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                    07.01.2011        
        BUDAPEST/BERLIN (Eigener Bericht) - Ungarn übernimmt Praktiken der 
deutschen Ethnopolitik und erklärt hunderttausende Bürger seiner 
Nachbarländer zu seinen Staatsangehörigen. Mittel dazu ist das neue 
ungarische Staatsbürgerschaftsrecht, das mit Jahresbeginn in Kraft 
getreten ist. Bürger sämtlicher angrenzender Länder erhalten auf Antrag 
einen ungarischen Pass, sofern sie ungarische Blutsabstammung geltend 
machen können. Modell ist die Praxis Deutschlands, "Blutsdeutsche" in 
Polen und der Tschechischen Republik zu seinen Bürgern zu erklären. Das 
jetzt in Ungarn in Kraft getretene Staatsbürgerschaftsrecht ist Teil 
eines Komplettumbaus des Staates durch die Regierung, die mit der 
baldigen Verabschiedung einer neuen Verfassung völkische Grundsätze zur 
Grundlage der Budapester Politik für die kommenden Jahrzehnte erheben 
will. Teil des Umbaus ist das heftig kritisierte neue Mediengesetz, das 
geeignet ist, jede Opposition zur völkischen Politik dauerhaft zu 
unterdrücken. Die Regierungspartei Fidesz ist CDU und CSU 
freundschaftlich verbunden, sie wird von deutschen Parteienstiftungen 
begünstigt und kann an jahrzehntelange enge deutsch-ungarische 
Kooperation anknüpfen. Ihr Erfolg offenbart, wie völkische Politik im 
von Deutschland und seiner Ethnopolitik geprägten Europa auf lange Sicht
 zum Durchbruch kommt.
Auslandsungarn
Mit Inkrafttreten des neuen ungarischen 
Staatsbürgerschaftsrechts hat am Montag die Vergabe ungarischer Pässe an
 bis zu 2,5 Millionen sogenannte Auslandsungarn begonnen. In Gebieten, 
die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu Ungarn gehörten, danach vom 
damaligen Kriegsaggressor jedoch abgetreten werden mussten, leben bis 
heute ungarischsprachige Minderheiten: in Rumänien etwa 1,5 Millionen 
Menschen, in der Slowakei m
ehr als 500.000, in Serbien (Vojvodina) 
300.000, in der Ukraine 160.000, in Österreich 45.000 und in Kroatien 
und Slowenien jeweils gut 15.000.[1] Sie können nun per "Eilverfahren" 
binnen vier bis fünf Monaten die ungarische Staatsbürgerschaft erwerben.
 Der Andrang sei "sehr, sehr groß", heißt es beispielsweise beim 
ungarischen Konsulat in Cluj Napoca (Rumänien). Budapest rechnet für das
 Jahr 2011 mit der Vergabe von bis zu 400.000 neuen Personaldokumenten. 
Die Vereinnahmung fremder Staatsbürger durch Budapest, die etwa in der 
Slowakei rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung betrifft und auf 
Widerstand stößt, entspricht in vollem Umfang deutscher Ethnopolitik: 
Deutschland hat bereits in den 1990er Jahren begonnen, hunderttausende 
polnische und zehntausende tschechische "Blutsdeutsche" zu Staatsbürgern
 der Bundesrepublik zu erklären.[2] Wer in Budapest das neue 
Staatsbürgerschaftsrecht kritisiert, bekommt daher zur Antwort: "Kritik 
ist unangebracht, Deutschland handelt genauso."
Säuberungswelle
Dass die Vergabe von Pässen an "Auslandsungarn" keine 
isolierte Maßnahme ist, sondern vielmehr einer völkischen Grundstimmung 
in Ungarn selbst entspricht, zeigen exemplarisch Entwicklungen im 
ungarischen Kulturleben. Erst vor wenigen Wochen entzündete sich in 
Budapest ein Skandal an einem Antrag des Botschafters Rumäniens, zum 
Nationalfeiertag seines Landes einen Empfang im Budapester 
Nationaltheater geben zu dürfen. Die regierende Fidesz-Partei 
attackierte den Mann: Es gehe nicht an, dass der rumänische Staat im 
Ungarischen Nationaltheater feiere - denn es sei "bis in unsere Tage ein
 tiefes Trauma für die Mehrheit der ungarischen Nation", dass zu 
Rumänien ein Teil des ehemaligen ungarischen Königreichs 
("Transsilvanien") gehöre. Der Theaterintendant, der die Feier bereits 
gestattet hatte, musste den Botschafter Rumäniens ausladen; Beobachter 
halten es für wahrscheinlich, dass er wegen seiner ursprünglichen Zusage
 seinen Posten bald verlieren wird.[3] Ähnliches ist zuvor einer ganzen 
Reihe 
von Kulturschaffenden und Wissenschaftlern widerfahren, etwa dem 
künstlerischen Direktor der Ungarischen Staatsoper, der ein national 
bedeutsames Werk von einem Italiener hatte inszenieren lassen wollen, 
oder mehreren oppositionellen Philosophen an der Ungarischen Akademie 
der Wissenschaften. Kritiker sprechen von einer "Säuberungswelle" im 
ungarischen Kultur- und Wissenschaftsleben.[4]
Die Heilige Ungarische Krone
Kernelement der aktuellen Fidesz-Politik ist die 
Verabschiedung einer neuen Verfassung am - symbolischen - Ostermontag 
2011. Sie soll völkische Grundsätze zur Basis der Budapester Politik für
 die nächsten Jahrzehnte erheben und stellt das "Ungarntum" inhaltlich 
in den Mittelpunkt. Wie es heißt, wird sie explizit auf die "Heilige 
Ungarische Krone" des mittelalterlichen Königreichs Bezug nehmen und sie
 zum "Symbol für die Kontinuität des ungarischen Staats" erklären.[5] 
Dies wird als "programmatische Beschwörung eines 
alten Groß-Reichs" 
verstanden, das unter anderem sämtliche Wohngebiete der heutigen 
"Auslandsungarn" umfasste. Dass das "Ungarntum" und die Abwehr von 
Meinungen und Kräften, die das Völkische nicht als Leitprinzip 
akzeptieren, auch für die ungarische Innenpolitik zum zentralen Prinzip 
wird, lässt das zur Zeit auch international scharf kritisierte neue 
ungarische Mediengesetz erkennen. Es unterstellt die Medien de facto 
einer Zensur durch eine Regierungsbehörde und erlaubt damit prinzipiell 
die Ausschaltung jeglicher Opposition.
Enge Partner
Die Fidesz-Partei, die diese Entwicklung unter 
Ministerpräsident Viktor Orbán vorantreibt, arbeitet mit den deutschen 
Unionsparteien gedeihlich zusammen. Sie gehört der Europäischen 
Volkspartei (EVP) an, in der CDU und CSU eine dominierende Stellung 
innehaben, und stellt einen der EVP-Vizepräsidenten. Fidesz-Chef Orbán 
traf mit Bundeskanzlerin Angela Merkel schon im Mai 2009 zusammen - noch
 als Oppositionsfüh
rer -, um seine Pläne für eine etwaige 
Regierungsübernahme mit Berlin abzustimmen. Die CDU-nahe 
Konrad-Adenauer-Stiftung zählt sowohl Fidesz als auch die 
Fidesz-Stiftung Polgári Magyarországért Alapítvány (Stiftung für ein 
bürgerliches Ungarn) zu ihren Partnern; an der Gründung der 
Fidesz-Stiftung nach dem vorläufigen Machtverlust der Partei im Jahr 
2002 war sie führend beteiligt. Als Regierungspartei kann Fidesz zudem 
an die langjährige deutsch-ungarische Zusammenarbeit anknüpfen, die 
neben völkischer Politik ("Auslandsungarn") zuletzt auch die 
Südost-Expansion entlang der Donau ("Donaustrategie") betraf 
(german-foreign-policy.com berichtete [6]). Ungarn gehört seit je zu den
 engen Kooperationspartnern der Berliner Politik in Europa. Zuletzt 
wurde die Zusammenarbeit mit Blick auf Ungarns Ratspräsidentschaft 
intensiviert; der Budapester Außenminister versprach ausdrücklich, er 
werde "alles unterstützen, was Deutschland nutzt".[7]
Ein neues System
Ungarische Kritiker werfen der Bundesregierung und 
anderen Staatsführungen aus der EU denn auch vor, mit ihrer Empörung 
über das neue Mediengesetz nur publikumswirksame Heuchelei zu betreiben.
 Tatsächlich hätte es nicht einmal intimer Kenntnisse aus langjähriger 
Zusammenarbeit bedurft, um den Charakter der ungarischen Politik 
spätestens am 16. Juni 2010 zu erkennen. An diesem Tag beschloss das 
ungarische Parlament mit Fidesz-Zweidrittelmehrheit eine "Politische 
Deklaration über die nationale Zusammenarbeit", die den Fidesz-Wahlsieg 
als "Revolution" und Beginn einer gänzlich neuen Ära pries. Mit ihm 
hätten die Magyaren "die Gründung eines neuen Systems, des 'Systems der 
Nationalen Zusammenarbeit' beschlossen". Unter kaum verhohlenem Anklang 
an autoritäre Ordnungen hieß es in dem Dokument: "Arbeit, Heim, Familie,
 Gesundheit und Ordnung werden die Tragsäulen unserer gemeinsamen 
Zukunft bilden."[8]
Unter deutscher Hegemonie
Mittlerweile hat der enge Kooperationspartner Berlins 
die Kontrollbefugnisse des ungarischen Verfassungsgerichts in weiten 
Teilen außer Kraft gesetzt, einen parteitreuen Generalstaatsanwalt und 
einen dem Ministerpräsidenten loyal ergebenen Staatspräsidenten 
eingesetzt, "Säuberungen" der Kulturszene und der Wissenschaft 
eingeleitet und die völkische Formierung Ungarns weiter vorangetrieben. 
In einem nächsten Schritt ist eine Einschränkung des Streikrechts 
geplant. "Das Mediengesetz", urteilen Kritiker, "ist da nur das 
vorläufige Tüpfelchen auf dem i."[9] Es ist Teil eines völkischen 
Komplettumbaus des ungarischen Staates, der mit Macht vorangetrieben 
wird - und offenkundig günstige Bedingungen in einem Europa findet, das 
unter der Hegemonie Deutschlands und damit der deutschen Ethnopolitik 
steht.
[1] Große Nachfrage nach dem ungarischen Pass; diepresse.com 04.01.2010
[2] s. dazu Völkisch radikalisiert
[3] Ungarn vs. Rumänien: eine Tragikomödie in vier Akten; www.pesterlloyd.net 22.11.2010
[4] "Säuberungen" an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; www.pesterlloyd.net 30.11.2010
[5] Gregor Mayer: Schmutzige Kämpfe; www.profil.at 31.12.2010
[6] s. dazu Die Donaustrategie und Mama Duna
[7] s. dazu Alles, was Deutschland nutzt
[8] s. dazu Nationale Zusammenarbeit
