Berlin: Bock auf Zopf und Molotov

Erstveröffentlicht: 
06.05.1996

Die Hauptstadt im Fadenkreuz des Verbrechens: Internationale Banden, Ganoven und Chaoten haben Berlin fest im Griff. Die Polizei ist ohne Chance

Verloren hocken die letzten drei Zecher in der Moabiter „Nord West Oase“. Noch eine Runde „Molle“ und „Mampe“. Über dem Tresen der Eckkneipe tickt die Uhr. Es ist Nacht, fünf vor zwölf, als die alte Tür quietschend aufspringt.
Fünf Maskierte, bewaffnet mit Schwertern und Revolvern, umringen Wirtin Christa Hempel, rammen ihr eine Pistole an die Schläfe. Die Gangster zwingen die 54jährige, die Kasse zu öffnen, Ringe und Uhr abzuziehen. Die Gäste müssen ihre Geldbörsen herausrücken und sich flach auf die Erde legen. Dann prügelt der Anführer Christa Hempel mit der Pistole auf den Kopf. Bewußtlos sackt sie zu Boden.

Berlin brutal. Seit dem Fall der Mauer ist die Kriminalität in der deutschen Hauptstadt explodiert. Alle 54 Sekunden passierte 1995 eine Straftat. Über 580 000 Fälle registrierte die Polizei. „Berlin ist eine europäische Metropole des Verbrechens“, sagt Eberhard Schönberg, Vorsitzender der Berliner Gewerkschaft der Polizei (GdP).

Traurige Bilanz. Schon 1994 wurden an der Spree 550 843 Straftaten begangen – mehr als in Hamburg, Frankfurt a. M. und München zusammen. Starben dort im selben Jahr 192 Menschen eines gewaltsamen Todes, wurde in Berlin 245mal gemeuchelt und gekillt. London zählte gerade 167 Tötungsdelikte. Keine deutsche Stadt verzeichnete 1994 mehr schwere Körperverletzungen und Raubüberfälle als die Hauptstadt. Nirgends ist der Nährboden fruchtbarer für Terroranschläge linker Chaoten und Krawalle „autonomer“ Gruppen (siehe Kasten S. 62)

Berlin ist auch die Stadt der spektakulären Verbrechen. Hier ermordete Serienmörder Thomas Rung sieben Menschen, trieb Kaufhauserpresser Arno „Dagobert“ Funke sein Unwesen und überfielen die Tunnelgangster die ZehlendorferCommerzbank.

Die alltägliche Gewalt hat selbst bislang verschlafene Ecken wie das Arbeiterviertel Moabit erreicht. „Es ist furchtbar“, stöhnt Christa Hempel. In der Wiclefstraße ist die Kneipe „Lampenputzer“ schon zweimal überfallen worden, auch das Restaurant „Bierstübchen“ und das „Waldeck“. In der „Nord West Oase“ wurde eingebrochen, Christa Hempels Wohnung gleich dreimal geknackt. Am Abend trauen sich die Anwohner kaum am Spielplatz vorbei, weil dort „Jugendbanden mit Bullterriern und Rottweilern“ Angst und Schrecken verbreiten.

Ende eines Idylls – Ost wie West. „Zehn Morde im Jahr, das war bei uns schon enorm“, erinnert sich Rüdiger Geipel, letzter Sprecher der Ostberliner Volkspolizei. Auch der freie Westen wurde erst nach der Maueröffnung zum Gangster-Eldorado.

Sonntagsreden aus dem Senat. „Berlin ist nicht die Hauptstadt des Verbrechens“, wiegelt Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) ab. Angesichts neuer Zahlen flüchtet sich der Ex-General in die Statistik. Danach liegt Berlin im Verhältnis von Straftaten zu Einwohnern nur an dritter Stelle – hinter Frankfurt/Main und Hannover.

Schönbohms Worte von der Normalität einer Großstadt sind auch an Bonn adressiert. Aus dem idyllischen Rheinstädtchen rauscht ab der Jahrtausendwende eine Flut von Politikern, Beamten und Verbandsmitarbeitern heran. Sie alle suchen ein sicheres Plätzchen für ihre Familien im geplanten Metropolis an der Spree. Horrormeldungen stören die Vision einer modernen, lebenswerten Super-Hauptstadt mit Bürotürmen, Boulevards und sauberen Grünanlagen.

Die Realität ist schmutziger. Denn neben der Alltäglichkeit von Morden, Raubüberfällen, Jugendbanden, Menschenhandel und Drogenverbrechen saugt sich die Organisierte Kriminalität (OK) wie eine Krake fest. Finstere Banden, vorwiegend aus Osteuropa, nutzen die Hauptstadt als ein „Mafiopolis“ für ihre internationalen Geschäfte. „Eine erschreckende, den inneren Frieden der Stadt bedrohende Entwicklung“, gesteht auch Innensenator Schönbohm. Sein Vorgänger Dieter Heckelmann war deutlicher: „Berlin ist für die Organisierte Kriminalität aus dem Osten der erste Platz.“

Der russische Bär würgt den Berliner Artgenossen. Zehn Banden aus der GUS haben ihre Claims in der Hauptstadt abgesteckt. Die einflußreichsten sind nach Recherchen des Autors und Experten Jürgen Roth („Die Russen-Mafia“) die Dolgoprudnenskaja, die Puschkinskaja, die Tschetschenische Gruppe, die Djibu und die Solnzewskaja (siehe Kasten S. 56). 15 rote Paten sollen in Deutschland residieren – allein vier davon in Berlin, „der deutschen Zentrale der Russen-Mafia“ (Roth).

Eine Gangster-Aristokratie aus dem Osten hat die Millionen-City, inmitten der Wirrnis von Aufbruch und Umbau, zum Marktplatz der Unterwelt erkoren. Alle Welt investiert zwischen Kurfürstendamm und Alexanderplatz – auch die Desperados aus dem untergegangenen Sowjetreich. 1,3 Milliarden Dollar sollen kriminelle Banden in den vergangenen vier Jahren nach Deutschland geschafft haben. Laut Jürgen Roth 20 Prozent davon nach Berlin.

Am 22. April 1995 landeten drei ehrenwerte Herren, aus Wien kommend, auf dem Flughafen Tegel. Im Hotel „Holiday Inn“ nahe dem Ku´damm wurden Viktor A., Sergej M. und Arnold T. von Berliner „Geschäftsfreunden“ empfangen. Verdeckte Ermittler fotografierten Küßchen und Umarmungen. Dann verschwanden die Bösewichter in zwei Luxussuiten. Die Fahnder sind sicher: ein Gipfeltreffen russischer Mafia-Paten.

„Wir bewegen uns auf die Verhältnisse von Palermo zu“, fürchtet der Berliner Landesvorsitzende vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Holger Bernsee. Mafia-Spitzen unterwanderten verstärkt die legale Wirtschaft, um illegale Gelder zu lenken. Wenn die Entwicklung anhalte, sei nicht auszuschließen, daß sich OK, Politik und Wirtschaft wie in Italien verschmelzen. Hans-Ludwig Zachert, BKA-Präsident im Ruhestand, sieht in der OK gar das „zentrale Sicherheitsproblem am Ende des Jahrtausends“. Und: „Meine größte Sorge ist Berlin.“

Begonnen hatte der Alptraum in den 80er Jahren. Als Quartiermacher der Russenmafia gelten seit langem in Berlin ansässige exilrussische Geschäftsleute und Ex-Rotarmisten. Sie übernahmen an der Charlottenburger Kantstraße – wegen ihrer russischen Bevölkerung in den 20er Jahren „Charlottengrad“ genannt – etliche Spielsalons. Nach dem Fall der Mauer drängten polnische und russische Händler mit billiger Elektronik auf die Parallel-Meile zum Ku´damm.

Oft mit obskuren Methoden. „Ich beobachtete, wie einem Ladenbesitzer über 30 000 Mark angeboten wurden, um in den Mietvertrag zu kommen. Der Mann hatte das Geld bündelweise in einer Plastiktüte dabei“, erinnert sich Charlottenburgs Wirtschaftsstadtrat Helmut Heinrich.

Inzwischen haben sich nach Schätzung von Uwe Schmidt, Leiter des Referats organisiertes Verbrechen im Landeskriminalamt (LKA), „mindestens 100 GmbHs, die als Im/Exportgeschäfte oder Fortbildungseinrichtungen firmieren“, in der Hauptstadt niedergelassen. Nach Einschätzung des Bundeskriminalamts (BKA) wickeln Russengangster in getarnten Klitschen schmutzige Geschäfte von Prostitution über Drogenhandel bis zu Waffendeals ab. LKA-Mann Schmidt: „Über Ein-Zimmer-Büros werden Millionen umgeschlagen, mit fingierten Firmenseminaren erhielten Verbrecher aus der GUS legale Einladungen und Visa zu Hunderten.“

Russische Banden kontrollieren nach Polizeischätzungen inzwischen etwa 90 Prozent der Berliner Glücksspielhöhlen. Trotz mäßigen Betriebs melden die Inhaber der Lasterhöhlen dem Finanzamt oft Umsätze von mehr als 200 000 Mark. Für Fahnder ein deutlicher Hinweis auf Geldwäsche.

Kantstraßen-Kaufleute, die anonym bleiben wollen, berichten von Übernahmeangeboten bis zu einer Million Mark. Kleingewerbe, Bäcker und Schuster wanderten bereits ab. Der Besitzer eines Porzellanladens erhängte sich – kurz nachdem er aus dem Geschäft gedrängt worden war. Ein Modedesigner fand in seinen Mülltonnen Maschinengewehre.

Die Liste der Mafia-Morde ist lang. 1991 lieferten sich Profi-Killer auf dem feinen Fasanenplatz vor der Pizzeria „Da Gianni“ eine wüste Schießerei. Drei Russen und ein unbeteiligter Deutscher brachen im Kugelhagel zusammen. Der Georgier Tengis M. entkam. Zehn Monate später fand die Polizei seine Leiche in einem Amsterdamer Kanal.

Patronen statt Druschba. Seit 1993 fielen mehr als ein Dutzend Russen in Berlin Auftragsmorden zum Opfer. Darunter die Ikonenhändler Witalij L. und Avraham G. Die Killer von Witalij L. zwangen ihr Opfer, sich hinzuknien und erledigten ihren Auftrag per Genickschuß. Ein Fahnder: „Die ballern hier herum wie im Kaukasus.“

Tschetschenische Killer, berüchtigt für ihre Brutalität, seien besonders gefragt, beobachtet OK-Experte Uwe Schmidt. „10 000 Dollar, so billig begeht sonst niemand einen Auftragsmord.“ Allein die Drohung mit den kriegerischen Knechten bewirke „im Inkasso-Geschäft wahre Wunder“.

Gegen 2139 Tatverdächtige aus den GUS-Staaten und dem Baltikum ermittelte das LKA 1995. Immer häufiger stießen die LKA-Fahnder auf riesige Geldbeträge „ohne einen Dunst von Ahnung über das Grunddelikt“. Denn die Paten agieren auch von außerhalb: Moskau, St. Petersburg, New York oder Wien.

Die Grausamkeit osteuropäischer Verbrechersyndikate flößt selbst altgedienten Heroen der Berliner Szene Respekt ein. „Wenn einer früher eine Waffe hatte, war das schon was Besonderes“, erinnert sich Steffen J. in einem seiner Striplokale am Stuttgarter Platz an die „ruhigen Vorwendezeiten“.

Doch seit Rotarmisten russische Armeebestände in der Stadt verramschten, ist der „König vom Stutti“ vorsichtig geworden. Damit sein Markenzeichen, die rote Lederjacke, nicht noch roter wird, bewacht ein Heer von Bodyguards die Clubs wie Ritterburgen. Bevorzugt in Frühwarn-Lage im ersten Stock: „Mit Schießereien und fieser Brutalität gegenüber den Mädchen drängen die Russen auf den Markt.“ Noch sei der „Stutti feste deutsch“ und der Strich der Oranienburger Straße im Stadtteil Mitte in der Hand der alten Ostberliner Türsteher-Szene.

Die Grabenkämpfe laufen. Auch Türken und Ex-Jugoslawen versuchen, Fuß zu fassen. „Das entwickelt sich tendenziell wie in New York, wo bestimmte ethnische Gruppen bestimmte Branchen beherrschen“, sagt Rotlicht-Spezialist Andreas Reinhardt vom LKA.

So teilen sich bereits südamerikanische, kurdische und libanesische Gruppen den harten Drogenmarkt, Vietnamesen kontrollieren den illegalen Zigarettenhandel (siehe Kasten S. 54). Reinhardt: „Noch haben wir keine spektakulären Zuhälterkriege. Anders als im Frankfurter Sperrbezirk kann sich die Prostitution dezentral über die gesamte Stadt verteilen.“

Unter den mehr als 7000 Prostituierten auf den Straßen und in 450 Bordellen nehmen Frauen aus Osteuropa seit kurzem vor der Schlagermarke „Fernost“ den ersten Platz ein. „Alles ist besser als die Armut in der Ukraine“, sagt die 23jährige Jana M., die mit ihrer Arbeit am „Stutti“ Familie und Kinder in Kiew ernährt. 1994 ermittelte das LKA noch in 94 Fällen wegen Menschenhandels, 1995 waren es schon 147 – „damit liegen wir weit vorn“, so Reinhardt.

Die neuen „Kinder vom Bahnhof Zoo“ stammen auch aus dem Osten. Rund 3000 polnische Stricher, meist Minderjährige, verkaufen sich dort in einem Jahr (FOCUS 33/95). Wie der 19jährige Tomek aus Danzig. Seit zwei Jahren bietet er sich an, macht die schnelle Mark am Strich der Jeben-Straße: „Ich spare für einen Billard-Salon zu Hause.“

Wenige Meter weiter kämpfen Hütchenspieler aus Polen und Ex-Jugoslawien um die besten Plätze am Ku´damm. Gutorganisierte Banden aus Peru und Rumänien machen in den Buslinien, in der U-Bahn und auf belebten Plätzen lange Finger – seit 1989 hat sich die Zahl der Taschendiebstähle mehr als verfünffacht.

Jeder achte in Deutschland gestohlene Wagen verschwindet in Berlin – einmal sogar der Dienstwagen des Polizeipräsidenten. Die Hauptstadt gilt als Umschlagplatz nobler Karossen gen Osten. Auf jeden siebten Einwohner kommt mittlerweile ein Delikt – mehr als in jedem anderen Bundesland.

Bandenkriminalität zieht sich durch Berlin wie ein roter Faden. Im Einzelhandel, wo täglich Waren im Wert von einer halben Million Mark verschwinden, läuft die jüngste Masche: Seit Dezember plünderte eine „Blitzbande“ aus Rumänien zehn große Kaufhäuser mitten in der City. Mit Hämmern und Gullydeckeln zertrümmern die Räuber nachts Schaufenster und Vitrinen, raffen die Auslagen der Juwelierabteilungen minutenschnell in Rucksäcken zusammen. Bisherige Beute: mehr als 1,3 Mio. Mark.

Immer hilfloser dagegen erscheint der mit 30 000 Mitarbeitern stark verwaltungslastige Polizeiapparat. Jeder zweite Täter kommt davon – die Aufklärungsquote blieb 1995 bei 43 Prozent. Eine miserable Ausrüstung bemängelt Eberhard Schönberg (GdP). 193 00 Schupos und Kripobeamte teilen sich 400 Computer und 1500 kugelsichere Westen. 450 Ladas und Barkas aus DDR-Beständen sind noch immer im Einsatz. Zahlreiche Fahrzeuge hätten einen Kilometerstand von mehr als 200 000. Schönberg: „Irgendwann laufen wir zu Fuß.“

Die Kleinkriminalität werde nur noch verwaltet, lästert Schönberg. Dennoch sollen nächstes Jahr 88 Millionen Mark an „Gebrauchsartikeln“ eingespart werden. Eine geplante Polizeireform sieht den Abbau von 2000 Stellen vor.

„Weil die Polizei pleite ist, blüht und gedeiht die Organisierte Kriminalität“, meint Autor Jürgen Roth. Es fehlten die Möglichkeiten, in internationale Wirtschaftsverflechtungen einzudringen. „Die Mafiabosse fliegen um die Welt – bis der Dienstreiseantrag der Fahnder genehmigt ist, sind sie längst zurück.“ BDK-Mann Holger Bernsee kritisiert „falsche Prioritäten“. Die Polizei kümmere sich mehr um Bagatelldelikte als um die Mafia. Der Kriminale fordert mehr OK-Spezialisten. „Mit Streifenbeamten fängt man keine Mafiosi.“

Ganz oben auf dem Wunschzettel der Berliner Ermittler steht auch der Lauschangriff. Der Vorsitzende der Vereinigung der Berliner Staatsanwälte, Hans-Jürgen Fätkinhäuer, verlangt eine „verbesserte Kronzeugenregelung und Zeugenschutz nach dem Vorbild der USA“. OK-Leiter Uwe Schmidt sieht besondere Dringlichkeit im von Baden-Württemberg eingebrachten Gesetzesentwurf zur Umkehr der Beweislast: Nicht mehr die Ermittler, sondern die Eigentümer müßten den Nachweis über Gelder ungeklärter Herkunft führen. Zudem will Schmidt weiter aufrüsten: „50 Mann mehr, aber Spezialisten.“

Ob damit der Kampf um das organisierte Verbrechen in Berlin zu gewinnen ist, bleibt fraglich. „Das ist wie General Westmoreland an Präsident Johnson“, sagt Alt-Militär Schönbohm: „Gebt mir 100 000 Mann mehr, und ich habe Vietnam.“

Von verlorenen Kriegen aber wollen die Berliner nichts wissen. Der ganz normale Wahn vollzieht sich abseits der Schlagzeilen: Der Skatverein und die Häkelrunde in der Moabiter „Oase“ kommen abends nur noch mit Klopfzeichen rein. Stammgast „Klüffe“, auf der Straße schon dreimal zusammengeschlagen und ausgeraubt, hat sich jetzt einen 38er besorgt. „Ohne den jeh ´ick nich´ mehr aus´m Haus.“

Die Kriminalität verursachte 1995 in Berlin einen Schaden von 2,9 Milliarden Mark 760 Millionen mehr als 1994

Täglich in Berlin: 14 Brandstiftungen

Wirtschaftsdelikte 1995: 7280 (+ 37 %)

5395 Extremisten leben in Berlin

Berliner Taschendiebstähle 1995: 26 000

GANGSTER´S PARADISE

In Berlin registrierte die Polizei vergangenes Jahr:

alle 54 Sekunden eine Straftat

alle 9 Minuten eine Sachbeschädigung

alle 15 Minuten einen Einbruch

alle 20 Minuten einen Taschendiebstahl

alle 23 Minuten einen Kfz-Diebstahl

alle 48 Minuten einen Raubüberfall

alle 72 Minuten ein Wirtschaftsdelikt

alle 67 Stunden einen Mord

DER MACHTKAMPF DER ZIGARETTENMAFIA

Die Täter kamen im Morgengrauen. Mehrere Schüsse durchsiebten den Zigarettenhändler Van Nam Phan vor der Imbißbude „Star Burger“ in der Prenzlauer Allee. Der 41jährige Vietnamese war Mitte April das 28. Opfer des brutalen Machtkampfs der „Zigarettenmafia“ in Berlin.

Der Krieg. Vietnamesen richten Vietnamesen hin. Sie werden erschossen, aufgeschlitzt, gehängt, geköpft mit dem Samuraischwert. Es geht um Marktanteile in einem Millionengeschäft.

Wie einst die Schnaps-Mobster in Chicago beliefert eine AsiaMafia ihre Kunden mit steuerfreiem Suchtstoff. An vielen Straßenecken warten die Verkäufer. Ein Standplatz kostet 30 000 Mark.

Die Berliner Sonderkommission „Tabak“ registrierte vergangenes Jahr allein 111 schwere Straftaten und zwölf Exekutionen. Die Soko beschlagnahmte 85 Millionen Zigaretten im Wert von 21 Millionen Mark. Seit 1992 verhafteten die Fahnder 1250 illegale Händler.

Doch ihre schlimmsten Feinde sind die Mafia-Killer. Nicht selten kommen sie für ihren Job illegal über die Grenze.

BLEIHALTIGE LUFT

IM VERGLEICH mit London und Paris werden in Berlin die meisten Verbrechen begangen

BERLIN | 3,5 Mio. Einwohner | 581 000 Straftaten 1995 | Straftaten pro 1000 Einwohner: 166

LONDON | 7,0 Mio. Einwohner | 829 000 Straftaten 1995 | Straftaten pro 1000 Einwohner: 118

PARIS | 10 Mio. Einwohner | 1 028 000 Straftaten 1995 | Straftaten pro 1000 Einwohner: 103

DIE BERLINER POLIZEI FÄHRT HINTERHER

ANGESTELLTE

Insgesamt (inkl. Verwaltung) 30 000

davon Frauen (21,7 %) 6 500

Schutzpolizei 16 400

Kripo 2 900

Objektschutz 2 400

AUSSTATTUNG

Pkws (davon 450 Ladas 1 231

und Barkas aus DDR-Beständen)

Kleinbusse, Gruppen- 1 142

und Mannschaftswagen

Motorräder 246

Pferde 63

Fahrräder (Mountainbikes) 30

Computer (davon 50 „mobil“) 400

BANDEN, BOSSE, BANKGESCHÄFTE

Mindestens zehn organisierte Verbrecherbanden aus der GUS betreiben auch in Berlin ihr schmutziges Geschäft. In seinem Buch „Die Russen-Mafia“ nennt Experte Jürgen Roth die fünf gefährlichsten Gangster-Clans der Hauptstadt:

TSCHETSCHENSKAJA OBSCHINA

Die Tschetschenen betreiben Autohandel, Banküberfälle, Erpressungen, Waffenhandel, Raubüberfälle, Wirtschaftsverbrechen, Geiselnahmen. Die Bosse: Musa Wachitowitsch Talagow und Nikolaj Saidaljewitsch Suleimanow.

DJIBU

Die Ukrainer beschränken sich aufgroßangelegte Diebstähle und Erpressungen.

DOLGOPRUDNENSKAJA

Die Gruppe mit Zentrale in Moskau hat sich auf Schutzgelderpressung und die Bewachung von Unternehmen aller Art spezialisiert. Außerdem: Mord, Geldwäsche, Wirtschaftsverbrechen. Anführer: Sergej Iwanowitsch Bogutenok

SOLNZEWSKAJA

Etwa 5000 Mitglieder, oft guttrainierte Ex-Sportler, betreiben Drogen- und Waffenhandel, Erpressungen sowie die Kontrolle im Rotlichtmilieu. In Moskau soll die Bande bereits mehrere Banken und Hotels besitzen. Chefs: Sergej Iwanowitsch Timofejew, Wladimir Anatoljewitsch Egorytschew.

PUSCHKINSKAJA

Der Clan betreibt Schutzgelderpressung und Kinderentführungen. Anführer: Jakob Benjaminowitsch Jusbaschew.

BOCK AUF ZOFF UND MOLOTOW

Alle Jahre wieder. Vergangene Woche um den Mai-Feiertag rotteten sich linke Chaoten in den Berliner Bezirken Kreuzberg und Prenzlauer Berg zusammen. Autos brannten, Glas splitterte, Gewalttäter griffen Polizisten mit Steinen und Leuchtspurmunition an. Sogenannte „Autonome“ hatten wieder Bock auf Zoff und Molotow. Die Bilanz zweier Krawallnächte: mehr als 80 verletzte Beamte, über 200 Festnahmen, Sachschaden in sechsstelliger Höhe. Mai-Festspiele nennen das die Randaleros.

Berlin ist ein Eldorado für Linksextremisten. Rund 1200 gewaltbereite „Autonome“ zählt der Verfassungsschutz, soviel wie in keiner anderen deutschen Stadt. Den Behörden gelingt es nicht, den Sumpf trockenzulegen. Die Anarchos richteten schon Millionenschäden an. „Hauptstadt Kreuzberg“, höhnte einst Bayerns früherer Ministerpräsident Max Streibl.

Volkssport Abfackeln. Lokale Feierabendterroristen wie die Gruppe „Klasse gegen Klasse“ setzen Autos in Brand, werfen Handgranaten in Restaurants, bedrohen Mieter teurer Dachgeschosse in Kreuzberg. Unter den Opfern war auch Berlins Ex-Bürgermeister Walter Momper (SPD). Ziel der Revoluzzer: „Wir werden erst dann glücklich sein, wenn der letzte Kapitalist mit den Gedärmen seines letzten Handlangers aufgehangen wurde.“

In den vergangenen Wochen häuften sich die Attentate. „Klasse gegen Klasse“ verübte einen Sprengstoffanschlag gegen das Steglitzer Haus von Klaus Adomeit, Jura-Professor der Freien Universität. Sein „Vergehen“: Er hatte die Kündigung von Tarifverträgen für rechtens erklärt. Drei Luxusautos gingen in Flammen auf, weil sie in der Nähe seines Hauses parkten.

Ende April warfen durchgeknallte Sympathisanten der Terrorgruppe „Komitee“ eine Brandbombe auf einen Bauwagen in Kreuzberg. Im April 1995 hatte „Komitee“ vergeblich versucht, das Abschiebegefängnis Grünau mit 100 Kilo Sprengstoff in die Luft zu jagen.

Mord und Drogen in der Wagenburg. Die Situation um die zehn Ansiedlungen spitzt sich zu. Dort leben „Rollheimer“ in alten Wohnwagen, Karren und ausrangierten Bahnwaggons am Rande der Gesellschaft.

Anarchie und Gewalt häufen sich auf dem Gelände zwischen Eastside-Gallery und Spreeufer, wo 200 „Rollheimer“ inmitten Müllhaufen und dicken Öllachen vegetieren. Ende März erstach ein Bewohner Drogenjunkie Andrej L., 19. Fünf Tage später wurde ein 18jähriger Tourist mit glühenden Eisenstangen gefoltert. Bei einer Razzia fand die Polizei Heroin, Kokain und LSD.

Die Behörden schätzen, daß die Hälfte aller Straftaten um den nahen Hauptbahnhof auf das Konto der „Spree-Chaoten“ geht. Die Sicherheitsbehörden nähern sich der Resignation. Ein Sprecher: „Die Verfolgung der Täter in ihr Dorf ist nur mit einem Großaufgebot möglich.“

KIDS BRUTAL: QUÄLEN STATT KLOPPEN

Vor der Gedächtniskirche umringen sechs deutsche, türkische und afrikanische Mädchen eine junge Frau. Drohen mit dem Butterfly-Messer, fordern Geld. Jüngstes Phänomen auf Berlins Straßen: Mädchenbanden. Brutal schlagen sie ihre Opfer zusammen. Verbrennen sie mit Zigaretten, reißen ihnen Turnschuhe von den Füßen. In Reinickendorf begeht eine Gruppe von Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren zwölf Raubüberfälle – „aus chronischem Geldmangel“.

Die Zahlen sind erschreckend. Drei von vier Raubüberfällen auf Berlins Straßen werden von Jugendlichen verübt, jeder vierte Tatverdächtige insgesamt war ein Jugendlicher. Eine Umfrage an drei Schulen ergab, daß die Hälfte der Pennäler bewaffnet zum Unterricht erscheint.

Vom „Krieg auf dem Pausenhof“ berichten Berliner Zeitungen. Nach Massenschlägereien und Schüssen aus einer Gaspistole durchsuchte die Polizei Ende März die Schlesien-Oberschule in Charlottenburg. Ergebnis der Razzia: Die Beamten beschlagnahmten Schreckschußpistolen, Knüppel, Messer.

„Die Kindergewalt steigt dramatisch an“, sagt Berlins Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD). Als Ursache macht sie „Frustration und eine nie gekannte Armutsentwicklung“ aus. In der Tat: Nirgends wurden in den vergangenen Jahren Ausbildungs- und Arbeitsplätze so drastisch abgebaut wie in Berlin.

Die Folge: „Der Umgang auf den Straßen ist häßlich geworden“, klagt Jugendgerichtshelfer Peter Reinecke. „Das ist nicht mehr die normale Klopperei auf dem Schulhof.“ Besiegte werden gequält, Bestohlene verprügelt.

Gang-City Berlin. Über 50 feste Jugendbanden und 200 „Spontangruppen“ zählt die Polizei. Die Zahl ihrer Straftaten explodierte vergangenes Jahr um mehr als 50 Prozent auf 11 527. Viele tragen die Gewalt im Namen: „Turkish Fighters“, „Los Diablos“, „It´s Crime Time“.