Irland ist keine Insel

Erstveröffentlicht: 
26.11.2010

Kommende Aufstände? Die Krise des Kapitalismus und seine anti-modernistischen Lesarten Harry Nutt

 

Als ich von Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, dass ich eine Grenze überschritten hatte", schreibt Heinrich Böll in seinem Reisebericht "Irisches Tagebuch", das bis heute einer der meistgelesenen Texte des Nobelpreisträgers ist. Zur sinnlichen Wahrnehmung, die Bölls Irlandbeobachtung erschließt, kommt die Dimension der Empathie. "Dieses Buch", heißt es im Klappentext der Erstausgabe, "ist nicht im herkömmlichen Sinne ein Buch über Irland, es beansprucht nicht, über die komplizierte Geschichte, die ebenso komplizierte ökonomische Situation dieses kleinen Staates westlich von England Auskunft zu geben ..."

 

Böll nimmt sich die literarische Freiheit, sein Irlandbild jenseits von Ökonomie, Geschichte und Soziologie zu erfinden. Es ist eine Anverwandlung an den Gleichmut der Iren, deren Begabung, anarchische Lebensweisen mit praktiziertem Katholizismus zu verbinden und vom Rand Europas aus eine eigene Geschwindigkeit zu behaupten. "Which part in the world are you from" lautet noch immer die neugierig-staunende Frage der Iren an alle, die ihre Insel besuchen. Außerhalb Irlands ist alles restliche Welt. Böll goutierte genau das. Was er beschrieb und was er sehen wollte, war seine Utopie von einer gelebten außerökonomischen Moral.

 

Konserviertes Irlandbild

 

Mit dem Tagebuch Bölls hat das Irland der Europäischen Union nichts mehr zu tun. Dublin ist eine moderne europäische Hauptstadt mit Glasfassaden, in denen sich in den letzten Jahren die Agenten der Finanzwelt noch einmal ihrer äußeren Erscheinung vergewisserten, ehe sie mit den Fahrstühlen in ihre Büros mit Aussicht entschwebten. Zwar bewegen sich die Touristenströme noch immer mit Pferdefuhrwerken zur Tin-Whistle-Folklore quer durch das County Clare, aber das in den meisten Köpfen konservierte Irlandbild deckt sich nicht mehr mit der soziale Wirklichkeit.

 

Seit ein paar Wochen wird diese als ökonomisches Drama erzählt. Konnte Böll die ländliche Armut noch mühelos in seine Gesellschaftsutopie integrieren, so geht es heute um Lebensstandard, Ratenzahlung und Euro-Verwerfungen. Irland ist das jüngste Beispiel für einen schwer zu beschreibenden, kaum vorstellbaren Verschuldungszusammenhang, der mit dem Begriff Finanzmarktkrise eher schwach gekennzeichnet ist.

 

Um passende Bilder dafür zu finden, besuchen die TV-Reporter verunsicherte irische Kleinfamilien, die Angst davor haben, aufgrund rasant wachsender Lebenshaltungskosten die Kreditschulden für ihr Eigenheim in Traumlandschaft nicht mehr begleichen zu können. Unter anderen Vorzeichen wiederholt sich am Beispiel Irlands die griechische Erzählung als narrativer Kurzschluss von Schulden und Schuld.

 

Die emsigen Bemühungen, die aktuelle Krise mit nationalen Stereotypen zu verknüpfen, sind eher hilflose Versuche, die ökonomische Dynamik an die Vorstellungen von individueller Verantwortung zu koppeln. Zwar dürfte diese in manchem Fall von Überschuldung auch zu finden sein. Insgesamt scheint jedoch, so Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung, ein wirtschaftlicher Automatismus zum Subjekt der Geschichte zu werden, "ein Automatismus, der selbst nicht mehr ästhetisch darstellbar ist, der aber eine Kultur der rasenden Ohnmacht, des Putsches und der individuellen Revolte hervorbringen muss."

 

Stärkster Ausdruck einer solchen Revolte ist derzeit ein Text, der unter dem Titel "Der kommende Aufstand" erschienen ist. Der beachtliche Furor des Manifestes und dessen Fixierung auf subversive Systemstörungen ist hinreichend beschrieben und sowohl als linke Theorieschrift (Der Spiegel) als auch als Pamphlet eines rechten Anti-Modernismus (taz) gedeutet worden. Jenseits politischer Richtungsfragen fällt die Kampfschrift durch ein expressionistisches Stilbewusstsein ebenso auf wie durch einen radikalen Anti-Kapitalismus.

 

Eindimensional und träge

 

Wie in fast jeder Konsumkritik beschreiben sich die Autoren als entwurzelte Akteure eines totalitären Machtbollwerks. "Die Wahrheit ist, dass wir in Massen von jeder Zugehörigkeit losgerissen wurden, dass wir von nirgendwo mehr sind und dass daraus ein unleugbares Leiden folgt. Unsere Geschichte ist die der Kolonisierungen, der Migrationen, der Kriege, der Exile, der Zerstörung aller Verwurzelungen. (...) Wir wurden unserer Sprache enteignet durch den Unterricht, unserer Lieder durch die Schlagermusik, unserer Körperlichkeit durch Massenpornografie, unserer Stadt durch die Polizei, unserer Freunde durch die Lohnarbeit."

 

In solchem Sound erklingen nicht nur die Ausweglosigkeiten der Kulturanalyse von Horkheimer/Adorno. Das Wort Schlagermusik verweist bei aller juvenilen Radikalität auch auf die Anhänglichkeit an gewisse old-school-Kontexte. So ruppig der "Aufstand" auch daherkommen mag, kennzeichnet ihn doch eine theoretische Eindimensionalität und Trägheit. Zu den Phänomenen globaler Entwurzelungs- und Flexibilisierungstendenzen lassen die Autoren keine emanzipativen Errungenschaften gelten.

 

Dass gesellschaftliche Modernisierung einen Zugewinn an Freiheit und verlässliche demokratische Verfahren generiert hat, passt nicht zur Geste der Selbststigmatisierung. "Von einem Punkt extremer Isolation, extremer Ohnmacht brechen wir auf", heißt es im Manifest. Umfassende Exklusion ist der Treibstoff für das abenteuerliche Herz.

 

Dem "kommenden Aufstand" haftet der Gestus der Künstlerkritik an, wie sie von Luc Boltanski und Ève Chiapello in deren Buch "Der neue Geist des Kapitalismus" analysiert worden ist. In ihrer umfangreichen Studie von 1999 haben diese nicht nur eindrucksvoll die Lernfähigkeit des Kapitalismus beschrieben, sondern auch die Lähmungserscheinungen der Kritik analysiert, die einsetzen, wenn sich die kapitalistischen Akkumulationsstrukturen ändern. In seiner Vitalität ist der Kapitalismus, gerade auch in Krisen, unbedingt auf Kritik angewiesen. Schon möglich, dass die theoretische Dürftigkeit, die das Aufstands-Manifest kennzeichnet, bereits als Akt der Subversion zu verstehen ist.

 

Das gilt allerdings nicht für den allgemeinen Blick auf die europäischen Zustände. Zur Trägheit der Kritik gesellen sich radikal-romantische Beschreibungsformen, die in der Darstellung ökonomischer Krisenszenarien nicht allzu weit von griechischem Wein und irischem Flötenspiel entfernt sind. Wer heute ein neues irisches Tagebuch schreiben wollte, der müsste jedoch davon erzählen, wie in den letzten Jahren massenhaft Arbeitsmigranten aus den baltischen Ländern auf der grünen Insel Fuß zu fassen versuchten und was das für Folgen in den zurückgelassenen Ländern hat. Irland ist eben keine Insel mehr.

 

Heinrich Böll mochte es sich erlauben, für seine menschenfreundliche Utopie die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge außen vor zu lassen. Wir können uns das heute ebenso wenig leisten wie eine verklärende Aussicht auf die Revolte, die den Kapitalismus überwinden will, ohne zu wissen, wohin.

 

 

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Das Manifest

 

"Der kommende Aufstand" heißt das Manifest einer anonymen Autorengruppe, das vor allem in Frankreich wegen seiner radikalen Kritik an Kultur und Ökonomie der Gegenwart kontrovers diskutiert wird. Die Autoren verhehlen ihre Sympathie mit den Unruhen in den französischen Banlieus und den Gewaltausbrüchen in Griechenland an keiner Stelle. Gefordert wird darin jede Menge Mut zur Zerstörung.

 

Das französische Original des Textes erschien bereits 2007. Auf Deutsch ist "Der kommende Aufstand" seit Ende August dieses Jahres in der Edition Nautilus erschienen und von zahlreichen Websites im Internet kostenlos herunterzuladen. Der Text verblüfft und verführt durch seinen schneidig-bitteren, radikal umstürzlerischen Ton, der unter anderem an den Schriftsteller Michel Houellebecq erinnert.

 

Die eigentümlichen literarischen Qualitäten des Manifestes sorgen dafür, dass es in Deutschland vor allem in den Feuilletons beachtet wird. Dass der Text in der FAZ und der SZ mit einigem Wohlwollen beschrieben wurde, sorgte für Verblüffung. Das sei wenig verwunderlich, sagen andere, handele es sich doch bei dem Buch eher um ein Zeugnis rechtsradikalen, antimodernen Denkens.

 

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