Die meisten alten jüdischen Freiburgerinnen und Freiburger leben aus Angst vor Übergriffen lieber unerkannt.
Erika Herz* (Name von der Redaktion geändert) möchte ihre Geschichte 
eigentlich gar nicht erzählen. Die alte Dame wurde in der Nazizeit als 
Jüdin verfolgt, im Holocaust wurden fast alle ihre Verwandten ermordet, 
sie selbst verbrachte ihre Kindheit im Exil in Südafrika – und erzählt 
heute niemandem in ihrer Freiburger Senioren-Wohnanlage davon. Denn 
unter ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern dominieren beim Rückblick 
auf das eigene Leben vor allem nostalgische Gespräche oder traumatische 
Erinnerungen, über Flucht, die "deutsche Niederlage 1945" und den 
"Freiburger Bombenkrieg".
Mit dem Thema, das ihr Leben bestimmt, ist Erika Herz in dieser Umgebung
 vermutlich allein. Sie fühlt sich nur sicher, wenn sie ihre eigene 
Geschichte versteckt. Zum Beispiel, dass es in Südafrika keine Kirschen 
gab. Wenn Erika Herz jetzt zu ihrem Geburtstag einen Kirschkuchen 
geschenkt bekommt, ist das für sie ein Aufholen. Doch sie weiß: "Ein 
Ozean voller Kirschen wäre nicht genug, um die Zeit im Exil wieder 
nachzuholen."
Austauschen könnte sie sich leichter mit Holocaust-Überlebenden und 
politisch Verfolgten. Doch jüdische Einrichtungen wie die 
Seniorenwohnanlage Budge-Stiftung in Frankfurt am Main gibt es in 
Freiburg mangels Nachfrage nicht.
Nach Aussage von Uschi Amitai, der ehemaligen Vorsitzenden der jüdischen
 Gemeinde, wollen die meisten jüdischen Freiburger nicht an die 
Öffentlichkeit treten, auch wegen Angriffen gegen Juden in anderen 
Städten. Grund seien außerdem Erfahrungen mit Antisemitismus in der 
ehemaligen Sowjetunion – 95 Prozent der Mitglieder der Freiburger 
jüdischen Gemeinde kommen aus den GUS-Staaten. Uschi Amitai: "Wir hatten
 vorgeschlagen, jüdische Gemeindemitglieder in einer Senioren-Wohnanlage
 zusammen zu bringen; aber daraus wurde nichts."
Die heutigen Bewohner von Seniorenwohnanlagen und Pflegeheimen in 
Deutschland wurden in der Nazizeit sozialisiert, viele haben den Krieg 
direkt erlebt. Andrea Jandt, Chefin des St. Marienhaus in der Talstraße,
 erzählt, wie englische Musik von manchen Bewohnern abgelehnt wird, 
"weil Freiburg von den Engländern im Krieg bombardiert wurde". Diakon 
Josef Glaser, Leiter des Wohn- und Pflegeheims in Kirchzarten, hat in 30
 Arbeitsjahren immer wieder Bewohner erlebt, die am Ende ihres Lebens 
von schlimmen Erinnerungen an eigene Taten eingeholt wurden. Auch eine 
"Unverbesserliche" habe es gegeben, eine frühere Mitarbeiterin der 
Gestapo Paris, die aus ihrer braunen Vergangenheit und ihrer immer noch 
braunen Gesinnung keinen Hehl machte.
Zu einem Zivi habe sie gesagt: "So was wie Sie hätten wir früher 
vergast." Er hat aber auch Menschen erlebt, die früher im Widerstand 
gegen das Nazi-Regime waren, und solche, die ihre Biografie nie 
verbargen: "Er war Jude. Sie war Christin und wurde von ihrer eigenen 
Schwester bei der Gestapo angezeigt. Das Paar konnte gerade noch 
rechtzeitig nach Brasilien flüchten."
Folkmar Biniarz, Leiter des Freiburger Pflegeheims Senovums, berichtet 
von einer Holocaust-Überlebenden, die unter schweren Verfolgungsängsten 
litt. Mit der Begründung ,Alles Mörder dort' war sie, die mehrere 
Konzentrationslager überlebte, von einer anderen Einrichtung ins Senovum
 gewechselt. Besonders nachts wurden die Erinnerungen an ihre 
traumatischen Erlebnisse im KZ wach. Biniarz: "Sie wollte, dass unser 
Pflegeheim mit Sicherheitskräften gut überwacht wird, sah sich jedoch 
überall von Vergewaltigern umzingelt." Die Bewohnerin ist vergangenes 
Jahr in die Budge-Stiftung nach Frankfurt umgezogen. In anderen 
Einrichtungen scheint das Problem weniger bekannt zu sein. Christa 
Varadi, Direktorin des St. Carolushaus: "Antisemitische Angriffe in 
dieser Altersgruppe kommen in unserer Einrichtung nicht vor."
Wenn alte Menschen ins Wohn- oder Pflegeheim ziehen, fragen die 
Leitenden der Einrichtungen nach ihrer Biografie. Andrea Jandt: "Es 
hängt von den Bewohnern ab, ob sie etwas preisgeben – oft wissen aber 
nicht mal die eigenen Kinder Bescheid." Einige Einrichtungen berichten 
von ihren Schwierigkeiten, mit den wenigen Holocaust-Überlebenden 
adäquat umzugehen. Jandt erzählt: "Wir haben über viele Jahre eine Frau 
betreut, die als Jüdin im KZ war und überlebt hat. Weil sie inzwischen 
dement war, konnten wir mit ihr das Erlebte nicht besprechen, aber ihr 
das Gefühl geben, dass wir für sie da sind."
Die Zeitzeugen des Krieges sind inzwischen um die 90 Jahre alt. In 
wenigen Jahren wird diese Generation der Täter und der Opfer nicht mehr 
leben. Doch das Thema lebt in den Nachgeborenen weiter, denn auch die 
Nachfahren der Verfolgten tragen das Trauma ihrer Eltern in sich.
			
				
			
				 
					
				
				
							
