Quälbarer Leib

Kritik der Gesellschaft nach Adorno

 

Vortrag von Gerhard Scheit (Wien)

Kritik heißt zunächst, „die Vorgängigkeit der von den einzelnen Menschen und ihrem Verhält-nis abgelösten, abstrakt rationalen Beziehungen, die am Tausch ihr Modell haben“, sichtbar zu machen und in ihr das „automatische Subjekt“ des Kapitals aufzuspüren, und das bis hin zum kleinsten individuellsten Gedanken. Negativ und damit für Selbstreflexion offen wird sie erst, wenn sie das Denken auf solche Vorgängigkeit eben nicht reduziert, sich vielmehr die Frage stellt, wie denn das abstrakt gesellschaftliche Allgemeine, das alle meine Vorstellungen „muß begleiten können“ (Kant) und in allen meinen Tätigkeiten sich „reproduzieren“ kann (Marx), sonst faßbar wäre als kraft dessen, was nicht vorgängig ist: „Anders als in der Bewegung ein-zelmenschlichen Bewußtseins läßt Allgemeines vom Subjekt überhaupt nicht sich ergreifen.“

 

Der Sinn für diese Negativität, den Adorno zum ersten Mal in den Minima Moralia exponierte, ist die wahre Parteinahme fürs Individuum, die im Unterschied zur humanistischen Hymne auf den Geist zugleich Parteinahme für das nicht Individuierbare, das Kreatürliche, sein muß. Der Leib ist so gesehen auf der Ebene des individuellen Lebens, was die Krise auf der Ebene des gesellschaftlichen darstellt: Dem Geist erscheint er als das Hinzutretende, das er nicht nur nicht los wird, an dem zugleich seine Vermittlungen abprallen und die Synthesis scheitert. Im Bewußtsein dieses Hiatus inmitten des Unteilbaren kann es erst Individuierung geben, die nicht in Kulturindustrie aufgeht, wie das Bedürfnis nach Versöhnung von Gesellschaft und Natur, die deren Gegensatz nicht unterschlägt.

Es spricht Gerhard Scheit (Wien), Autor u.a. von „Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus“ und „Der Wahn vom Weltsouverän. Zur Kritik des Völkerrechts“, zuletzt von „Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno“ (ça ira 2011).
Um 20°° im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).

 


 

Initiative Sozialistisches Forum
Jour fixe
Herbst / Winter 2011 / 2012

Der Einleitungstext „Die Gewalt des Souveräns“
sowie das Kommentierte Programm unter: www.isf-freiburg.org