BERLIN (Eigener Bericht) - Weitreichende Überlegungen über 
eine innere Umgestaltung Deutschlands begleiten die Berliner Debatte 
über ein Ende der "europäischen Ordnung von Maastricht". Wie die 
deutsche Kanzlerin vor dem "Integrationsgipfel" am gestrigen Mittwoch 
ankündigte, müssen Migranten, die sogenannte Integrationsangebote nicht 
wahrnehmen, künftig Sanktionen in Kauf nehmen. Damit erhöht die 
Regierung den Druck besonders auf migrantische Unterschichten, die 
momentan im Mittelpunkt einer rassistisch geprägten Kampagne 
("Sarrazin-Debatte") stehen. Mehrere weiterreichende Forderungen werden 
laut. All diese Schritte, die sich explizit gegen angeblich unproduktive
 Bevölkerungsgruppen richten, genügten keinesfalls, hört man in Teilen 
des Berliner Establishments; so wird ein hochrangiger Berater aus der 
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) mit der Erklärung 
zitiert, gegen Einwanderer seien "drastische Maßnahmen" erforderlich, 
die "die jetzige Generation der Politiker nicht akzeptieren" könne. Die 
Überlegungen, die darauf zielen, die innere Formierung Deutschlands 
voranzutreiben, gehen mit der Debatte über ein mögliches Ende der 
Europäischen Union sowie einen eventuellen nationalen Alleingang Berlins
 im Kampf um globale Macht einher. Im Gespräch ist seit Monaten dabei 
auch ein Rückgriff auf diktatorische Praktiken.
 
Messbare Zielvorgaben
Wie die deutsche Kanzlerin mitteilt, müssen Migranten,
 die sogenannte Integrationsangebote des deutschen Staates nicht 
wahrnehmen, in Zukunft mit Sanktionen rechnen. Dies kündigte Angela 
Merkel vor dem gestrigen Berliner "Integrationsgipfel" an. Mit dem 
"Integrationsgipfel" sei ein "Aktionsplan" zur Umsetzung des "Nationalen
 Integrationsplans" auf den Weg gebracht worden, mit dem "messbare 
Zielvorgaben für eine verbindliche Integrationspolitik" etabliert 
würden, teilt die Bundesregierung mit.[1] Es gebe "unter Migranten 
weitaus mehr Hartz-IV-Bezieher als unter Deutschen", sagte die Kanzlerin
 über bildungsferne Einwanderer, die meist in die Bundesrepublik geholt 
worden waren, um unter miserablen Arbeitsbedingungen 
Fließbandtätigkeiten auszuführen, die aufgrund der Reduzierung dieser 
Arbeitsplätze jedoch inzwischen oft arbeitslos und damit von staatlichen
 Sozialleistungen abhängig geworden sind. "Das muss sich ändern", 
erklärte Merkel. Es sei jedoch bei alledem auch zu berücksichtigen, dass
 Migranten mit einem Hochschulabschluss oft die Bundesrepublik 
verließen. Diese müssten zum Bleiben ermutigt werden: "Uns sollte viel 
daran liegen, diesen qualifizierten Kräften bei uns eine Chance zu 
geben."[2]
 
Migrantische Unterschichten
Mit den Forderungen vom gestrigen Mittwoch erhöht die 
Bundesregierung den Druck insbesondere auf migrantische Unterschichten, 
die zur Zeit im Mittelpunkt einer rassistisch geprägten Kampagne stehen.
 Die zentralen Stichworte der Kampagne finden sich in der Schrift 
"Deutschland schafft sich ab" des einstigen 
Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin, die mittlerweile in einer 
Auflage von weit über einer Million Exemplaren gedruckt wurde und bei - 
je nach Umfrage - rund 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung Zustimmung 
findet. Sarrazin, dessen Ansichten schon seit Jahren bekannt sind, hat 
sein Buch nach eigenem Bekunden nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf 
Anfrage eines Verlages aus dem Bertelsmann-Konzern verfasst. Er 
unterscheidet Migranten nach ökonomischer Produktivität. So bedauert er,
 dass etwa "die hochbegabten Inder und Chinesen leider nicht" nach 
Deutschland kämen: "Sie sind wirtschaftlich leistungsfähig, überwinden 
Hürden am Arbeitsmarkt schnell, und ihre Kinder zählen in den Schulen zu
 den Besten." Hingegen hätten Einwanderer aus der Türkei und den 
arabischen Ländern "Schwierigkeiten im Schulsystem" und "am 
Arbeitsmarkt"; gerade sie bekämen aber überdurchschnittlich viele 
Kinder. Wegen ihrer Unproduktivität müssten, insbesondere wenn sie 
Sozialleistungen bezögen, Maßnahmen gegen sie ergriffen werden.[3]
 
Kein Weltsozialamt
Während Sarrazin vom Berliner Establishment offiziell 
weithin gemieden wird und sich jetzt auch einem 
Parteiausschlussverfahren der SPD gegenübersieht, haben sich führende 
Regierungspolitiker mittlerweile seiner offenen Agitation gegen 
migrantische Unterschichten angeschlossen. "Wir wollen nicht zum 
Sozialamt für die ganze Welt werden", ließ etwa der bayerische 
Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) verlauten [4]; wer "ein 
Arbeitsplatzangebot oder eine notwendige Qualifizierung ablehnt", dem 
müssten "die Sozialleistungen gekürzt oder (...) komplett gestrichen 
werden" [5]. Es sei "klar, dass sich Zuwanderer aus anderen 
Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt 
schwerer tun"; Deutschland solle daher jede Zuwanderung aus den 
genannten Weltregionen vermeiden. Wer sich "vorsätzlich" der 
"Integration" verweigere, müsse in Zukunft sanktioniert und 
gegebenenfalls aus der Bundesrepublik abgeschoben werden, fordert die 
CDU-Spitzenkandidatin bei den Landtagswahlen 2011 in Rheinland-Pfalz und
 parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für 
Verbraucherschutz, Julia Klöckner.[6] "Deutschland ist kein 
Weltsozialamt", heißt es in einem "Integrations- und Zuwanderungskonzept
 für Deutschland" der FDP in Hessen.[7] Im Leitantrag für den 
CDU-Vorstand zum Parteitag Mitte November ist die Forderung zu finden: 
"In Fällen von Integrationsverweigerung darf es keine Toleranz mehr 
geben."[8]
 
Drastische Maßnahmen
Mittlerweile werden auch in den Regierungsparteien 
noch weiter reichende Forderungen laut. So verlangt die Senioren-Union, 
eine Unterorganisation von CDU und CSU, ab 2012 sollten nur noch 
diejenigen Familien Kindergeld erhalten, "von denen mindestens ein 
Elternteil vor dem 1. Januar 2000 Euro-Bürger war".[9] Dies läuft auf 
die komplette Streichung des Kindergeldes für Familien aus 
Nicht-EU-Staaten hinaus. Wie der stellvertretende Vorsitzende der 
Senioren-Union, Leonhard Kuckart, einräumt, habe man "hauptsächlich 
Familien aus dem islamischen Kulturkreis im Blick". "Wer uns zugewandert
 ist, unserem Land aber nur auf der Tasche liegen will und es sich zur 
Lebensaufgabe macht, unsere sozialen Sicherungssysteme zu belasten", 
heißt es bei der Senioren-Union, "sollte Deutschland wieder verlassen." 
Vorstellungen, denen zufolge die Regierungspolitik gegenüber den 
migrantischen Unterschichten noch deutlich radikalisiert werden müsse, 
sind auch im Berliner Polit-Establishment anzutreffen. Wie Alexander 
Rahr, der Leiter des "Berthold Beitz-Zentrums" ("Kompetenzzentrum für 
Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien") der Deutschen Gesellschaft
 für Auswärtige Politik (DGAP), erklärt, wüssten die Behörden zur Zeit 
nicht, was mit den offiziell 5,6 Millionen muslimischen Migranten in 
Deutschland geschehen solle. Rahr wird in einem Interview mit der 
russischen Zeitung "Iswestija" mit den Worten zitiert, es seien 
"drastische Maßnahmen erforderlich, die die jetzige Generation der 
Politiker aber nicht akzeptieren könne".[10]
 
Ein kommissarischer Diktator
Der rapide zunehmende Druck auf migrantische 
Unterschichten soll nicht nur auf lange Sicht den staatlichen 
Sozialhaushalt entlasten, sondern zudem angeblich unproduktive 
Bevölkerungsgruppen noch weiter an den Rand der Gesellschaft oder gar 
zur Rückwanderung drängen. Zugleich wird die "deutsche Leitkultur" zum 
Maßstab erklärt, um eine weitgehende Formierung der bundesdeutschen 
Gesellschaft zu erreichen. Die Maßnahmen werden zu einem Zeitpunkt 
eingeleitet, da Deutschland sich in seinem Streben nach weltweiter Macht
 auf eine strategische Wegscheide zubewegt. Berliner Außenpolitiker 
debattieren seit Beginn der Eurokrise im Frühjahr über ein Ende der 
"europäischen Ordnung von Maastricht". Wie der European Council on 
Foreign Relations berichtet, gewinne die Ansicht, Deutschland könne 
"alleine schneller, weiter und besser vorwärts kommen" als in der EU, in
 Berlin gegenwärtig an Attraktivität (german-foreign-policy.com 
berichtete [11]). Ein erneuter Berliner Alleingang freilich setzt eine 
stark intensivierte Formierung der deutschen Gesellschaft voraus. Der 
von Teilen des Establishments als unzureichend empfundene gegenwärtige 
Stand der Formierung ist auch Ursache dafür, dass in der 
Bundeshauptstadt über die Nutzung diktatorischer Regierungselemente 
diskutiert wird (german-foreign-policy.com berichtete [12]). So sei zur 
Zeit "verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die 
Rede", schrieb der Berliner Politik-Professor Herfried Münkler im 
Frühjahr in der Zeitschrift "Internationale Politik": "Es gibt bloß kein
 Verfassungsorgan, das sich auf das Risiko der Einsetzung eines 
kommissarischen Diktators einlassen will."[13] Das Nachdenken über 
diktatorische Praktiken begleitet ebenso wie das rabiate Vorgehen gegen 
angeblich unproduktive migrantische Unterschichten die Bemühungen 
Deutschlands, im Kampf um weltweite Macht voranzuschreiten - mit oder 
ohne EU.
 
[1] 4. Integrationsgipfel: Messbare Ziele für Integrationspolitik; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 03.11.2010
[2] Merkel: Frachtgutkontrollen weltweit besser abstimmen; Passauer Neue Presse 03.11.2010
[3] Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010 (Deutsche Verlags-Anstalt)
[4] "Wir wollen nicht zum Welt-Sozialamt werden"; 
www.sueddeutsche.de 16.10.2010
[5] Seehofer wettert zurück; 
www.mdr.de 11.10.2010
[6] Klöckner fordert härtere Sanktionen gegen integrationsunwillige Ausländer; 
www.ad-hoc-news.de 22.10.2010
[7] "Deutschland ist kein Weltsozialamt"; 
www.hr-online.de 25.10.2010
[8] CDU droht Integrationsverweigerern; 
www.n24.de 20.10.2010
[9] Senioren-Union will Migranten das Kindergeld streichen; Handelsblatt 29.10.2010
[10] Merkel: Multikulti in Deutschland gescheitert - "Iswestija"; de.rian.ru 18.10.2010
[11] s. dazu 
Die neue deutsche Frage (I)
[12] s. dazu 
Ein klein wenig Diktatur
[13] Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie; Internationale Politik Mai/Juni 2010