Neonazis werden immer dreister

Erstveröffentlicht: 
11.12.2011

Von Uli Kreikebaum und Detlef Schmalenberg,

In Nordrhein-Westfalen gibt es laut Verfassungsschutz etwa 640 aktive Neonazis, vorwiegend organisiert in Dortmund, Köln, im Aachener Land und im Rhein-Sieg-Kreis. Die Liste ihrer gewalttätigen Übergriffe ist lang.

 

Denis U., der auf der Anklagebank sitzt, weil er einen Polizisten mit einer Bierflasche niederstreckte und mit seinen Kameraden eine antifaschistische Versammlung aufmischte, sieht aus wie aus dem Ei gepellt. Weißes Karohemd, teure Lederjacke, sorgsam frisiertes Haar: ein Schwiegersohntyp wie aus dem Bilderbuch. Der 25-Jährige ist Vater einer zweijährigen Tochter – und Führungskader der rechtsextremen Kameradschaft Aachener Land (KAL). Er sitzt in seiner Berufungsverhandlung vor dem Aachener Landgericht; der Staatsanwalt hat mehr, die Verteidigung weniger als jene 22 Monate Haft gefordert, zu denen er in erster Instanz verurteilt wurde. Denis U. schweigt. Auch ein letztes Wort, vielleicht der Reue, kommt ihm nicht über die Lippen. Vielleicht hat seine Anwältin ihm eingetrichtert, still zu bleiben: In der ersten Verhandlung hatte der Neonazi eines der Opfer verhöhnt. Beim Richter kam das nicht gut an.

 

Frau R. sitzt fünf Meter von U. entfernt unter den Zuschauern. Sie weiß nicht, ob er dabei war, als KAL-Anhänger ihrem Sohn mit dem Tode drohten, Parolen auf den Wohnwagen sprühten und mit Stahlmunition auf die Hauswand schossen, weil ihr Junge einmal bei einer Anti-Nazi-Demonstration mitgegangen war. Aber sie braucht die Konfrontation als Therapie. Frau R. spricht mit der Mutter eines Nazis aus der Nachbarschaft und fragt: Warum? Sieht sie einen Rechtsextremen, geht sie auf ihn zu, erzählt ihre Geschichte und fragt: Warum? Sie starrt Denis U. an, kaut nervös an ihrem Daumennagel. Dabei, sagt Frau R. „sehen die Fingernägel jetzt zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder einigermaßen normal aus“.

 

Zwischen Köln und Aachen liegen 75 Kilometer. Die Kontakte der Kameradschaft Aachener Land zu den Kölner Rechtsextremen sind eng. Man geht gemeinsam auf Veranstaltungen, plant Aktionen, hält Kontakt. Dies berichten Insider der Szene.

 

In Nordrhein-Westfalen gibt es laut Verfassungsschutz etwa 640 aktive Neonazis, vorwiegend organisiert in den Kameradschaften Dortmund, Aachener-Land, Walter Spangenberg (Köln) und Rhein-Sieg. Darüber hinaus gibt es losere Zusammenschlüsse von Autonomen Nationalisten, die zumeist eine eigene Internetpräsenz haben. Zudem werden der NPD 750 Mitglieder zugerechnet, der mittlerweile aufgelösten DVU etwa 700, dem „Ring Nationaler Frauen“ etwa zehn und den „Jungen Nationaldemokraten“ circa 30 Mitglieder. Etwa 800 Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum gelten als gewaltbereit.

 

Die Schilderungen gewalttätiger Übergriffe vor allem gegen politisch Linksstehende häufen sich. Nach Berlin, München und dem Ruhrgebiet wurde die neue Neonazi-Generation vor etwa fünf Jahren auch im Großraum Köln zum Problem. Gewalt ist zwar nicht an der Tagesordnung; es gibt keine Mörderbande, die nur annähernd vergleichbar wäre mit dem Zwickauer NSU-Trio.

 

Aber die rechtsextremen Aktivisten wurden in den vergangenen Jahren immer dreister. Menschen wurden bedroht, es kam zu Schlägereien, nachts klebten und sprühten die meist jugendlichen Neonazis ihre Parolen an Hauswände und öffentliche Einrichtungen. Die Aktivitäten der regionalen Neonazi-Gruppen kämen meist „in Wellenbewegungen“, sagt der Kölner Oberstaatsanwalt Rainer Wolf. Auf einer regionalen rechtsextremistischen Homepage heißt es: „Und werden die Zeiten härter, gehen wir in den Untergrund!“

 

Anzeichen dafür gäbe es momentan nicht, aber das Geschehen könne „jederzeit in erhebliche Auseinandersetzungen eskalieren“, sagt Manfred Wieczorek vom Bonner Staatsschutz schon im vergangenen Jahr gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Man dürfe nichts verharmlosen oder unterschätzen: „Situativ bedingt, wenn sich das hochschaukelt, ist im Extremfall alles möglich.“ Drastischer noch formuliert es Neonazi-Forscher Alexander Häusler von der Fachhochschule Düsseldorf, der für eine Studie über die Bewegung mit Aussteigern gesprochen hat. Innerhalb der Szene habe sich „eine Spirale der Gewalt-Fantasie in Gang gesetzt“, so Häusler. Intern werde „massiv über Gewaltanwendung auf höherer Stufe diskutiert, bis hin zur Benutzung von Waffen“.

 

Nicht jeder Angriff wird auch angezeigt


Das nordrhein-westfälische Innenministeriums verzeichnet 648 Straftaten mit rechtsextremistischen Hintergrund in Köln zwischen 2005 und 2010 – gemessen an der Einwohnerzahl, ein durchschnittlicher Wert. Zum Vergleich: In der 250.000-Einwohner-Stadt Aachen, wo die Kameradschaft von Denis U. ihr Unwesen treibt, wurden 493 Straftaten registriert. Zusammengerechnet im Regierungsbezirk, sind es deutlich mehr als 1500. Aktuelle Daten für 2011 liegen noch nicht vor.

 

Bei den Übergriffen der letzten fünf Jahre handelte es sich in erster Linie um Sachbeschädigungen und sogenannte Propagandadelikte wie nächtliche Hakenkreuzschmierereien. Oder um Volksverhetzungen wie rassistische Äußerungen und Gewaltaufrufe gegen ethnische oder religiöse Gruppen.

In Köln, Bonn, Leverkusen und Aachen gab es zusammen aber auch 87 von der Polizei registrierte Körperverletzungen, 13 Menschen wurden massiv bedroht oder genötigt, zweimal kam es zu Raub- oder Erpressungsdelikten. Die Dunkelziffer könnte hoch sein. Zum einen, weil die Übergriffe irrtümlicherweise nicht als rechtsextrem motiviert eingestuft werden. Zum anderen betonen Antifaschisten immer wieder, Angriffe schon deshalb nicht zu melden, weil die beschuldigten Rechtsextremen dann Akteneinsicht und Zugang zu privaten Daten bekommen.

Bei Demonstrationen eskaliert die Gewalt häufig. Bürgerkriegsähnliche Zustände waren am 9. November 2007 in Leverkusen zu besichtigen. Nach einer Gedenkdemonstration zur Reichspogromnacht am 9. November 2007 wurden Demo-Teilnehmer am Bahnhof Opladen von 20 vermummten Rechtsextremisten überfallen und über die Gleise gejagt. Die jungen Männer setzten Reizgas ein und warfen mit sandgefüllten Bierflaschen. Die damals 24 Jahre alte Heike (Name geändert) erlitt schwere Kopfverletzungen. Mit zertrümmertem Nasen- und Jochbein, zerfetzter Oberlippe und Nase und einem lädierten Kieferknochen musste sie ins Krankenhaus gebracht werden. Mehrfach operiert, wurden die zerstörten Knochen mit Schrauben und Stahlplatten fixiert. Ihre rechte Gesichtshälfte war taub, weil ein Gesichtsnerv verletzt wurde.

 

„Als ich von der Flasche getroffen wurde, dachte ich, jetzt ist dein Gesicht Brei“, sagte die junge Frau etwa ein Jahr nach dem Überfall. Sie hat Panik in den Augen, als sie von dem Tag berichtet, der ihr Leben zerstörte. Sie habe Angstzustände, wache nachts oft schweißgebadet auf, erzählt sie. Derart traumatisiert will und kann sie heute überhaupt nicht mehr über das Geschehen sprechen.

 

Durchgeführt wurde der Überfall, bei dem bis heute noch kein Täter ermittelt werden konnte, vermutlich von sogenannten Autonomen Nationalisten (AN): jugendliche Tarnkappen-Neonazis, die die Kleidung der Linken tragen und deren Symbole kopieren. Der klassische Neonazi mit Glatze, Bomberjacke, Springerstiefeln oder Braunhemd ist selten geworden. Heute sehen viele Sympathisanten so harmlos aus wie Denis U. Die neuen Nazis plündern die Lebenswelt ihrer linken Gegner: vom Che-Guevara-Button über Baseballkappen, XXL-Hosen, T-Shirts mit antikapitalistischen Sprüchen bis hin zu Palästinensertüchern. Bei Demonstrationen und Aufmärschen hören sie Lieder von Rio Reiser oder den Ärzten.

Anfangs wollten die Autonomen Nationalisten und die Neonazi-Kameradschaften Köln und Aachen nichts miteinander zu tun haben. Die „Neu-Nazis“ störte das damals noch vom Skinheadstyle dominierte Erscheinungsbild der anderen, umgekehrt mokierten sich die „Alt-Nazis“ an den von den Neuen genutzten Symbolen der linken Szene. Heute sind die Übergänge fließend. So wurde der jährliche Aufmarsch in Stolberg im April dieses Jahres von einem gemeinsamen Transparent beider Gruppierungen angeführt.

 

Zahlreiche Überschneidungen mit der NPD


Es gibt auch zahlreiche Überschneidungen mit der regionalen NPD. So waren führende Neonazis in leitenden Positionen in Ortsverbänden der rechtsextremistischen Partei. Der bekannte Kölner Rechtsextremist Axel Reitz, der seinen politischen Gegnern in der Vergangenheit drohte, diese würden „eines Tages auf den Marktplatz gestellt und erschossen“, kandidierte 2009 für die NPD bei der Kreistagswahl im Rhein-Erft-Kreis. Denis U. war vor zwei Jahren NPD-Kandidat für den Kreistag und Stadtrat in Düren. Obgleich sie in der Öffentlichkeit oft um Abgrenzung bemüht sei, wäre die Partei „ohne ihre Verwobenheit mit der militanten neonazistischen Kameradschaftsszene in NRW nicht denkbar und nicht einmal in Ansätzen handlungsfähig“, betont NS-Forscher Häusler.

 

Reitz ist nach eigenen Angaben nicht mehr NPD-Mitglied, schreibt aber noch monatliche Kolumnen für den NPD-Kreisverband Düren und ist eine der Leitfiguren der Szene. Und er bemüht sich seit Jahren darum, dass Kameradschaften und Autonome enger zusammenwachsen. Tatsächlich berichten Insider, dass sich Mitglieder der beiden Gruppen zunehmend auch bei internen Veranstaltungen treffen. Und sei es nur deshalb, um das Gefühl zu stärken, eine „Bewegung“ zu sein. Seit dem Frühjahr dieses Jahres tritt die regionale Neonazi-Szene, die auch bundesweit enge Kontakte zu Gleichgesinnten pflegt, verstärkt unter dem Label „Rheinland“ in Erscheinung. Als „soziales Event“ scheinen die Mitglieder dieser Gruppierungen auch gewalttätige Übergriffe auf vermeintliche politische Gegner zu verstehen. Dabei schrecken sie gelegentlich auch nicht davor zurück, Messer, Gaspistolen oder Pfefferspray einzusetzen und Eisenkugeln mit Zwillen zu verschießen. In Leverkusen und Aachen kam es in den vergangenen Jahren mehrfach zu Hetzjagden auf linke Aktivisten. „Das sind generalstabsmäßig organisierte Banden, die Opfern auflauern, auf Zuruf angreifen und sich geordnet wieder zurückziehen“, sagt Florian Schnaider von den Leverkusener Antifaschisten. Zudem seien Anhänger der linken Szene in der Fußgängerzone angesprochen worden. „Wir wissen, wer du bist und wo du wohnst. Pass bloß auf!“, würden die Fremden sagen. „Ich fürchte, dass diese Leute Informationen über uns sammeln und Namenslisten führen“, so Schnaider.

 

Bei der Berufungsverhandlung gegen Denis U. bleibt es am Ende bei 22 Monaten ohne Bewährung. U., der schon öfter strafrechtlich aufgefallen war, erbleicht nach dem Schuldspruch, seine Augen sehen jetzt wässrig aus. Der Neonazi, dem der Richter „Unbelehrbarkeit“ bescheinigt, der anderen „seine Gesinnung mit Gewalt aufdrücken“ wollte, scheint nun Mitleid zu empfinden: mit sich selbst. Frau R. hofft, dass jetzt nicht wieder Parolen gesprüht werden, wie es oft sei nach solchen Prozessen. „Der Richter ist hart geblieben“, sagt sie. „Urteile wie dieses braucht es mehr.“