Stuttgart -  Seit sieben Monaten gibt der Rechtsstaat in 
Stuttgart eine Probe seines Könnens. Einmal in der Woche - fast jeden 
Donnerstag, manchmal zusätzlich am Freitag - zieht sich der Rechtsstaat 
die Robe an, schiebt sich die Binde vor die Augen, die ihn nicht blind 
macht, sondern unbestechlich, und begibt sich auf die Suche nach der 
Wahrheit im Sinne der Strafprozessordnung. 
Vierunddreißig Mal 
hat sich das Publikum von den Plätzen erhoben, wenn Hermann Wieland, 
Vorsitzender Richter am Stuttgarter Oberlandesgericht, mit seinem Senat 
den Gerichtssaal betrat, vierunddreißig Mal hat die Angeklagte 
schweigend Stunde um Stunde um Stunde zwischen ihren Verteidigern 
gesessen, vierunddreißig Mal hat Herr Wieland, ein freundlicher, 
besonnener Mann, die Verhandlung eröffnet, Akten verlesen und vor allem 
Zeugen, die die Wahrheit wissen, die wirkliche, die wahre Wahrheit, 
ermahnt, diese Wahrheit hier und heute auch zu sagen, aber nicht einer 
der die Wahrheit wissenden Zeugen war bereit, Herrn Wielands Ermahnung 
zu entsprechen - nicht hier, nicht heute. 
Warum auch sollten die
 Zeugen  ausgerechnet heute an einem der vierunddreißig Verhandlungstage
 im Mord-Prozess gegen die frühere Terroristin Verena Becker berichten, 
was sie seit vierunddreißig Jahren  verschweigen: Wer am 7. April 1977 
in Karlsruhe Generalbundesanwalt Siegfried Buback, dessen Fahrer 
Wolfgang Göbel und Georg Wurster, den Leiter der Fahrbereitschaft der 
Bundesanwaltschaft, erschoss - mit 15 Schüssen vom Rücksitz eines 
Motorrads, Typ Suzuki GS750. 
 Ein Urteil und keine Antwort 
Das
 ist die Frage: Wie es damals, vor vierunddreißig Jahren, wirklich war. 
Das ist die Frage, die Michael Buback, den Sohn des ermordeten 
Generalbundesanwalts, seit vierunddreißig  Jahren so sehr umtreibt, dass
 er die Anklage gegen die 58 Jahre alte Verena Becker der Justiz 
abgerungen hat und ihr als Nebenkläger beigetreten ist.   Und das  ist 
zugleich die Frage, auf die dieser so akribisch und vorbildlich fair 
geführte Prozess - wie mit jedem Verhandlungstag immer klarer wird - 
keine Antwort findet.   
Herr Wieland und sein Senat werden in 
den nächsten Monaten noch weitere Zeugen vernehmen, wissende und 
unwissende, gutwillige und verschlossen schweigende, Augenzeugen und 
Zeugen vom Hörensagen, sie werden Akten verlesen, Gutachten prüfen, die 
Argumente der Bundesanwälte und der Verteidiger sorgfältig wägen und - 
wenn ein Vortrag wieder einmal sehr lang und das Zuhören sehr 
anstrengend war - immer wieder die Verhandlung für eine halbe Stunde 
unterbrechen. Am Ende aber - im Herbst, im Winter? - wird der Senat 
keine Antwort verkünden, sondern ein Urteil sprechen. Dann wird die Akte
 im Prozess gegen Verena Becker geschlossen, und der Mordfall Buback 
wird um eine prozessuale Wahrheit reicher sein. 
Über einen 
Mangel an prozessualen Wahrheiten konnte sich der Fall Buback schon 
bisher nicht beklagen. Eine prozessuale Wahrheit lautet, dass Knut 
Folkerts, 1980 unter anderem wegen der Ermordung Bubacks zu lebenslanger
 Freiheitsstrafe verurteilt und 1995 vorzeitig aus der Haft entlassen,  
am Attentat beteiligt war. Worin die Beteiligung genau bestand, wurde 
einerseits nie geklärt. Folkerts und einige ehemalige Komplizen 
behaupten, er habe sich am 7. April 1977 gar nicht in Karlsruhe, sondern
 in den Niederlanden befunden. Andererseits kam es darauf - aus Sicht 
der prozessualen Wahrheit - gar nicht an, denn auch wer sich aus der 
Ferne an einem gemeinsam verabredeten Verbrechen beteiligt,  ist 
beteiligt.
Eine andere prozessuale Wahrheit lautet, dass auch 
Christian Klar,  1985 wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger 
Freiheitsstrafe verurteilt und vor drei Jahren entlassen, an der 
Ermordung Bubacks irgendwie beteiligt war. Zwar ist der genaue 
Tatbeitrag Klars ebenfalls nie genau ermittelt worden, andererseits hat 
Klar seine Beteiligung an diesem wie auch an anderen  Verbrechen nie 
bestritten.
Und schließlich gibt es die prozessuale Wahrheit im 
Fall Brigitte Mohnhaupts, der zeitweiligen Anführerin der RAF, die die 
Mord-Serie der Terror-Gruppe vor vierunddreißig Jahren  lenkte, die wie 
Klar wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt 
 und ihrerseits nach vierundzwanzig Jahren 2007 entlassen wurde, die nie
 im Verdacht stand, selbst am Tatort gewesen zu sein. Die prozessuale 
Wahrheit weist ihr die Rolle der "Rädelsführerin" zu. Drei prozessuale 
Wahrheiten, drei verurteilte Terroristen. Und eine offene Frage: Wer 
erschoss Siegfried Buback?
 Höhnisches Echo 
Knut 
Folkerts weiß   es möglicherweise, Christian Klar wahrscheinlich, 
Brigitte Mohnhaupt gewiss. So ist es vor allem Brigitte Mohnhaupt, auf 
die Herr Wieland an einem Verhandlungstag Ende März seine Hoffnung 
setzt, doch noch den Namen des Todesschützen zu erfahren. Sie ist  auch 
 seine letzte Hoffnung. Fast alle ehemaligen Mitglieder der so genannten
 Zweiten Generation der RAF hat er bis dahin schon befragt. Er hat ihnen
 ins Gewissen geredet, nachdem sie ihre Strafen verbüßt und wieder 
Aufnahme in die Gesellschaft gefunden hätten, doch endlich "reinen 
Tisch" zu machen, auszupacken und dem Gericht zu sagen, was es hören 
wolle: die Wahrheit im Mordfall Buback. Einige wenige - Peter-Jürgen 
Boock um Beispiel, der den Verdacht auf Stefan Wisniewski zu lenken 
versuchte, oder Silke Maier-Witt, die Verena Becker angeblich nie 
kennengelernt hat und auch im übrigen nicht sehr viel weiß - haben 
geredet, alle anderen hatten geschwiegen und sich auf ihr 
Auskunftsverweigerungsrecht berufen.
Mit diesem Recht legt sich 
der rechtsstaatliche Strafprozess selber Fesseln an: Er sucht die 
Wahrheit, aber er sucht sie nicht um jeden Preis. Wer befürchten muss, 
sich mit der wahrheitsgemäßen Beantwortung von Vernehmungsfragen der 
Strafverfolgung auszusetzen, darf zwar nicht lügen, aber nach § 55 
Strafprozessordnung schweigen. Etwa ein Dutzend ehemalige Terroristen 
hatte Herr Wieland höflich  nach Dauer und Intensität ihrer 
RAF-Mitgliedschaft  befragt, nach ihrem Status in der Gruppe, ihren - 
längst abgeurteilten - Verbrechen und schließlich nach ihrem Wissen über
 die Ermordung Bubacks und der Beteiligung Verena Beckers.
Wie 
ein höhnisches Echo war stets die Berufung auf "Paragraf  55" 
zurückgekommen, so oft, so schnell und so bedenkenlos, dass Herr Wieland
 schon zu resignieren schien. Jetzt aber sitzt vor ihm Brigitte 
Mohnhaupt, 61 Jahre alt, erwerbslos wie die meisten ehemaligen 
Terroristen, und Herr Wieland hebt die Stimme, um die Eindringlichkeit 
der Ermahnung zu erhöhen: "Betrachten Sie Ihren Auftritt hier als 
Chance!"  Aber Brigitte Mohnhaupt zögert nicht einen Moment: "Ich sehe 
das hier nicht als Plattform." 
Das ist der Augenblick, in dem 
Hermann Wieland, Vorsitzender Richter am Stuttgarter Oberlandesgericht, 
zum ersten Mal in diesem Verfahren die Fassung verliert.  Vermutlich 
wird ihm mit dieser Antwort klar, dass auch er und sein Senat - wie alle
 anderen Gerichte, die sich in den vergangenen vierunddreißig Jahren mit
 dem Mordfall Buback befassten - sich mit der prozessualen Wahrheit 
bescheiden müssen, weil die wirkliche Wahrheit nicht zu haben ist.  
Seine Stimme vibriert vor Zorn, als er Brigitte Mohnhaupt erwidert: " Es
 gibt Personen, die haben kein Gewissen und keine Moral."  Aber 
selbstverständlich weiß auch Herr Wieland, dass es hier nicht um das 
Gewissen geht und nicht um die Moral, sondern um das Recht der Zeugin. 
Doch
 kann er in dem Augenblick nicht ahnen, dass die Bundesanwaltschaft 
Brigitte Mohnhaupt nur wenige Tage später die beste Begründung ihres 
Schweigens liefern wird: Mitte April wurde bekannt, dass die 
Anklagebehörde gegen sie wegen Mordversuchs an einem Frankfurter 
Waffenhändler im Sommer 1977 ermittelt,  für den bisher nur Knut 
Folkerts angeklagt und verurteilt wurde. DNA-Analysen sollen die Fahnder
 auf die Spur Mohnhaupts gebracht haben.
Schlagartig jegliches  Interesse verloren 
Ohne
 DNA-Analysen säße auch Verena Becker jetzt nicht auf der Anklagebank. 
Kein ehemaliger Komplize hat sie belastet, keine unvorsichtige Aussage 
Beckers den Verdacht der Behörden erregt. Zwar hatte Michael Buback, der
 Sohn des Mord-Opfers, in einem Buch eine Reihe vermeintlicher Tat- und 
Tatortzeugen benannt, die vor vierunddreißig Jahren angeblich eine 
"zierliche Frau" auf dem Rücksitz des Motorrads als Schützin erkannt 
haben. Zudem hat er eine Liste merkwürdiger Fahndungspannen präsentiert.
 So waren  einige Wochen nach dem Anschlag Günter Sonnenberg und Verena 
Becker nach einer blutigen Schießerei verhaftet und etliche Waffen bei 
ihnen sichergestellt worden, darunter die auch beim Buback-Mord 
verwendete Maschinenpistole. Alle Indizien sprachen dafür, dass Becker 
und Sonnenberg am Karlsruher Attentat direkt beteiligt gewesen waren, 
ein entsprechender Haftbefehl war auch zunächst erlassen worden.
Aber
 angeklagt wurden die beiden deswegen nie. Ausgerechnet an der 
Terroristin, gegen die von Anfang an schwerwiegendste Indizien sprachen,
 ausgerechnet an Verena Becker hatten die Ermittlungsbehörden 
schlagartig jegliches  Interesse verloren. Bis heute glaubt Michael 
Buback, vermutlich sei Verena Becker die Mörderin seines Vaters gewesen,
 und der Verfassungsschutz, für den sie gearbeitet habe, halte seine 
"schützende Hand" über sie. Doch hätte das alles alles kaum für eine 
Anklage Beckers genügt.  Zu dieser entschloss sich die von Michael 
Buback öffentlich unter Druck gesetzte Bundesanwaltschaft erst, nachdem 
auf  mehreren nach dem Attentat abgesetzten Bekennerschreiben DNA-Spuren
 Beckers entdeckt worden waren. 
Wer die wahre Wahrheit fordert, 
dem ist die prozessuale Wahrheit egal. Michael Buback will wissen, wer 
seinen Vater erschoss: "DNA-Spuren auf Bekennerschreiben interessieren 
mich nicht." Zwar ist Verena Becker wegen  gemeinschaftlichen Mordes an 
Siegfried Buback angeklagt, aber nicht als vermeintliche Todesschützin, 
sondern allein wegen ihrer Fingerabdrücke auf den Bekennerschreiben. 
Selbst diese Anklage ist zwar nicht auf Sand gebaut, aber auch nicht 
gerade auf festem Fundament.
Beihilfe oder Mittäterschaft
Der
 Bundesgerichtshof hatte Verena Becker vor Beginn der Verhandlung mit 
der Begründung auf freien Fuß gesetzt, der dringende Tatverdacht sei 
nicht hinreichend begründet. Belegt sei lediglich der dringende 
Verdacht, Becker habe "die eigentlichen Täter zumindest psychisch bei 
Begehung der Tat bestärkt und damit Beihilfe zu dieser geleistet". Zwar 
hatten Hermann Wieland und sein Senat dennoch eine Anklage wegen 
Mittäterschaft an den drei Morden zugelassen. Doch am Ende wird es kaum 
von Bedeutung sein, ob Becker wegen Beihilfe oder wegen Mittäterschaft 
verurteilt wird. Denn der Bundesgerichtshof hat bei der Entlassung 
Beckers aus der Untersuchungshaft klargemacht, dass die nicht mit einer 
höheren Strafe wird rechnen müssen. Ihr Tatbeitrag sei nicht 
entscheidend gewesen, ihre verbüßte Freiheitsstrafe im Übrigen 
selbstverständlich anzurechnen.
Wer erschoss Siegfried Buback? 
Die Antwort auf diese Frage, also die wahre Wahrheit werden Michael 
Buback  und die Justiz woanders suchen müssen. Ehemalige Terroristen 
haben immer wieder auf Stefan Wisniewski, 1981 zu lebenslanger 
Freiheitsstrafe verurteilt und 1999 vorzeitig aus der Haft entlassen, 
als angeblichen Todesschützen verwiesen. Seit vier Jahren ermittelt 
deshalb gegen ihn die Bundesanwaltschaft. Doch soweit bekannt, gibt es 
bisher keine handfesten Beweise. Mehr als eine prozessuale Wahrheit ist 
also nach Lage der Dinge auch hier nicht zu erwarten.
Berliner Zeitung, 26.04.2011
