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                    08.03.2011        
        BERLIN/ATHEN/TUNIS (Eigener Bericht) - Mit aller Macht sperrt sich Berlin
 gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem nordafrikanischen 
Krisengebiet. Nach ihrer Weigerung, in Südeuropa anlandende Flüchtlinge 
wenigstens anteilsmäßig aufzunehmen, beteiligt sich die Bundesregierung 
an Maßnahmen, die darauf abzielen, die aus Libyen entkommenen Menschen 
in Nordafrika zu halten. Aufrufe, wenigstens von Pogromen bedrohte 
Schwarze aus Libyen in die EU einreisen zu lassen, verhallen ungehört. 
Trotz aller Abschottungsbemühungen gerät das deutsch-europäische 
Flüchtlingsabwehrsystem durch den Kollaps der nordafrikanischen 
Diktaturen weiter unter Druck. Die katastrophalen Bedingungen, unter 
denen Migranten in Griechenland vegetieren müssen, hatten seit einiger 
Zeit Proteste gegen von Berlin gewünschte EU-Normen ("Dublin II") laut 
werden lassen, die die Flüchtlingsversorgung insbesondere südlichen 
EU-Staaten übertragen. Nach dem Zusammenbruch der nordafrikanischen 
Grenzabschottung wehren sich nun auch Länder wie etwa Italien gegen 
"Dublin II". Damit gerät der Berliner Versuch ins Wanken, die ökonomisch
 unrentable Versorgung von Flüchtlingen, soweit sie nicht vollständig 
vermieden werden kann, anderen EU-Staaten aufzunötigen.
Grenzen abschotten
Die Bundesregierung weigert sich weiterhin strikt, 
Flüchtlinge aus dem nordafrikanischen Kriegs- und Krisengebiet 
aufzunehmen. Es könnten "nicht alle Menschen, die in Tunesien jetzt 
nicht sein wollen, (...) nach Europa kommen", hatte bereits Mitte 
Februar die deutsche Kanzlerin erklärt.[1] Der Bundesaußenminister hatte
 auf die Frage, was die EU unternehmen solle, "falls weitaus mehr 
Flüchtlinge kommen", erläutert: "Natürlich muss Europa seine Grenzen 
sichern."[2] Berlin hat in den letzten Wochen 2,8 Millionen Euro 
bereitgestellt, mit denen die Arbeit von Rotem Kreuz und 
UNO-Flüchtlingshilfswerk vor Ort unterstützt wird. Nur mit Maßnahmen in 
Nordafrika sei es zu verhindern, "dass die Menschen auf dem Weg über das
 Mittelmeer ihr Leben riskieren", umschreibt der Beauftragte der 
Bundesregierung für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe das Ziel 
Berlins, Flüchtlinge von der unerwünschten Einreise in die EU 
abzuhalten.[3] Mit Charterflugzeugen und Kriegsschiffen beteiligt sich 
die Bundesrepublik zudem an der Verbringung von Flüchtlingen aus Libyen 
nach Ägypten. Dies soll nicht nur die Flüchtlinge von einer 
unerwünschten Einreise in die EU abhalten, sondern auch der deutschen 
Kriegsmarine Sympathie verschaffen.
Rassistische Pogrome
Während nun drei Kriegsschiffe mit 700 Soldaten an 
Bord insgesamt rund 400 Flüchtlinge nach Ägypten transportieren, 
verhallen Aufrufe, zumindest einige Flüchtlinge in der EU aufzunehmen, 
ungehört. Menschenrechtsorganisationen und kirchliche Hilfswerke 
erklären bereits seit Wochen, Deutschland könne auf die Umwälzungen in 
Nordafrika und den Bürgerkrieg in Libyen nicht mit brutalen 
Abschottungsmaßnahmen reagieren: "Ganz Europa muss Solidarität mit den 
Flüchtlingen zeigen", heißt es in einer Stellungnahme von Brot für die 
Welt und Diakonie Katastrophenhilfe.[4] Keinerlei Reaktion erfolgt in 
Berlin auf dringliche Appelle, zumindest in Libyen festsitzende 
Migranten mit schwarzer Hautfarbe zu evakuieren. Diese sind gegenwärtig 
vor allem in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten Ostlibyens 
rassistischen Pogromen ausgesetzt, bei denen bereits Dutzende gelyncht 
wurden (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Eine Chance auf 
Zuflucht in Deutschland haben sie nicht.
Dublin II
Mit den Maßnahmen zur strikten Abwehr 
nordafrikanischer Flüchtlinge sucht Berlin nicht zuletzt das 
deutsch-europäsche Flüchtlingsabwehrsystem zu stabilisieren, das in 
einigen Punkten erheblich unter Druck geraten ist. Dies trifft besonders
 auf die sogenannte "Dublin II"-Verordnung zu, die im März 2003 in Kraft
 getreten ist. Sie sieht vor, dass Flüchtlinge nur in demjenigen 
EU-Staat Asyl beantragen dürfen, über den sie in die EU eingereist sind.
 Dies hat zur Folge, dass insbesondere die Staaten an den Außengrenzen 
der EU sich um Flüchtlinge zu kümmern haben. Einen Mechanismus zur 
Umverteilung von Migranten auf andere EU-Staaten gibt es nicht. Lange 
waren Italien, Spanien und Malta die Länder, die von Bootsflüchtlingen 
bevorzugt angesteuert wurden. Gegenwärtig ist Griechenland 
hauptsächliches Einreiseland. Nach Lage der Dinge kommt die 
Bundesrepublik als zentraler Anlaufpunkt für Asylsuchende nicht mehr in 
Betracht. Die "Dublin II"-Verordnung [6] gilt daher in Berlin als 
Eckpfeiler der EU-Flüchtlingsabwehr.
Armenspeisungen
Seit einiger Zeit gerät "Dublin II" wegen der 
katastrophalen Lage von Migranten in Griechenland unter Druck. Vor allem
 die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert seit Jahren massiv 
die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge in Griechenland leben müssen. 
Bereits 2007 berichtete Pro Asyl über die Praxis der griechischen 
Küstenwache, Flüchtlingsschiffe mit riskanten Manövern in türkische 
Hoheitsgewässer abzudrängen - ohne jede rechtliche Grundlage. 
Gelegentlich setze die Küstenwache sogar Flüchtlinge auf unbewohnten 
griechischen Inseln aus.[7] Das Asylsystem sei ebenfalls "eine Farce", 
urteilte die Organisation 2009 und schrieb über die Situation: 
"Flüchtlinge werden mittellos in die Obdachlosigkeit gedrängt, überleben
 nur aufgrund von Armenspeisungen".[8] Kürzlich hat der Europäische 
Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, es sei gesetzwidrig, unter 
den gegenwärtigen Bedingungen Flüchtlinge nach Griechenland 
abzuschieben, selbst wenn dies in der "Dublin II"-Verordnung vorgesehen 
sei. Die Bundesregierung hat sich inzwischen den Gegebenheiten anpassen 
müssen und verzichtet auf die Überstellung von Migranten an Athen.[9]
Unrentabel
Ein weiterer Schlag für "Dublin II" droht nun durch 
den Kollaps der nordafrikanischen Diktaturen. Mit diesen ist auch ein 
erheblicher Teil der Grenzabschottung zusammengebrochen. Dies gilt ganz 
besonders für Tunesien, von wo aus zur Zeit zahlreiche Boote auf die 
italienische Insel Lampedusa aufbrechen. Ob der Bürgerkrieg in Libyen 
eine neue Flüchtlingswelle in Richtung Europa auslösen wird, lässt sich 
gegenwärtig nicht zuverlässig erkennen. Erkennbar ist aber, dass Italien
 nicht bereit ist, bei einer erneuten Zunahme der Flüchtlinge auf Dauer 
allein deren Versorgung zu übernehmen. Zwar hat die europäische 
Flüchtlingsabwehragentur Frontex ihre Aktivitäten im Mittelmeer jüngst 
ausgeweitet, doch ist unklar, ob sie die Migrantenboote erfolgreich 
zurückdrängen kann - im Falle Libyens würde Frontex die unerwünschten 
Einwanderer nicht mehr einem Regime übergeben, das Flüchtlinge in Lager 
pfercht und zuweilen in der Wüste aussetzt [10], sondern Frontex müsste 
sie direkt in den Bürgerkrieg abschieben. Ob dies international 
durchsetzbar ist, ist unklar. Deshalb mehrt sich in Italien der Druck, 
nicht abschiebbare Asylsuchende innerhalb der EU zu verteilen. Damit 
stünde "Dublin II" auf dem Spiel - und der ökonomische Vorteil 
Deutschlands, sich auf Dauer nicht mehr mit der unrentablen Versorgung 
von Flüchtlingen abgeben zu müssen.
[1] EU schlägt wegen Tunesien-Flüchtlingen Alarm; www.spiegel.de 14.02.2011
[2] "Zum Einsteigen wird nicht geklingelt"; www.welt.de 16.02.2011
[3] Menschenrechsbeauftragter trifft Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen; Pressemitteilung des Auswärtigen Amts 02.03.2011
[4] Flüchtlinge aus Nordafrika brauchen Schutz; www.brot-fuer-die-welt.de 28.02.2011
[5] s. dazu Die Fahne der Abhängigkeit. Libya: Stranded Foreign Workers Need Urgent Evacuation; www.hrw.org 02.03.2011
[6] s. dazu Interview mit Karl Kopp
[7] "The truth may be bitter, but it must be told". Über die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die Praktiken der griechischen Küstenwache. Frankfurt am Main, Oktober 2007. www.proasyl.de. S. auch Land ohne Flüchtlinge
[8] Überstellung eines Asylsuchenden nach Griechenland rechtswidrig; Presseerklärung von Pro Asyl, 10.07.2009. S. auch "Wirksam abschieben"
[9] Straßburger Urteil zum Dublin-System; www.proasyl.de 24.01.2011
[10] s. dazu Der Zerfall eines Partnerregimes
[2] "Zum Einsteigen wird nicht geklingelt"; www.welt.de 16.02.2011
[3] Menschenrechsbeauftragter trifft Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen; Pressemitteilung des Auswärtigen Amts 02.03.2011
[4] Flüchtlinge aus Nordafrika brauchen Schutz; www.brot-fuer-die-welt.de 28.02.2011
[5] s. dazu Die Fahne der Abhängigkeit. Libya: Stranded Foreign Workers Need Urgent Evacuation; www.hrw.org 02.03.2011
[6] s. dazu Interview mit Karl Kopp
[7] "The truth may be bitter, but it must be told". Über die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die Praktiken der griechischen Küstenwache. Frankfurt am Main, Oktober 2007. www.proasyl.de. S. auch Land ohne Flüchtlinge
[8] Überstellung eines Asylsuchenden nach Griechenland rechtswidrig; Presseerklärung von Pro Asyl, 10.07.2009. S. auch "Wirksam abschieben"
[9] Straßburger Urteil zum Dublin-System; www.proasyl.de 24.01.2011
[10] s. dazu Der Zerfall eines Partnerregimes
