 

Egon Luthard, ehemaliger Präsident des LKA Thüringen: "Nachdem Haftbefehl erlassen war, habe ich eine Zielfahndung angeordnet."

Edathy: "Erfolgte die Anweisung mündlich?"

Luthard: "Es war eine schriftliche Weisung, im Januar 1998."

Edathy: "Herr Wunderlich sagt, der Auftrag wurde nur mündlich erteilt."

Luthard: "Sie war schriftlich angeordnet. Wenn Herr Wunderlich nach 15 Jahren kommt und so etwas sagt, bin ich enttäuscht."

Edathy: "Wir haben einen Vermerk: Im Oktober 2000 hat der LKA-Präsident entschieden, eine Zielfahndung einzuleiten."

Luthard: "Das war mein Nachfolger. Ich bin im Mai 2000 weg."

Edathy: "Richtig. Aber warum leitet der LKA-Präsident eine Zielfahndung ein, wenn es schon eine gibt?"

Luthard: "Das verstehe ich auch nicht."

Eva Högl, SPD: "Wie erklären Sie sich, dass die Adress- und Telefonliste aus der Garage nie zu Ihren Zielfahndern gelangte?"

Luthard: "Das kann man normalerweise nicht erklären."

Högl: "Waren Sie es, der damals das BKA angefordert hat?"

Luthard: "Nein, das war die Leitung der Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus."

Armin Schuster, CDU: "Das BKA kam zu der Einschätzung, die Liste sei ohne Bedeutung."

Luthard: "Das kenne ich nicht."

Högl: "Wissen Sie, welche relevanten Informationen Ihnen vom Verfassungsschutz vorenthalten wurden?"

Luthard: "Das ist ein Nachrichtendienst. Wenn ich's nicht weiß, kann ich's nicht beurteilen. Ich habe Herrn Roewer gefragt, ob der Verfassungsschutz Informationen vorenthält. Das hat er abgestritten."

 

Helmut Roewer war damals der Präsident des Amtes. Ihn will der Ausschuss noch als Zeugen vorladen. Jetzt kommt sein Nachfolger, Thomas Sippel, LfV-Präsident von 2000 bis 2012. Davor beim Bundesverfassungsschutz in Köln. Im Juli 2012 wurde Sippel wegen der NSU-Affäre in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Kurz zuvor hatte der BfV-Präsident Heinz Fromm seinen Schlapphut genommen. Der 56-jährige Sippel hat seiner Zwangspensionierung widersprochen. Das Verfahren läuft noch.

 

Der Zutritt in den Raum, wo die Abgeordneten und Zeugen sitzen, ist für Besucher wie für Presse untersagt. Lediglich die Fotografen dürfen vor jeder Zeugenbefragung für wenige Minuten in den Saal, um ihre Bilder zu schießen. Sofort verändern die Geladenen, teils hochrangige Funktionsträger, ihre Haltung. Sippel versucht auszuweichen, dreht sich weg, beschäftigt sich mit Koffer und Unterlagen. Entkommen kann er nicht, aber unfreiwillig scheint seine Körpersprache auch die Politik des Amtes zu dokumentieren, dem er damals vorstand. Verstecken, kein Gesicht zeigen, Tätigkeiten vortäuschen.

Der Verfassungsschutz habe mit dem LKA bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus konstruktiv zusammengearbeitet, behauptet Sippel, es sei nur nicht gelungen, das Trio zu finden. Aber seine Behörde habe doch wichtige Fahndungsdaten gegenüber der Polizei zurückgehalten, hakt der Ausschuss nach. Ja, er glaube, sagt Sippel, da habe mal ein kritisches Gespräch stattgefunden. Aber er habe keine konkrete Erinnerung mehr. Er sei davon ausgegangen, dass alle wichtigen Informationen übermittelt wurden.

 

Wie schon viele Zeugen aus der Exekutive vor ihm greift auch Sippel immer wieder nach der Formel: "Möglich, aber nicht mehr erinnerlich." So auch bei Fragen nach der Operation Rennsteig. Von Ende der 90er-Jahre an bemühten sich BfV, LfV Thüringen und der MAD, unter Bundeswehrsoldaten und in rechtsextremen Kreisen Quellen anzuwerben. Doch der Ex-LfV-Chef von Thüringen meint nun, Abgeordnete und Öffentlichkeit glauben machen zu können, er wisse nicht mehr, wie lange diese umfangreiche gemeinsame Operation lief oder ob sie vielleicht sogar noch läuft: "Dass sie im Jahr 2003 eingestellt worden sein soll, habe ich gelesen. – Ich denke, sie lief länger. –Ob sie bis zum Ende meiner Amtszeit ging, weiß ich nicht. – Mir ist nicht erinnerlich, dass die Operation formal abgeschlossen wurde." Das kann nicht die Wahrheit sein.

 

Hartfrid Wolff fragt den Geheimdienstmann, was er unter "Untergrund" verstehe. Ein Synonym für "im Verborgenen", antwortet der.

Hartfrid Wolff, FDP: "Ein Trio, das von der Polizei gesucht wird, gleichzeitig in Urlaub fährt, Urlaubsbekanntschaften macht – würden Sie da von Untergrund sprechen?"

Thomas Sippel, Expräsident des LfV Thüringen: "Sie sind in sozialen Kontakten aufgetreten, richtig, aber mit falschen Identitäten. Insofern war das schon Untergrund."

Wolff: "Sie haben Bekennervideos an Kameraden verschickt. Trotzdem soll es nur ein Trio gewesen sein?"

Sippel: "Das ist spekulativ."

Wolff: "Es gibt eine Liste von 100 Personen, die Wissen über die drei oder Kontakt zu ihnen gehabt haben können."

Sippel: "Ich kenne den Ermittlungsstand nicht."

Wolff: "Es geht um Ihre Erkenntnisse aus den Jahren 2000 bis 2012."

Sippel: "Dass ein Unterstützerumfeld existiert hat, ist plausibel. Aber nicht 100 Leute."