[S] „Ich heiße halt nicht Kachelmann”

Erstveröffentlicht: 
08.11.2011

Justiz. Seit elf Jahren verbüßt der Stuttgarter Andreas Kühn eine Haftstrafe. Er soll der „Gorillamasken-Bankräuber” sein. Kühn beteuert beharrlich seine Unschuld. Gutachten legen nahe, dass er die Wahrheit sagt. Doch die Justiz tut sich schwer damit, ihr Urteil zu hinterfragen. Ein Gespräch über ein mühsames Verfahren mit offenem Ende.

 

Auf seinem T-Shirt steht: „Freiheit und Gerechtigkeit für Andreas Kühn.” Er trägt einen Aktenordner in den Besucherraum der Justizvollzugsanstalt Heimsheim, prall gefüllt mit Dokumenten seiner Leidenszeit. Spätestens in zwei Jahren öffnet sich für Andreas Kühn, 38, die Gefängnispforte. Doch das reicht ihm nicht.

Herr Kühn, normalerweise werden Straftäter nach zwei Dritteln der Haftzeit entlassen, Sie könnten demnach seit Mai 2009 ein freier Mann sein. Nur weil Sie nach wie vor leugnen, für vier Banküberfälle verantwortlich zu sein, sitzen Sie noch immer hinter Gittern. Warum tun Sie sich das an?

Was würden Sie an meiner Stelle machen?

Ich würde jede Tat zugeben, wenn ich dadurch aus dem Gefängnis käme.

Das mache ich auf keinen Fall. Ich werde kämpfen, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Das habe ich mir geschworen. Ich kann nicht zulassen, dass mir der Staat meine Existenz raubt und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Ich hatte mich vor meiner Verhaftung gerade als Personenschützer selbstständig gemacht, mein Geschäft lief gut. Ich wollte eine Familie gründen. Alles wurde zerstört. Warum? Weil ein Staatsanwalt dachte, er müsse mich anklagen. Weil ein Richter meinte, er müsse mich einsperren. Für eine Tat, die ich nicht begangen habe. Jemand, der wirklich unschuldig im Knast sitzt, gibt nicht auf.

Wie verlaufen Ihre Tage?

Um sechs Uhr kommt ein Wärter an die Zelle und macht eine Lebendkontrolle, schaut also nach, ob ich mich in der Nacht nicht erhängt habe. Um halb sieben beginne ich meine Arbeit im Lager; ich bin dafür zuständig, die Gefängnisbetriebe mit Material zu versorgen. Um zwölf ist Mittagessen, alle zwei Wochen gibt's das Gleiche. Dann geht's bis halb vier mit der Arbeit weiter. Um zehn vor vier ist eine Stunde Hofgang. Ab 17.15 Uhr haben wir Freizeit, da kann ich duschen, telefonieren, mir in der Gemeinschaftsküche etwas kochen oder mich mit anderen Häftlingen treffen. Um 20.30 Uhr ist Einschluss.

Wie kommen Sie mit dieser Situation klar?

Abgesehen von den beiden Gefängnisseelsorgern gibt es niemanden hier drinnen, mit dem ich regelmäßig Kontakt haben wollte. Am liebsten bin ich in meiner Einzelzelle und höre Songs von Cassandra Steen und Xavier Naidoo. Ansonsten ist der Knast für mich der reinste Psychoterror, ich lebe in ständiger Angst. Ein Gefängnis ist eine eigene Welt mit eigenen Regeln. Wer sich wie ich wehrt, wird schikaniert.

Sie haben sich etwa 120-mal offiziell beschwert, weil Ihnen nicht passt, wie man im Strafvollzug mit Ihnen umgeht.

Soll ich mir alles bieten lassen? Ein Beispiel: Ich hatte im Sommer bereits Ausgang, war fünfmal für ein paar Stunden in Stuttgart. Dann hatte ich eine Anhörung bei einer Richterin. Die Dame meinte, man könne mich nur gefesselt und in Begleitung von Wachleuten in ihr Zimmer lassen. Das hat wiederum meinen Gefängnisleiter veranlasst, mir die Hafterleichterung vorübergehend zu streichen, da ich - wenn das eine Richterin so sieht - eine Gefahr darstelle. Das ist reine Willkür.

Vor drei Jahren hat der Ulmer Anthropologe Friedrich Rösing ein Porträtfoto von Ihnen mit den Aufnahmen verglichen, die eine Überwachungskamera vom teilweise maskierten Täter gemacht hatte. Rösing kam zu dem Schluss, dass es sich um zwei Personen handelt: Haargrenze, Unterkieferwinkel, Ohren, Form der Wirbelsäule et cetera - insgesamt 17 Unterschiede hat er entdeckt.

Wäre Rösing bei meinem Prozess vor elf Jahren als Sachverständiger von meinem damaligen Anwalt gefordert worden, wäre ich freigesprochen worden. Aber damals war ich naiv, ich dachte bis zum letzten Verhandlungstag: Die Sache wird gut ausgehen, ich war's ja nicht. Ich konnte mir keinen Spitzenanwalt leisten, ich heiße halt nicht Kachelmann. Es ist grotesk, dass man als Angeklagter von solchen Dingen abhängig ist. Von Chancengleichheit kann in unserem Rechtssystem keine Rede sein.

Immerhin hat das Oberlandesgericht Stuttgart im Juli 2009 festgestellt, dass es „ausreichend ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung hinsichtlich der Banküberfälle” gebe. Seither wird geprüft, ob ein Wiederaufnahmeverfahren zulässig ist. Warum ist noch immer keine Entscheidung gefallen?

Weil das für die Wiederaufnahme zuständige Landgericht Ravensburg die Sache absichtlich in die Länge zieht. Da wird auf meine Kosten Zeit verschwendet, vielleicht in der Hoffnung, dass ich irgendwann von allein aufgebe. Das wird aber niemals passieren, eher friert die Hölle zu.

Das Landgericht Ravensburg hat im vergangenen Jahr ein Gegengutachten zu Rösings Expertise vorgelegt: Die Freiburger Anthropologin Ursula Wittwer-Backofen will Sie nicht als Täter ausschließen, da die Bildqualität der Überwachungskamera so schlecht sei, dass eine eindeutige Aussage unmöglich sei.

Mit Rösing und Wittwer-Backofen widersprechen sich zwei Gutachter, die regelmäßig von Gerichten bestellt werden. Je nachdem, wen von beiden der Richter zufälligerweise befragt, wird man verurteilt oder nicht. Dabei kann sich doch jeder Experte irren. Frau Wittwer-Backofen hat beispielsweise in Weimar exhumierte Gebeine untersucht und war sich sicher: „Der Fürstengruftschädel gehört Friedrich Schiller.” Nachzulesen in der „Spiegel”-Ausgabe vom 5. Mai 2008. Kurz darauf hat ein DNA-Test ergeben, dass Witwer-Backofen mit ihrer Expertise hundertprozentig falsch lag.

Inzwischen streiten sich Hautärzte über ihren Fall. Es geht um einen Leberfleck, den man auf dem Foto der Überwachungskamera am Nacken des Täters erkennen kann. Der Cannstatter Chefarzt Peter von den Driesch schreibt in einer Expertise, dass Sie an dieser Stelle keinen Leberfleck haben und dort auch nie einen hatten, sonst müsste eine Narbe zu erkennen sein. Daher spreche alles dafür, dass Sie nicht der Täter seien.

Bei meinem Prozess hieß es noch, der dunkle Punkt könnte „Dreck oder Schmutz auf dem Film” sein. Das Originalfoto ist seltsamerweise bei der Polizei verschwunden. Dennoch konnte die Schmutztheorie widerlegt werden. Rolf Staudhammer, ein Dermatologe, der mich im Auftrag des Landgerichts Ravensburg kürzlich untersucht hat, meint jedoch, dass es sich bei dem Fleck um eine Hautirritation gehandelt haben könnte, die spurlos verheilt sein könnte. Das ist zwar viel unwahrscheinlicher als ein Leberfleck, aber eben theoretisch denkbar.

Damit sind Sie aus dem Schneider, es gilt schließlich der In-dubio-pro-reo-Grundsatz.

Schön wär's! Da ich kein Angeklagter, sondern ein Verurteilter bin, heißt es: im Zweifel gegen mich. Mein Anwalt Ekkehard Kiesswetter beruft sich auf die Strafprozessordnung. Demnach muss ein Verfahren wiederaufgenommen werden, wenn es Fehler bei der Beweiswürdigung gab. Letztendlich entscheidet ein Gericht, was als Fehler eines anderen Gerichts zu bewerten ist. In der deutschen Nachkriegsgeschichte gibt es nur ein Dutzend Fälle, in denen nach Paragraf 359, Absatz 5 StPO ein Wiederaufnahmeverfahren zugelassen wurde. Das zeigt, wie gering die Bereitschaft unserer Gerichte ist, eigene Irrtümer aufzuspüren. Man vertuscht sie lieber.

Glauben Sie ernsthaft, dass die deutsche Justiz jemanden unschuldig im Gefängnis sitzen lässt, um Fehler zu verbergen?

Aber sicher, weil da Karrieren dran hängen. Der Staatsanwalt, der mich in Stuttgart angeklagt hat, ist heute Oberstaatsanwalt in Ravensburg, also ausgerechnet dort, wo über mein Wiederaufnahmeverfahren entschieden wird. Es wäre doch lebensfremd, wenn sich die jetzt zuständige Richterin nicht mit dem einst zuständigen Staatsanwalt austauschen würde. Das Rechtswesen ist ein Interessengeflecht. Polizei, Staatsanwälte, Richter - alle wollen Erfolge vorweisen, um voranzukommen.

Sie tun gerade so, als sei Ihre Verurteilung vollkommen unbegründet gewesen. Es gab jedoch klare Indizien gegen Sie. So hatten Sie zwei der vier Überfalltage in einem Kalender mit einem Ü gekennzeichnet.

Ich war in der Sicherheitsbranche tätig und habe am Killesberg in unmittelbarer Nähe der überfallenen Banken gewohnt. Ich wollte feststellen, ob die Taten nach einem zeitlichen Muster stattfinden, deswegen habe ich mir die Termine notiert. Ich hatte unter anderem auch alle möglichen Informationen über die Reemtsma-Entführung gesammelt, trotzdem kam niemand auf die Idee, mich damit in Verbindung zu bringen.

Sie haben die Beherrschung verloren, als Sie dem Haftrichter vorgeführt wurden.

Ich habe ihn im Affekt angegriffen, weil er mich mit dem ungerechtfertigten Vorwurf konfrontierte, dass ich der Bankräuber sei. Daraufhin wurde ich von einem Polizisten ins Bein geschossen. Der Haftrichter konnte am nächsten Tag wieder seinen Dienst antreten, und ich wurde allein für diese folgenlose Attacke zu sieben Jahren Haft verurteilt. Einem Mann, der seine Frau im Vollrausch erschossen hatte, wurden kurz darauf vom Landgericht nur drei Jahre aufgebrummt. Ich kann nicht verstehen, warum die Justiz mit derart unterschiedlichem Maß misst. Offenbar ist ein Richter wertvoller als ein Normalbürger.

Ihr Fall erinnert an den Nürnberger Hausmeister Donald Stellwag, der 1995 als Bankräuber zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Wenige Wochen nach seiner Entlassung wurde der wirkliche Täter gefasst und legte ein Geständnis ab. Haben Sie die Hoffnung, dass Ihnen so etwas auch passieren könnte?

Größer ist die Chance, dass ich meine Unschuld selbst beweisen kann, wenn ich erst einmal draußen bin.

Wäre es nicht besser, wenn Sie dann endlich die Vergangenheit ruhen lassen würden?

Sie meinen, den Kopf in den Sand stecken und 13 Jahre Freiheitsberaubung akzeptieren? Paul McCartney hat mal gesagt: „In diesem Leben ist jeder mutig, der nicht aufgibt.” Ich kann nicht auf mir sitzen lassen, dass ich Banken überfallen haben soll. Mein Fall sollte jeden wachrütteln, weil das, was mir passiert ist, jedem passieren kann. Niemand ist vor einem Justizirrtum sicher. Niemand.

Und wann wollen Sie Ihren Kampf für Gerechtigkeit beenden?

Ich werde mit meinen Unterstützern so lange weitermachen, bis ich vollständig rehabilitiert bin. Wenn's sein muss, ziehen wir bis vor den Europäischen Gerichtshof.

 

 

Das Gespräch führte Frank Buchmeier.